Oktober 2022

221007

ENERGIE-CHRONIK


VNG bekommt das Importgas von WIEH nun doch billiger

Dem ostdeutschen Gasversorger VNG werden die erhöhten Kosten für die Ersatzbeschaffung von Gas aus einem Liefervertrag mit der einstigen Gazprom Germania erlassen. Diese Mehrbelastung übernimmt stattdessen der Bund, der im April die Gazprom Germania unter Treuhandverwaltung gestellt (220403) und im Juni in SEFE GmbH umbenannt hat (220608). Dies ergibt sich aus Mitteilungen, die am 10. Oktober die VNG und ihr Mutterkonzern Energie Baden-Württemberg (EnBW) veröffentlichten.

"Die VNG hat mit der WIEH GmbH einen außergerichtlichen Vergleich zu einem Gasbezugsvertrag erzielt", hieß es in der Mitteilung des EnBW-Konzerns. "Damit reduzieren sich die Risiken aus der Ersatzbeschaffung fehlender Gasmengen für die VNG deutlich." Es seien jedoch "weiterhin Kompensationen notwendig", um auch die Verluste aus dem zweiten noch laufenden Vertrag bewältigen zu können, den VNG direkt mit der Gazprom Export in Moskau geschlossen hatte.

Der größere von zwei Gas-Lieferverträgen war vor der deutschen Justiz einklagbar

Die WIEH GmbH war die Handelstochter der einstigen Gazprom Germania. Mit ihr hat die VNG den größeren von zwei Lieferverträgen über insgesamt 100 Terawattstunden russisches Gas geschlossen. Den kleineren Vertrag über 35 Terawattstunden hat sie dagegen direkt mit Gazprom Export in Moskau vereinbart. Beide Verträge waren nach dem russischen Überfall auf die Ukraine bald das Papier nicht mehr wert, auf dem sie einst unterzeichnet wurden, weil die Gazprom den Gashahn immer weiter zudrehte. Der VNG entstand dadurch ein Schaden zwischen ein und zwei Milliarden Euro, da sie ihre Lieferverpflichtungen gegenüber rund 400 Stadtwerken und Industriebetrieben in Ostdeutschland weiterhin erfüllen musste.

Beim kleineren Vertrag mit der Gazprom Export, den die VNG als deutscher Importeur unterzeichnete, hat sie keine rechtliche Handhabe, um sich gegen den Vertragsbruch durch Gazprom zu wehren. Anders verhält es sich beim bedeutenderen Vertrag mit WIEH: Hier ist sie der Kunde eines inländischen Vorlieferanten, der nach deutschem Recht zur Einhaltung des Liefervertrags verpflichtet war – auch dann, wenn der Importeur unter Treuhandverwaltung gestellt wurde, wie das mit der Gazprom Germania und ihrem halben Hundert Töchtern geschah.

Landgericht bestätigte Fortdauer der Lieferverpflichtung bis September 2022

Und so klagte die VNG dann auch vor dem Landgericht Frankfurt gegen die WIEH und verlangte die Einhaltung der Preisvereinbarungen bis zum Ende der Vertragsdauer. Das Gericht gab dieser Klage am 29. August teilweise statt, indem es eine einstweilige Verfügung vom 12. August bestätigte, mit der die Fortdauer der Lieferverpflichtung bis Ende September angeordnet wurde. Damit wollte sich WIEH jedoch nicht abfinden und legte Berufung beim Oberlandesgericht ein.

Die VNG übte ihrerseits Druck auf die Bundesregierung aus, einen höheren Anteil der Ersatzbeschaffungskosten zu übernehmen. Nicht nur ihr Mehrheitsaktionär EnBW (74,21 Prozent) wollte seine durchaus positive Ertragslage möglichst wenig geschmälert sehen. Vor allem die acht ostdeutschen Städte Leipzig, Dresden, Chemnitz, Wittenberg, Rostock, Hoyerswerda, Neubrandenburg und Annaberg-Buchholz, die insgesamt 21,58 Prozent an VNG besitzen, drängten auf eine höhere Entlastung. Da die EnBW ihrerseits Kommunen und dem Land Baden-Württemberg gehört, ging es also letzten Endes um einen Finanzstreit innerhalb der öffentlichen Hand.

VNG muss keine zusätzliche Kosten der Ersatzbeschaffung tragen

Mit dem außergerichtlichen Vergleich wurde dieser Streit nun entschieden, bevor das Oberlandesgericht über die von WIEH eingelegte Berufung verhandelt hat. "Aufgrund des Vergleichs werden Mehrkosten für die Ersatzbeschaffung im Geschäftsjahr 2022 von WIEH getragen und bisher von VNG getragenen Belastungen aus der Ersatzbeschaffung erstattet", heißt es in der Mitteilung der EnBW. Außerdem werde der Liefervertrag, der ursprünglich bis 2030 dauern sollte, schon zum Jahresende 2022 beendet. Die VNG wird also für alle Gasmengen, die sie bis dahin bezogen hat, nur den ursprünglich vereinbarten Preis zahlen müssen.

Da zum Jahresende auch der Direktvertrag mit der Gazprom Export ausläuft, sei damit "abschließend sichergestellt, dass VNG ab Anfang 2023 keine Risiken aus beiden Bezugsverträgen mehr hat", heißt es in der Mitteilung weiter. Ob und inwieweit die VNG ihren Antrag auf Stabilisierungsmaßnahmen nach nach § 29 des Energiesicherungsgesetzes (220909) aufrecht erhält, sei noch nicht entschieden. Ebenso könnten die konkreten Auswirkungen auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des EnBW-Konzerns weiterhin nicht endgültig abgeschätzt werden. Nachdem die ursprünglich geplante Gasumlage entfallen ist, hänge dies von den weiteren Gesprächen mit der Bundesregierung ab, bei denen über die Kompensation der ab 2023 neu anfallenden VNG-Verluste aus der Ersatzbeschaffung verhandelt wird. Aus heutiger Sicht erwarte die EnBW für das Geschäftsjahr 2022 eine Ergebnisbelastung, "die unterhalb der im Nachtragsbericht des Halbjahresberichts beschriebenen Risikobandbreite von zusätzlich 1,3 Milliarden Euro liegen wird, jedoch über der bereits im Halbjahresbericht berücksichtigten Ergebnisbelastung von 545 Millionen Euro".

 

Links (intern)

 


Hintergrund

Als BASF und Gazprom gemeinsam mit Gas-Lieferstopp drohten

Das Verhältnis zwischen dem ostdeutschen Versorger VNG und seinem Lieferanten WIEH war von Anfang an konfliktträchtig

(siehe oben)

Die VNG AG wurde am 31. Juli 1990 beim Amtsgericht Leipzig ins Handelsregister eingetragen. Sie war aber kein neues Unternehmen, sondern ging aus der Umbenennung und Neustrukturierung des "VEB Verbundnetz Gas" hervor, der seit 1969 im östlichen Deutschland die Ferngasleitungen betrieb. Nach dem Zusammenbruch der DDR wurde dieser Staatsbetrieb von der Treuhandanstalt privatisiert und an ein Aktionärskonsortium verkauft, in dem die Ruhrgas AG den maßgeblichen Einfluss hatte.

Ein paar Monate später wurde von der BASF-Tochter Wintershall und der russischen Gazprom die WIEH (Wintershall Erdgashandelshaus) gegründet, mit der die VNG jetzt den außergerichtlichen Vergleich zur Übernahme der Kosten für die Ersatzbeschaffung von gestoppten russischen Gaslieferungen geschlossen hat. Bei der Gründung des Gemeinschaftsunternehmens verfügte die BASF über eine knappe Mehrheit von 51 Prozent. Das änderte sich zwölf Jahre später, als die BASF das bisher gemeinsam betriebene Erdgashandels- und Speichergeschäft in Deutschland und Westeuropa komplett der Gazprom überließ, um im Gegenzug eine Viertelbeteiligung an Erdgasfeldern in Westsibirien zu erhalten (121101). Die Annektierung der Krim durch Russland verhinderte zunächst den Vollzug des vereinbarten Geschäfts (141202). Bald darauf wurde es aber ohne Abstriche verwirklicht (150904). Die in Kassel ansässige WIEH wurde dadurch ab 2015 zu einem rein russischen Handelsunternehmen, bis sie im April dieses Jahres mit einem halben Hundert anderen Töchtern der Gazprom Germania der Treuhandverwaltung durch die Bundesnetzagentur unterstellt wurde (220403).

Dreijähriger "Gaskrieg" um die von russischen Lieferungen abhängigen neuen Bundesländer

Das Verhältnis zwischen WIEH und VNG war von Anfang an überaus konfliktträchtig, da BASF und Gazprom mit ihrem Bündnis ein strategisches Ziel verfolgten: Sie wollten die Ruhrgas AG als bisherigen Alleinimporteur von russischem Erdgas und Betreiber des deutschen Erdgas-Transportnetzes entmachten. Nach Gründung der WIEH führten sie deshalb gemeinsam den drei Jahre dauernden "ostdeutschen Gaskrieg", in dessen Verlauf sie der von Ruhrgas dominierten VNG mehrfach mit einem Lieferstopp drohten (siehe Hintergrund, August 2008). Zugleich begann die BASF mit dem Bau eines eigenen Pipeline-Netzes, dessen Betrieb ab 2010 das Gemeinschaftsunternehmen Gascade übernahm, das ab 2015 ebenfalls zu hundert Prozent der Gazprom gehörte. Dabei kam ihnen zustatten, dass die ostdeutsche Erdgasversorgung zunächst noch völlig von russischen Lieferungen und Leitungen abhängig war. Erst ab September 1992 konnte die Ruhrgas auch von Westen her ins Netz des ostdeutschen Fernleitungsnetzbetreibers VNG einspeisen (920909).

Unter diesen Umständen grenzte es an räuberische Erpressung, als die WIEH der VNG einen Lieferstopp ankündigte, falls diese den geforderten Preis für russisches Gas nicht zahlen werde (911208). Wenig später drohte auch die russische Regierung mit einem Lieferstopp, wenn die VNG keine höheren Preise akzeptiere (920218). Nach einer mühsam erfolgten Einigung wiederholten BASF und Gazprom dieses Erpressungsmanöver knapp zwei Jahre später erfolgreich und setzten eine weitere Preiserhöhung durch, obwohl die VNG inzwischen auch von der Ruhrgas in begrenztem Umfang versorgt werden werden konnte (940107).

Mit einem Demarkationsvertrag stecken BASF und Ruhrgas ihre Versorgungsgebiete ab

Vor diesem Hintergrund schlossen WIEH und VNG im Jahr 1994 den ersten langfristigen Vertrag über die Lieferung von russischem Gas (940213). Dieser Vertrag war ein wesentlicher Bestandteil der Vereinbarungen, mit denen damals BASF-Wintershall und Ruhrgas den "ostdeutschen Gaskrieg" beilegten. Er verpflichtete die Ruhrgas-Ableger VNG und EVG zum Bezug bestimmter Mengen Gas von den Wintershall-Unternehmen Wingas und WIEH, während diese zusicherten, in dem Versorgungsgebiet von VNG und EVG nicht geschäftlich tätig zu werden. Die Liefer- und Demarkationsverträge sollten für zwanzig Jahre gelten. Solche Demarkationsverträge waren damals grundsätzlich zulässig, um volkswirtschaftlich unsinnige Doppelinvestitionen in die leitungsgebundene Energieversorgung zu vermeiden. Das Bundeskartellamt untersagte den Vertrag dennoch, weil die BASF in ihren Demarkationsgebiet bereits eigene Leitungen verlegt hatte, scheiterte damit aber am Berliner Kammergericht (960203). Endgültig entschieden wurde der Streit erst acht Jahre nach Vertragsabschluss durch den Bundesgerichtshof, und zwar zugunsten des Bundeskartellamts (030207).

E.ON darf sich die Ruhrgas einverleiben, muss aber alle Anteile an VNG abgeben

Eine neue Situation ergab sich, als 2001 der eben erst entstandene E.ON-Konzern (000306) die beabsichtigte Übernahme der Mehrheit an der Ruhrgas AG anmeldete (011110). Den Einspruch des Bundeskartellamts und der Monopolkommission hebelte die damalige Schröder-Regierung mit einer sogenannten Ministererlaubnis aus (020701, 020901). Als sich im gerichtlichen Streit um diese Ministererlaubnis eine Niederlage der Bundesregierung abzeichnete, beschritt E.ON den Weg einer außergerichtlichen Einigung mit den neun klagenden Unternehmen. Als einziges Unternehmen wollte sich der finnische Fortum-Konzern zunächst nicht auf einen solchen Kuhhandel einlassen. Er gab aber seinen Widerstand auf, nachdem die Schröder-Regierung bei der Regierung in Helsinki interveniert hatte, die der Hauptaktionär von Fortum war. So konnte der E.ON-Konzern diese Übernahme knapp vor der zu erwartenden gerichtlichen Untersagung doch noch durchsetzen (030101). Allerdings musste er einige Auflagen erfüllen. Dazu gehörte der völlige Rückzug aus der VNG, wo E.ON neben einer direkten Beteiligung von 5,26 Prozent, die 1995 von der PreussenElektra erworben worden war (950215), inzwischen auch die Ruhrgas mit ihrer Beteiligung von 36,84 Prozent kontrollierte. Diese Ruhrgas-Aktien mussten vorrangig den ostdeutschen Stadtwerken oder der VNG angeboten werden (020701).

BASF, Gazprom und Management verbünden sich gegen den neuen Hauptaktionär EWE

Den größten Teil der E.ON-Beteiligung von insgesamt 42,1 Prozent übernahm daraufhin der niedersächsische Kommunalkonzern EWE. Mit dem kleineren Teil erhöhten elf ostdeutsche Kommunen ihre bereits bestehenden VNG-Beteiligungen auf insgesamt 25,79 Prozent. Da die EWE trotz aller Zukaufbemühungen nur auf knapp 48 Prozent kam, schloss sie mit den ostdeutschen Kommunen einen Konsortialvertrag, der ihr die unternehmerische Führung des Unternehmens verhieß. Allerdings versäumte sie es, sich bei den Kommunen und dem Management des Unternehmens tatsächlich die notwendige Unterstützung zu besorgen. Das machten sich die Minderheitseigentümer BASF-Wintershall (15,79 Prozent) und Gazprom (5,26 Prozent) zunutze, indem sie mit Hilfe von Vertretern der Arbeitnehmer und der ostdeutschen Kommunen im Aufsichtsrat eine Art Putsch anzettelten: Am 15. Mai 2007 kippte der von der Hauptversammlung soeben neu gewählte Aufsichtsrat seinen bisherigen Vorsitzenden Werner Brinker überraschend aus dem Amt, obwohl dieser als Chef der EWE den Hauptaktionär repräsentierte.

"Klare Koalition zwischen Kassel, Moskau und Leipzig"

Der abgewählte EWE-Chef Brinker sorgte seinerseits dafür, dass der VNG-Chef Klaus-Ewald Holst mit sofortiger Wirkung den Vorstandsposten bei EWE verlor, den Holst im Vorgriff auf gemeinsam geschmiedete Pläne bekommen hatte, aus EWE und VNG die "fünfte Kraft" im deutschen Energiemarkt zu machen (080502). Die Ursache seiner Abwahl sah Brinker in einer "klaren Koalition zwischen Kassel, Moskau und Leipzig" (070504). Gemeint war damit die in Kassel angesiedelte BASF-Tochter Wintershall, die in Moskau residierende Gazprom sowie die am Sitz der VNG in Leipzig aktive Fronde, zu der neben dem Management auch die Stadt Leipzig gehörte. Diese bangte anscheinend um ihren Einfluß bei VNG, weil sie ihre Stadtwerke zur Privatisierung ausgeschrieben hatten und sich unter den Bewerbern auch die EWE befand: Mit der 5,5-Prozent-Beteiligung der Stadtwerke Leipzig hätte der niedersächsische Kommunalkonzern mühelos die Mehrheit an VNG erlangen können. Zugleich hätte aber die Beteiligungsgesellschaft der elf ostdeutschen Stadtwerke ihr wichtigstes Mitglied und die bisherige Sperrminorität im Aufsichtsrat verloren.

EWE kämpft jahrelang um zwei Prozent, die ihr zur Mehrheit bei VNG fehlen

Nachdem der Konsortialvertrag mit den kommunalen Aktionären geplatzt war, konnte die EWE die VNG in ihrem Konzernabschluss nicht mehr voll konsolidieren, sondern nur noch als Beteiligung ausweisen (070808). Trotzdem gab sie nicht auf, sondern kämpfte verbissen um die Überbrückung des kleinen Spalts von etwas mehr als zwei Prozent, der sie von der Aktienmehrheit an VNG trennte. Zu dieser Mehrheit konnte ihr nur einer der elf kommunalen Aktionäre verhelfen, da Wintershall (15,79 Prozent) und Gazprom (5,26 Prozent) sowieso ihre größten Gegner waren und der dritte Minderheitsaktionär Gaz de France (5,26 Prozent), der soeben mit dem Suez-Konzern zur GDF Suez fusionierte (070905), nicht verkaufen wollte.

Zunächst warb EWE um die 1,04 Prozent betragende Beteiligung der Stadtwerke Jena-Pößneck. Deren Erwerb hätte zwar nicht zur Mehrheit gereicht, aber die 25,79 Prozent betragende Sperrminorität der elf Stadtwerke beseitigt (080409). Auch die Stadtwerke Halle erwogen den Austritt aus dieser Phalanx und einen Verkauf ihrer Beteiligung von 3,66 Prozent. Sie begründeten dies mit drohenden Schadenersatzansprüchen in Höhe von rund 300 Millionen Euro, nachdem die Beteiligungsgesellschaft der Kommunen den Konsortialvertrag mit EWE Anfang September 2008 auch förmlich aufgekündigt hatte. Bei einer vorherigen internen Abstimmung hatte nur Jena-Pößneck gegen die außerordentliche Kündigung votiert. Die EWE hätte die insgesamt 4,7 Prozent betragenden Anteile dieser beiden Stadtwerke eigentlich schon in der Tasche gehabt, wenn der Konsortialvertrag der kommunalen Beteiligungsgesellschaft nicht ein Vorkaufsrecht enthalten hätte. Deshalb musste zunächst das Auslaufen dieses Vertrags zum Jahresende 2008 abgewartet werden, zumal das Landgericht Gera das Vorkaufsrecht der anderen kommunalen Gesellschafter bestätigte (081107).

Auf der Suche nach einem strategischen Partner verbündet EWE sich mit EnBW

Unterdessen zeichnete sich immer deutlicher ab, dass BASF und Gazprom die eigentlichen Widersacher der EWE waren. Wie der Berliner "Tagesspiegel" im August 2008 berichtete, hatten sie gemeinsam mit dem VNG-Management ein Bündnis zur Verhinderung der sich anbahnenden EWE-Mehrheit geschmiedet. Die BASF-Tochter Wintershall sei bereit, zusammen mit der Gazprom ins Bieterrennen um eventuell freiwerdende VNG-Anteile einzusteigen (080817).

Die EWE hatte sich ihrerseits auf die Suche nach einem strategischen Partner begeben und seit 2007 mit RWE und anderen Unternehmen verhandelt. Im Juli 2008 vereinbarte sie mit der Energie Baden-Württemberg (EnBW) die Übernahme von 26 Prozent der EWE-Aktien (080701). Das Bundeskartellamt hatte allerdings Bedenken, dass dies sowohl bei der VNG als auch bei den sächsischen EnBW-Beteiligungsunternehmen Enso und Drewag zur Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung führen werde (081208).

Die beiden neuen Partner vereinbarten daraufhin eine grundsätzlich neue Marschroute zur Erlangung der Mehrheit an VNG, indem die EWE sich nicht mehr um die Anteile von Jena-Pößneck und Halle bemühte, sondern ihre VNG-Aktien komplett der EnBW übertrug (090504). Um die auch hier geäußerten Bedenken des Bundeskartellamts auszuräumen, war die EnBW sogar bereit, auf ihre ostdeutsche Beteiligungstochter Geso zu verzichten (090705, 100310).

BASF und Gazprom machen deutlich, wer bei VNG das eigentliche Sagen hat

Anscheinend steckte dahinter die Erwartung, dass die EnBW, bei der damals der staatliche französische Strommonopolist EDF einer der beiden Hauptaktionäre war und sich die unternehmerische Führung ausbedungen hatte, größere Chancen beim ebenfalls staatsnahen französischen VNG-Aktionär GDF Suez mit seinen 5,25 Prozent haben werde. Das war allerdings nicht mehr als eine kühne Hoffnung, denn die GDF Suez schien sich lieber mit Wintershall und Gazprom arrangieren zu wollen, anstatt der in Karlsruhe ansässigen Quasi-Tochter des französischen Staatsunternehmens zur Mehrheit in der Hauptversammlung zu verhelfen. Laut "Leipziger Volkszeitung" plante Wintershall sogar, der GDF Suez ihre Beteiligung abzukaufen. Als Gegenleistung könnten – so schon damals die Vermutung – BASF-Wintershall und Gazprom den Franzosen angeboten haben, sie neben E.ON und Gasunie als fünften Partner in das Projekt der Ostsee-Pipeline Nord Stream einzubeziehen.

Im September 2009 unterstrichen BASF und Gazprom, wer bei VNG das Sagen hatte, indem der Aufsichtsrat das langjährige Wintershall-Vorstandsmitglied Karsten Heuchert zum neuen Vorstandsvorsitzenden bestellte. Heuchert löste den 65-jährigen Klaus-Ewald Holst ab, der schon zu DDR-Zeiten eine führende Rolle bei VNG spielte und in den Ruhestand gehen wollte. Neuer Vorsitzender des VNG-Aufsichtsrats wurde Rainer Seele, der neue Chef der BASF-Tochter Wintershall und frühere Sprecher der Geschäftsführung von Wingas (090901).

Frankreich überlässt Anteile von GDF Suez der Gazprom statt der EDF-Tochter EnBW

Bald darauf stellte sich heraus, dass es tatsächlich ein Irrtum war, sich von der Anbindung der EnBW an den französischen Staatskonzern EDF ein Entgegenkommen des Minderheitsaktionärs GDF Suez zu erhoffen: Am 27. November 2009 vereinbarten die Gazprom und GDF Suez am Rande von Regierungsgesprächen, die zwischen Ministerpräsident Francois Fillon und Kremlchef Wladimir Putin in Paris stattfanden, eine neunprozentige Beteiligung der Franzosen an der geplanten Ostsee-Pipeline Nord Stream. Zugleich machte die Gazprom keinen Hehl daraus, dass sie – quasi als Gegenleistung – die Beteiligung von GDF Suez am ostdeutschen Gasversorger VNG in Höhe von 5,26 Prozent verlangt hatte (091102).

In einer außerordentlichen Hauptversammlung billigten am 29. Januar 2010 die VNG-Aktionäre die Übertragung des Kapitalanteils von 5,25 Prozent, der bisher GDF Suez gehörte, auf die Gazprom Germania GmbH. Die deutsche Tochter des russischen Gaskonzerns konnte damit ihre Beteiligung an VNG auf 10,52 Prozent verdoppeln. Die Zustimmung erfolgte laut VNG-Pressemitteilung "mehrheitlich". Das heißt, daß die kommunalen Eigentümer (25,79 %) zusammen mit Wintershall (15,79 %), Gazprom (5,26 %) und GDF Suez (5,26 %) gegen die EWE (47,90 %) als größten Eigentümer gestimmt haben. (100211) Allerdings dauerte es bis Januar 2012, ehe das Bundeskartellamt der Gazprom die volle Ausübung der Stimmrechte gestattete (120106).

Im Vorstand der EnBW kam es nach diesem Deal im Dezember 2009 zu einem schweren Zerwürfnis zwischen Konzernchef Hans-Peter Villis und Finanzvorstand Rudolf Schulten (091216). Wie die "Stuttgarter Zeitung" aufgrund von Informationen aus "unternehmensnahen Kreisen" berichtete, forderte Schulten Abschreibungen in dreistelliger Millionenhöhe auf die zwei Milliarden Euro teure Beteiligung an der EWE, die von der EnBW im Juli 2009 erworben worden war (080701, 090705). Wegen der Folgen für die Finanzlage des Konzerns habe er sich damit aber nicht durchsetzen können und sei "aus Gesundheitsgründen" abgelöst worden.

EnBW droht mit Verkauf an Russen, falls die kommunalen Aktionäre nicht einlenken

Dann schien es der EnBW aber doch noch zu gelingen, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die bisher ihren seit zwei Jahren geplanten Einstieg bei VNG blockierten. Im April 2011 billigte ihr Aufsichtsrat den Erwerb des bisher von der EWE gehaltenen VNG-Anteils von 47,89 Prozent, auf den sie seit Mai 2009 eine Option besaß (110408). Da es sich um vinkulierte Aktien handelt, musste allerdings erst die Mehrheit der VNG-Hauptversammlung der Übertragung an EnBW zustimmen. Aufgrund einer offenbar gezielten Indiskretion berichtete das "Handelsblatt" am 19. Juli 2011, daß die EnBW diese Zustimmung durchsetzen wolle, indem sie bis zu 25 Prozent an VNG dem russischen Gasförderer Novatek überläßt. Die dafür erforderliche Mehrheit in der Hauptversammlung könne in diesem Fall als gesichert gelten, da die EnBW bzw. ihr strategischer Partner EWE zusammen mit der russischen Gazprom gut 58 Prozent der Stimmenanteile hielten. Ein kompletter Verkauf des Pakets sei dagegen "politisch zu heikel, weil dann mit Gazprom und Novatek russische Unternehmen über die VNG-Mehrheit verfügten". Die EnBW erwäge deshalb, die restlichen VNG-Anteile in ein Gemeinschaftsunternehmen mit Novatek einzubringen. Von der weitreichenden Kooperation mit Novatek erhoffe sich EnBW-Chef Hans-Peter Villis günstige Gaslieferungen aus Rußland. (110702)

Die neue Offerte der EnBW richtet sich indessen nur vordergründig an Novatek. Der eigentliche Adressat war der bisherige Hauptgegner Gazprom/Wintershall, der schon seit über zwanzig Jahren die Dominanz bei VNG beanspruchte und deshalb weder die Mehrheitsübernahme durch EWE noch den Einstieg der EnBW hinzunehmen bereit war. Auf den ersten Blick schien das Angebot für den Kreml sehr verlockend sein, da es ihm faktisch die Beherrschung der VNG und damit eine erhebliche Ausweitung seines Einflusses in Deutschland versprach. Bei genauerem Hinsehen handelte es sich aber um einen taktischen Schachzug der EnBW, um doch noch die notwendige Unterstützung aus Kreisen der kommunalen Anteilseigner zu erhalten. Immerhin hätte der landeseigene Energiekonzern mit dem Veto des Bundeskartellamts und starken politischen Widerständen zu rechnen gehabt, falls er tatsächlich den Großteil der VNG-Aktien an Novatek weitergeben wollte. Andererseits schien die EnBW tatsächlich mit Novatek über eine Zusammenarbeit zu verhandeln. Das machte die Drohkulisse einigermaßen glaubwürdig.

EWE besteht auf dem vereinbarten Kaufpreis und scheitert mit Zwangsverkauf an EnBW

Aber nun tat sich ein neues Hindernis auf: Die Flitterwochen zwischen den beiden neuen strategischen Partnern EWE und EnBW waren schon nach ein paar Monaten zu Ende, weil der tatsächliche Wert des VNG-Aktienpakets, das die EnBW übernehmen sollte, inzwischen um etwa 400 Millionen unter den vereinbarten Kaufpreis von 1,4 Milliarden Euro gesunken war. Nach Ansicht der EnBW handelte es sich bei dem Geschäft lediglich um eine Option, nicht um eine Verpflichtung. Der Preis wäre somit verhandelbar gewesen. Die EWE sah das anders und beharrte auf der ursprünglich vereinbarten Summe. Da der strittige Kaufvertrag ab Januar 2012 kündbar wurde, trat sie außerdem die Flucht nach vorn an und beantragte für den 15. Dezember eine Hauptversammlung, die der Übertragung ihrer VNG-Beteiligung auf EnBW zustimmen sollte. Die dafür erforderliche Mehrheit bekam sie jedoch nicht und musste deshalb ihre VNG-Beteiligung behalten. (111205)

BASF und Gazprom ziehen sich aus VNG zurück und überlassen ihre Anteile der EWE

Gut zweieinhalb Jahre später kam es wieder zu einer überraschende Wende im inzwischen siebenjährigen Ringen um die Mehrheit an VNG: Die EWE erhielt nun ausgerechnet von der BASF-Tochter Wintershall, die bisher im Bunde mit der russischen Gazprom ihr schärfster Widersacher gewesen war, deren VNG-Beteiligung von 15,79 Prozent. Die Initiative zu dem Geschäft war anscheinend von Wintershall ausgegangen. Die EWE-Beteiligung erhöht sich dadurch von bisher 47,9 auf 63,7 Prozent. Über den Kaufpreis wurde Stillschweigen vereinbart (140301). Die BASF-Tochter verwies darauf, daß sie ihr Gashandels- und -speichergeschäft inzwischen an die Gazprom abgegeben hatte, die ihr dafür eine Beteiligung an sibirischen Gasvorkommen einräumte (siehe 131206). Mit der Entscheidung, sich von den VNG-Anteilen zu trennen, setze sie die strategische Konzentration auf den Upstream-Bereich fort. Im Oktober 2014 genehmigte das Bundeskartellamt den Vollzug des Handels ohne Auflagen (141018).

Offenbar hatte die BASF-Tochter diesen Rückzug aus VNG auch mit ihrem langjährigen Partner Gazprom abgesprochen, der ein Jahr später ebenfalls sein Aktienpaket von 10,52 Prozent an die EWE verkaufte, die dadurch ihre Mehrheit auf 74,2 Prozent ausbauen konnte. Zum Kaufpreis wurden keine Angaben gemacht. Legt man den Preis zugrunde, zu dem Wintershall verkaufte, wären es 213 Millionen Euro gewesen. Die Gazprom Germania verkaufte ihre Beteiligung aufgrund einer Option, zu der sich die EWE verpflichtete, als sie das Wintershall-Aktienpaket übernahm.

Demnach hatten die beiden Konzerne auch ihren Rückzug gemeinsam eingefädelt. Ausschlaggebend dafür war wohl der von Rußland ausgelöste Ukraine-Konflikt mit der Annektierung der Krim, der die Europäische Union veranlaßte, die Gazprom und deren geschäftliche Expansion in Westeuropa kritischer zu sehen (140706). Wie schon erwähnt, stoppte deshalb der BASF-Konzern Ende 2012 sogar den bereits vereinbarten Komplettverkauf seines Gashandels- und Speichergeschäfts an die Gazprom, obwohl er von der EU-Kommission bereits genehmigt worden war (141202). Die neue Vorsicht gegenüber dem Kreml hielt aber nicht lange an. Im November 2015 kam es dann – rückwirkend zum 1. April 2013 – doch noch zum Vollzug des vereinbarten deutsch-russischen Tauschgeschäfts (150904).

EnBW einigt sich mit EWE gütlich und erlangt dadurch 74,2 Prozent an VNG

Die EWE ließ von Anfang an offen, ob sie die neu errungene Mehrheit an VNG behalten oder weiterverkaufen würde. Aussichtsreichster Bewerber schienen zeitweilig die Stadtwerke Leipzig zu sein, die sich mit dem australischen Finanzkonzern Macquarie zusammengetan hatten, um ein Kaufangebot in zehnstelliger Höhe zu unterbreiten (150710). Im Oktober 2015 entschlossen sich dann aber EWE und EnBW, ihre 2008 vereinbarte strategische Partnerschaft endgültig aufzulösen und damit den jahrelangen Streit zu beenden, der spätestens seit 2011 diese Partnerschaft zu einer Art Zwangsehe machte. Die Lösung des Konflikts bestand in einer gütlichen Trennung, bei der die EnBW ihre 26-prozentige Beteiligung an der EWE wieder abgab und dafür von EWE die Mehrheit an VNG erhielt. Zusätzlich zahlte sie einen Barausgleich in Höhe von insgesamt 125 Millionen Euro. Die EnBW wurde damit zum drittgrößten Gasversorger in Deutschland nach E.ON und Wintershall. (151001)