September 2011 |
110908 |
ENERGIE-CHRONIK |
Der Siemens-Konzern will sich nicht mehr direkt am Bau von Kernkraftwerken oder an der Finanzierung nuklearer Projekte beteiligen. Die Anfang 2009 vereinbarte Zusammenarbeit mit dem russischen Atomkonzern Rosatom ist insoweit hinfällig geworden und wird sich auf die Lieferung konventioneller Kraftwerksausrüstung beschränken. Dies verdeutlichte Siemens-Chef Peter Löscher in einem Interview mit dem Magazin "Der Spiegel" (19.9.). Ein halbes Jahr nach der Katastrophe von Fukushima (110301) und einer Phase zeitweiliger Ungewißheit hinsichtlich der künftigen Unternehmensstrategie (110311) verabschiedet sich damit auch der führende deutsche Technologie-Konzern von der Nuklearenergie.
Wörtlich sagte Löscher: "Wir werden künftig zwar noch Komponenten liefern wie etwa konventionell Dampfturbinen. Aber das heißt eben auch: Wir beschränken uns auf Technologien, die nicht nur in Kernkraftwerken, sondern auch in Gas- und Kohleanlagen zum Einsatz kommen. In die Gesamtverantwortung des Baues von Kernkraftwerken oder deren Finanzierung werden wir nicht mehr einsteigen. Dieses Kapitel ist für uns abgeschlossen."
Die Entscheidung sei "auch als Antwort auf die klare Positionierung von Gesellschaft und Politik in Deutschland zum Ausstieg aus der Kernenergie" zu sehen, räumte Löscher ein. Es habe indessen keinerlei Drängen seitens der Bundesregierung gegeben. Vielmehr sehe sich Siemens noch immer als "ein Unternehmen mit deutschen Wurzeln und Werten". Man werde den von der Politik angelegten Weg nun mitgehen und "ein Motor der deutschen Energiewende sein". Die russische Seite habe auf die Kursänderung sehr verständnisvoll reagiert: "Dort versteht man den Primat der Politik."
Der Siemens-Konzern gehörte einst zu den weltweit führenden Herstellern von Kernkraftwerken und hat auch sämtliche neueren Reaktoren in Deutschland gebaut (siehe Hintergrund). Zuletzt entwickelte er gemeinsam mit der französischen Framatome den "Europäischen Druckwasser-Reaktor" (EPR) für den Einsatz im In- und Ausland (970811). Damit wollte er vor allem auch in Deutschland wieder ins Geschäft kommen, wo seit 1982 keine Aufträge für den Bau von Kernkraftwerken mehr erteilt worden waren. Der Regierungswechsel zu Rot-Grün und der im Jahre 2000 vereinbarte Atomkompromiß durchkreuzten jedoch das Kalkül (000601). Der Konzern brachte deshalb seine gesamte Nuklearsparte in ein Gemeinschaftsunternehmen ein, in dem die französische Framatome bzw. Areva mit Zweidrittelmehrheit das Sagen hatten (010215). Er hoffte, so wenigstens eine ergiebige Finanzbeteiligung zu haben, nachdem sich weltweit eine Renaissance der Kernenergie abzuzeichnen schien (060705) und auch die EU-Kommission diese Art der Stromerzeugung favorisierte (070118). Diese Erwartung erwies sich jedoch als falsch. Vor allem die Probleme beim Bau des ersten EPR in Finnland (061007) veranlaßten Siemens schließlich zu Aufkündigung des Aktionärsvertrags mit Areva (090104) und zur Vorbereitung eines neuen Bündnisses mit dem russischen Atomkonzern Rosatom (090202). Seltsamerweise übersahen die Konzernjuristen dabei, daß für den Fall der Trennung ein achtjähriges Wettbewerbsverbot galt, das durch die Kontaktaufnahme mit Rosatom verletzt worden war. Von den 1,62 Milliarden Euro, die Siemens für die Rückgabe der Beteiligung an Areva NP erhielt, mußten deshalb 648 Millionen an Areva zurückgezahlt werden (110510).
Im Interview mit dem "Spiegel" unterstrich Löscher, daß auch Areva ab 2009 berechtigt gewesen wäre, den Aktionärsvertrag mit Siemens zu kündigen (070703): "Wir wollten auf Dauer nicht in einer Partnerschaft bleiben, in der wir nur einen Minderheitsanteil ohne unternehmerischen Einfluß hatten und einseitig hätten vor die Tür gesetzt werden können." Mit der hohen Vertragsstrafe wegen Verletzung des Wettbewerbsverbots habe man nicht gerechnet: "Wirtschaftliches Handeln bedeutet unternehmerisches Risiko. In diesem Fall haben unsere externen Ratgeber und wir das Risiko nicht so gesehen."