November 2010 |
101101 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die Deutsche Energie-Agentur (dena) hat am 23. November die Ergebnisse einer neuen Netzstudie vorgestellt, wonach bis zum Jahr 2020 der Neubau von 3600 Kilometer Höchstspannungsleitungen (380 kV) für knapp zehn Milliarden Euro erforderlich wäre. Diese Neubauten sollen zusätzlich zu den 850 Kilometer Hochspannungsleitungen errichtet werden, die bereits in der vor fünf Jahren vorgelegten Netzstudie als Neubaubedarf bis 2015 genannt wurden. Die damals für notwendig gehaltenen Netzverstärkungs- und Netzausbaumaßnahmen werden in der neuen Studie als realisiert zugrunde gelegt, obwohl tatsächlich bisher nur etwa 90 Kilometer neu gebaut wurden. Bis 2020 entsteht so ein Neubaubedarf von 4360 Kilometer, während in der ersten Studie noch von insgesamt 1900 Kilometer die Rede war (050201).
Begründet wird dieser angebliche Bedarf wie schon bei der ersten Netzstudie mit der geplanten Erhöhung des Anteils der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung bzw. dem notwendigen Abtransport des hauptsächlich im Norden Deutschlands an Land oder vor der Küste erzeugten Windstroms. Die zweite Netzstudie soll die erste mit Blick auf die mittlerweile höher gehängten Ziele der Bundesregierung ergänzen und korrigieren, denn in deren "Energiekonzept" ist bis 2020 ein Erneuerbaren-Anteil von 35 Prozent an der Stromerzeugung vorgesehen (100902).
Daß die Integration der Windenergie von den Netzbetreibern über Jahre hinweg sträflich vernachlässigt wurde, unterliegt keinem Zweifel. Deutlich ablesbar war dies etwa am bodenlosen Absturz der Spotmarktpreise beim Zusammentreffen von Schwachlast mit einem großen Windstrom-Angebot (091201). Dennoch gibt es gute Gründe, die gegen den jetzt angemeldeten Bedarf an Hochspannungsleitungen sowie gegen dessen alleinige Begründung mit dem Ausbau der Erneuerbaren-Erzeugung sprechen.
Beispielsweise hält der Wirtschaftswissenschaftler Lorenz Jarass die Annahmen, auf denen beide Netzstudien fußen, für rechtswidrig und die Ergebnisse für sachwidrig, weil sie gegen das im EnWG wie im EEG verankerte Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen würden. Beide gingen nämlich davon aus, daß die Netze in der Lage sein müßten, die installierte Nennleistung sämtlicher Windkraftanlagen zu 90 Prozent aufzunehmen. Eine derartige Windstromspitze komme aber nur einmal im Jahr vor. Es sei viel sinnvoller und wirtschaftlicher, eine solche Erzeugungsspitze durch kurzfristiges Abschalten von Windkraftanlagen abzuregeln, als die Netze mit Milliardenaufwand auszubauen.
Jarass kritisiert ferner, daß Alternativen zur konventionellen Leitungstechnik nicht bzw. nicht angemessen untersucht worden seien. Zwar habe die neue Netzstudie im Unterschied zur ersten auch die Verwendung von Hochtemperaturseilen und das sogenannte Freileitungsmonitoring in Betracht gezogen. Sie gelange aber zu der unbegründeten und irreführenden Schlußfolgerung, daß die Verwendung von Hochtemperaturseilen zwar den Bedarf an neuen Trassen mit 1700 Kilometer mehr als halbiere, aber die Umrüstung von 5700 Kilometer bestehender Trassen erfordere und mit 17 Milliarden Euro noch wesentlich teuerer komme. In Wirklichkeit sei der erforderliche Aufwand viel geringer und diese Lösung auch kostengünstiger (siehe Stellungnahme).
Die alleinige Begründung des geforderten Netzausbaues mit der Erhöhung des Anteils der Erneuerbaren an der Stromerzeugung ist deshalb falsch und irreführend, weil die zunehmende Überlastung der Netze (101011) auch eine Folge des Stromhandels bzw. des liberalisierten Energiemarktes ist. Beipielsweise hatte der europaweite Stromausfall, den E.ON am 4. November 2006 verursachte, nichts mit der Windstrom-Einspeisung zu tun (061101). Die Windkraftanlagen behinderten hier lediglich durch ihr automatisches Ab- oder Einschalten die anschließende Restabilisierung der Frequenz (070205). In der "Ergebniszusammenfassung" zur Netzstudie II ist aber nur ganz am Rande die Rede davon, daß die Netze auch "unter Berücksichtigung der Auswirkungen des liberalisierten europäischen Energiemarktes" ertüchtigt werden müßten.
Mit Vorbehalten muß den sogenannten Dena-Netzstudien schon deshalb begegnet werden, weil sie im wesentlichen von den Netzbetreibern und Branchenverbänden erstellt wurden. Die vor zehn Jahren gegründete "Deutsche Energie-Agentur" (dena) ist im Grunde nichts weiter als eine Art gemeinsame PR-Plattform von Bundeswirtschaftsministerium und Energiekonzernen (070410). Ihr Leiter Stephan Kohler war ursprünglich von der rot-grünen Regierung berufen worden. Er hatte sich später aber auch der sich abzeichnenden schwarz-gelben Koalition mit einer Warnung vor dem Atomausstieg empfohlen (080308) und wollte im Frühjahr 2009 eigentlich die Leitung einer neuen RWE-Tochter übernehmen (090514).
Was gemeinhin als "Dena-Studie" bezeichnet wird, ist auch dieses Mal wieder das gemeinsame Werk einer sogenannten Projektsteuerungsgruppe aus Netzbetreibern, Branchenverbänden und Bundesministerien (Wirtschaft, Umwelt), in deren Auftrag und nach deren Vorgaben ein "Bearbeiterkonsortium" unter Leitung des Energiewirtschaftlichen Instituts der Universität Köln (EWI) die Studie erstellt hat. Das EWI ist seinerseits von der Finanzierung durch RWE und E.ON abhängig und gilt seit langem als eine Art Hoflieferant von Bundesregierung und Wirtschaft für Gutachten zu energiewirtschaftlichen Fragen (100807).