November 2006 |
061101 |
ENERGIE-CHRONIK |
Am 4. November 2006 fiel ab 22.10 Uhr in weiten Teilen Europas für mehr als eine halbe Stunde der Strom aus, weil der Netzbetreiber E.ON eine Fehlschaltung durchgeführt hatte, die das von Stromflüssen überlastete europäische Transportnetz kollabieren ließ. Das Netz der UCTE zerfiel dadurch in drei Inseln mit unterschiedlicher Frequenz (siehe Karte). Mehr als zehn Millionen Menschen waren zeitweilig ohne Strom. Die meisten Betroffenen gab es in der westlichen Insel, in der Strommangel herrschte und deshalb automatische Lastabschaltungen erfolgten, nachdem die Frequenz auf 49 Hertz abgesunken war (siehe Grafik). Allein in Frankreich waren rund fünf Millionen Menschen ohne Strom. Auch In Teilen Deutschlands, Belgiens, Österreichs, der Niederlande, Italiens, Portugals und Spaniens wurde die Versorgung bis fast zwei Stunden unterbrochen. In Deutschland gehörten die Regelgebiete von RWE und EnBW sowie ein großer Teil von E.ON zur westlichen Insel. Östlich dieser Grenze gab es dagegen nach der Auftrennung des UCTE-Netzes ein Überangebot an Strom, das die Frequenz bis auf 50,6 Hertz ansteigen ließ und ebenfalls zu erheblichen Komplikationen bei der Stromversorgung führte. Zu diesem Bereich gehörten Vattenfall und der Nordosten von E.ON, der östliche Teil Österreichs sowie Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn. Am geringsten waren die Auswirkungen (Frequenzabfall bis auf 49,7 Hertz) in der dritten Insel, die aus den Balkanstaaten und Griechenland bestand.
Am 14. November veröffentlichte die E.ON Netz GmbH in Abstimmung mit der Bundesnetzagentur das vorläufige Ergebnis ihrer Untersuchungen. Demnach hat die für E.ON Nord zuständige Netzleitstelle Lehrte die jeweilige Situation zwar grundsätzlich ordnungsgemäß beurteilt, aber unter hohem Zeitdruck nicht alle technischen Hilfsmittel für eine umfassende Lagebewertung genutzt. Die kritische Situation begann um 21.38 Uhr mit der planmäßigen Abschaltung der 380-kV-Leitung Diele – Conneforde, die bei der Ortschaft Weener über die Ems führt (siehe Karte). Damit sollte dem Kreuzfahrtschiff "Norwegian Pearl", das auf der Meyer-Werft in Papenburg gebaut worden war, die gefahrlose Durchfahrt zur Nordsee zu ermöglicht werden.
Die Abschaltung der Leitung über die Ems war Routine und schon oft durchgeführt worden. Neun Minuten vor der Abschaltung führten die beiden Ingenieure in der Netzleitstelle anhand der aktuellen Netzdaten nochmals eine Simulationsrechnung durch, die keine Grenzwertverletzungen ergab. Sie unterließen es aber, auch das sogenannte N-1-Kriterium anhand der aktuellen Daten ein weiteres Mal zu überprüfen. Stattdessen glaubten sie aufgrund vorangegangener Berechnungen und ihrer langjährigen Erfahrung annehmen zu können, daß auch beim Ausfall einer weiteren Leitung eine Überlastung des Netzes ausgeschlossen sei und somit die "N-1-Regel" eingehalten werde.
Es habe grundsätzlich im Ermessen der Mitarbeiter gelegen, auf eine erneute Überprüfung des N-1-Kriteriums zu verzichten, heißt es in dem Bericht. Die beiden Ingenieure seien aber von der irrigen Annahme ausgegangen, daß bei der Kuppelleitung Landesbergen – Wehrendorf (siehe Karte) die Schutzeinstellungen in Wehrendorf (RWE) denen in Landesbergen (E.ON) entsprächen und deshalb der im Leitsystem hinterlegte Grenzwert von 2000 Ampere vorübergehend um bis zu 25 Prozent überschritten werden könne. Erst um 21.45 Uhr hätten sie bei einem Telefonat von den RWE-Kollegen erfahren, daß diese Annahme falsch war.
Nach der Abschaltung der Hochspannungsleitung über die Ems um 21.38 Uhr stellten sich im wesentlichen die erwarteten Lastflüsse ein. Die bereits angespannte Situation auf den verbliebenen Leitungen spitzte sich aber zu, nachdem um 22.00 Uhr die neuen "Fahrpläne" für die Netznutzung umgesetzt worden waren, die in stündlichem Rhythmus die Lastflüsse verändern. Ab 22.05 Uhr begann sich eine Überlastung der 380-kV-Leitung Landesbergen – Wehrendorf abzuzeichnen, die E.ON mit dem Netz von RWE verbindet. Dieser Anstieg sei nicht vorhersehbar gewesen, betont der Bericht von E.ON Netz. Möglicherweise müsse er "in einem UCTE-weiten Kontext" gesehen werden und habe mit veränderten Kraftwerkseinspeisungen außerhalb des eigenen Regelgebiets zu tun gehabt.
Jedenfalls wurde um 22.07 Uhr der Sicherheitsgrenzwert der Leitung Landesbergen – Wehrendorf (1800 Ampere) überschritten. Um die Erreichung des Schutzgrenzwerts (1990 Ampere) und damit die automatische Abschaltung zu verhindern, veranlaßte die E.ON-Netzleitstelle die Zusammenschaltung mehrerer Leitungen im Umspannwerk Landesbergen. Entgegen den Erwartungen führte dies aber zu keiner Entlastung, sondern vielmehr zu einer zusätzlichen Belastung und Abschaltung der Leitung. Und nun zeigte sich, daß entgegen den Erwartungen auch das N-1-Kriterium nicht erfüllt war: Der Ausfall der Kuppelleitung zum RWE-Netz bewirkte nach Art eines Dominoeffekts die Überlastung und automatische Abschaltung weiterer Leitungen, bis das UCTE-Netz in drei Inseln zerfallen war.
Infolge der Auftrennung des UCTE-Netzes in drei Teilnetze entstand im Osten ein Überangebot und in der westlichen sowie der südöstlichen Insel ein Mangel an Strom. Um den völligen Zusammenbruch der Versorgung zu verhindern und das Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch wieder herzustellen, kam es in der nunmehr unterversorgten westlichen Insel zur Abschaltung von Millionen Industrie- und Haushaltskunden. im Osten mußte dagegen die überschüssige Erzeugung durch Abschalten von Kraftwerken und den Einsatz von Pumpspeicherkraftwerken im Pumpbetrieb verringert werden, bis es gegen 22.47 Uhr gelang, die Teilnetze wieder zu verbinden und bei einer Frequenz von 50 Hertz zu stabilisieren.
Im einzelnen nahmen die Netzbetreiber nach Angaben der UCTE folgende Abschaltungen vor:
RTE (Frankreich) | 5200 MW |
RWE (Deutschland) | 2000 MW |
TERNA (Italien) | 1500 MW |
APG (Österreich) | 1500 MW |
REE (Spanien) | 1050 MW |
ELIA (Belgien) | 800 MW |
REN (Portugal) | 500 MW |
TenneT (Niederlande) | 400 MW |
E.ON (Deutschland) | 400 MW |
Die beiden Ingenieure der Netzleitstelle Lehrte, denen die Fehlschaltung passierte, wurden inzwischen auf andere Arbeitsplätze versetzt. Die Darstellung von E.ON vermittelt indessen nicht den Eindruck, als ob sie es an der sonst üblichen Sorgfalt hätten fehlen lassen. Vielmehr scheinen sich die beiden gerade an die bisherige Praxis gehalten zu haben. Zum Verhängnis wurden ihnen dabei die "unvorhersehbaren" Stromflüsse, deren Herkunft auch der jetzt vorgelegte Bericht nicht rekonstruieren konnte. Allgemeine Ursache dieser unkalkulierbaren Lastflüsse dürfte die enorme Zunahme des Stromhandels sein, der die dafür nicht konzipierten Netze der UCTE bis an den Rand des technisch Möglichen strapaziert. Zum Beispiel betrug am Abend des 4. November die Verbrauchslast im Gebiet der E.ON Netz GmbH rund 13.700 MW. Zugleich wurde das E.ON-Netz aber durch Transitflüsse in Höhe von etwa 7.300 MW belastet.
Zunächst war der Verdacht geäußert worden, das E.ON-Netz sei nach
der Abschaltung der Hochspannungsleitung über die Ems durch eine ungewöhnlich
hohe Windstrom-Einspeisung überlastet worden. Dies traf aber nicht zu, denn die
Einspeisung der Windkraftanlagen folgte ziemlich genau der Prognose und war auch nicht
ungewöhnlich hoch (siehe Grafik).