Oktober 2023

231007

ENERGIE-CHRONIK



Die Aktie der neu gegründeten Siemens Energy AG wurde am 28. September 2020 erstmals an der Börse notiert. Sie schwächelte von Anfang an wegen der Probleme bei der Windtochter Gamesa. Der mühsam erreichte Höchstwert von etwas über 30 Euro schrumpfte in den folgenden 18 Monaten um zwei Drittel . Dass es ab Oktober 2022 wieder aufwärts ging, war wohl auf das Abfindungsangebot an die spanischen Minderheitsaktionäre der Gamesa und andere Sanierungsbemühungen zurückzuführen. Im Juni 2023 wurde jedoch gravierende Mängel bei den landgestützten Gamesa-Windkraftanlagen bekannt, die milliardenschwere Nachbesserungen oder Entschädigungen erforderlich machen (230608). Damit begann ein steiler Absturz, der am 31. Oktober mit einem Schlusskurs von 8,48 Euro endete.

Siemens Energy ruft wegen Gamesa nach Staatshilfe

Am 26. Oktober bestätigte die Siemens Energy AG einen Bericht der "WirtschaftsWoche", wonach sie mit der Bundesregierung über staatliche Garantien verhandelt. Dem Vernehmen nach geht es um eine Bürgschaft von über 15 Milliarden Euro. Die Kreditwürdigkeit des Unternehmens leidet vor allem unter Entschädigungsansprüchen, die aus Qualitätsmängeln bei Windkraftanlagen des Tochterunternehmens Siemens Gamesa resultieren (230608). Anfang August gab der Mutterkonzern deshalb einen voraussichtlichen Jahresverlust von 4,5 Milliarden Euro bekannt (230812). Mit diesem Klotz am Bein fällt es ihm schwer, neue Großprojekte mit den üblichen Kreditlinien von Banken abzusichern, obwohl die Ertragslage in anderen Geschäftsbereichen gut ist. Daher der Ruf nach staatlicher Hilfe.

Verhandlungen mit der Bundesregierung laufen schon seit Monaten

Die Siemens Energy AG entstand vor drei Jahren durch Abspaltung der Energietechnik vom Siemens-Konzerns, der sich auf ähnliche Weise schon aus anderen Bereichen zurückgezogen hat, die ihm nicht profitabel genug erschienen (siehe Hintergrund). Neben dem Bereich "Gas and Power" umfasste die Neugründung, an der Siemens vorläufig noch eine Minderheit der Aktien hielt, die Windkraft-Tochter Siemens-Gamesa.

Ein Sprecher von Siemens Energy versuchte, das Problem möglichst positiv so zu beschreiben:

"Das enorme Tempo der Energiewende sorgt für eine hohe Nachfrage nach unseren Technologien, unser Auftragsbestand liegt bei 110 Milliarden Euro. Diese an sich positive Entwicklung, führt dazu, dass wir in größerem Ausmaß Garantien an unsere Kunden vergeben müssen. Das ist eine Herausforderung für alle Unternehmen. Wir bringen daher Maßnahmen zur Stärkung unserer Bilanz auf den Weg und führen auch Gespräche mit der Bundesregierung, wie wir Garantiestrukturen im schnell wachsenden Energiemarkt sicherstellen können."

Die Verhandlungen mit der Bundesregierung über die Bürgschaft laufen schon seit Monaten, wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck am 26. Oktober am Rande eines Besuch in der Türkei wissen ließ. Es handele sich um "gute, konstruktive Gespräche", deren Intensität sich in den vergangenen beiden Wochen "noch einmal verstärkt" habe. Näheres wollte Habeck nicht mitteilen: "Wir wissen, wo der Konzern steht, und der Konzern weiß, wo die Bundesregierung steht."

Bei diesen Verhandlungen geht es nicht zuletzt darum, ob und wieweit der Siemens-Konzern bereit ist, sich an der Stützung des Unternehmens zu beteiligen, das vor drei Jahren aus der Abspaltung des Siemens-Energieschäfts hervorging (200711). Wie man hört, hat Siemens es zunächst abgelehnt, dem Unternehmen beizustehen, das zwar den traditionsreichen Namen Siemens per Lizenzvertrag führen darf, aber von vornherein außerhalb des Konzerns angesiedelt wurde. Die anfängliche Siemens-Beteiligung von 45 Prozent ist inzwischen auf 25,1 Prozent gesunken. Und auch diesen Restanteil will Siemens noch weitgehend minimieren.

"Staatshaftung läuft darauf hinaus, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden"

Ökonomen und Politiker sehen das Hilfsbegehren kritisch: "Staatliche Garantien schaffen Fehlanreiz für Unternehmen, da sie eine Vollkasko-Mentalität fördern", sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, der "Rheinischen Post" (31.10.). Stattdessen sei es Sache von Siemens, die Garantien zu übernehmen. Ähnlich äußerte sich gegenüber der "WirtschaftWoche" der Präsident des Münchener Ifo-Instituts, Clemens Fuest: "Staatshaftung läuft darauf hinaus, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Das ist nicht nur unfair, es werden auch falsche Anreize gesetzt, übermäßige Risiken einzugehen."

Innerhalb der Regierungskoalition sind bei der FDP die Vorbehalte am größten: "Der deutsche Staat kann nicht im Wochenrhythmus Garantien für Unternehmen geben, das ist Aufgabe der Eigentümer", erklärte der energiepolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Michael Kruse, gegenüber der "Welt" (27.10.). "Eine Energiewende, bei der am Ende Verbraucher, Netzbetreiber, Produzenten und alle anderen Akteure am staatlichen Tropf hängen, ist keine Transformation, sondern eine Deformation der Wirtschaft."

Siemens Energy sei ein Unternehmen, das für die Transformation des Wirtschaftsstandorts Deutschland relevant sei, erklärte dagegen am 27. Oktober ein Regierungssprecher in Berlin. Wie die Verhandlungen ausgehen, wird man möglicherweise am 8. November erfahren: Da will Bundeskanzler Scholz zusammen mit dem Vorstandsvorsitzenden von Siemens Energy, Christian Bruch, in Berlin ein neues Werk eröffnen, das Elektrolyseure zur Erzeugung von grünem Wasserstoff herstellt.

Hintergrund

Zwei fatale Entscheidungen

Beim Erwerb von Gamesa und beim Verkauf der Siemens-Energietechnik war von Anfang an der Wurm drin, der heute an Siemens Energy nagt

(siehe oben)

In der guten alten Zeit, als Banken noch als besonders solide Unternehmen galten, wurde der deutsche Elektroriese Siemens gern als "Bank mit angeschlossener Elektroabteilung" verspottet. Das klingt für heutige Ohren ein bißchen seltsam, weil man inzwischen mit Banken und der gesamten Finanzwelt eher das Gegenteil von Solidität verbindet. Man denke nur an die Deutsche Bank, wo die Staatsanwaltschaft ein- und ausgeht. Aber damals war dieses Bonmot anerkennend gemeint: Es bezog sich auf die gewaltigen Kapitalreserven, über die der Konzern durch eine langfristig angelegte und und erfolgreiche Geschäftspolitik verfügte.

Im Jahr 2010 beantragte Siemens dann tatsächlich eine Banklizenz, und auch die damals gegründeten Siemens Financial Services (SFS) erwiesen sich als erfolgreich. Trotzdem wurde aus Siemens auch jetzt nur ein Elektrokonzern mit angeschlossenem Bankgeschäft. Allerdings war die seinerzeit grassierende Ideologie des "shareholder value" nicht ohne Auswirkungen geblieben. Die Geschäftspolitik wurde kurzatmiger und hektischer. Vor allem zog sich der Konzern nun schneller als früher aus Bereichen zurück, die ihm nicht profitabel genug erschienen.

Abspaltung der Energietechnik rührte an die Identität des Unternehmens

So hat Siemens schon 1999 das überaus zukunftsträchtige Halbleiter-Geschäft aufgegeben (Infineon). 2002 folgte der Rückzug aus der Photovoltaik, obwohl "Siemens Solar" beste Chancen gehabt hätte, an dem ein paar Jahre später einsetzenden Boom der deutschen Photovoltaik-Industrie zu partizipieren (der dann durch ungeschickte Förderpolitik und ungebremstes chinesisches Dumping zunichte gemacht wurde). 2007 wurde der Automobilzulieferer VDO verkauft, ab 2013 die Trennung von der Leuchtmittel-Tochter Osram vollzogen, 2015 der Rückzug aus dem Hausgeräte-Geschäft abgeschlossen und 2017 der Bereich Medizintechnik an die Börse gebracht (Healthineers).

Die vor drei Jahren erfolgte Abspaltung des Kraftwerks- und Netzbereichs (200711) war ein besonders tiefer Einschnitt. Sie rührte gewissermaßen an die Identität des Unternehmens, dessen Stammvater Werner Siemens 1867 das dynamoelektrische Prinzip entdeckte und als Begründer der elektrischen Energietechnik gilt. Noch in einer firmenoffiziellen Darstellung der Unternehmensgeschichte, die 1994 erschien, bildeten Stromerzeugung und Netztechnik mit 142 Seiten die umfangreichsten Kapitel, gefolgt von Steuerung und Automatisierung mit 59 Seiten, Medizintechnik mit 57 Seiten, Datenverarbeitung mit 53 Seiten, Halbleitertechnik mit 45 Seiten, Nachrichtentechnik mit 33 Seiten und Eisenbahnsignaltechnik mit 21 Seiten (siehe Buchbesprechung).

"Gas and Power" wurde mit der kränkelnden Windkraft-Tochter zusammengepackt

Dass der Verkauf der Energietechnik eine kluge Entscheidung war, darf bezweifelt werden. Vermutlich war dabei kurzfristiges Profitdenken wichtiger war als langfristig orientierter kaufmännisch-technischer Verstand. Jedenfalls gäbe es die heutigen Probleme bei der Siemens Energy AG nicht, wenn man der inzwischen drei Jahre alten Siemens-Ausgründung nur den kompletten Geschäftsbereich "Gas and Power" in die Wiege gelegt hätte.

Hinzu kam jedoch noch die Windkrafttochter Siemens Gamesa Renewable Energy SA., die im April 2017 aus der Zusammenlegung der im Offshore-Geschäft tätigen "Siemens Wind Power" mit dem spanischen WKA-Hersteller Gamesa entstanden war. Dieses Unternehmen litt schon damals unter Geburtsfehlern, die bis ins Jahr 2016 zurückreichen, als nach monatelangen Verhandlungen die Konditionen für die Siemens-Mehrheitsbeteiligung an dem Gemeinschaftsunternehmen vereinbart wurden. Dabei behielten die spanischen Minderheitseigentümer und das spanische Management einen unverhältnismäßig starken Einfluss bei dem fusionierten Unternehmen, das nun vom alten Firmensitz der Gamesa in Bilbao aus dirigiert wurde.

Zunächst schienen sich die Geschäftsbereiche von Siemens Wind Power und Gamesa ideal zu ergänzen

Die Gamesa hatte 2015 ihr Offshore-Geschäft in ein Gemeinschaftsunternehmen mit dem französischen Areva-Konzern eingebracht und produzierte seitdem nur noch landgestützte Windkraftanlagen (150314). Bei oberflächlicher Betrachtung schienen sich deshalb die beiden Unternehmen hervorragend zu ergänzen. Siemens hatte eine starke Position bei Offshore-Anlagen: Von den 13 Windparks, die bis 2015 vor der deutschen Küste in Betrieb gingen, wurden nicht weniger als neun mit Siemens-Anlagen bestückt (151007). Bei landgestützten Windkraftanlagen rangierte Siemens dagegen auf dem Heimatmarkt weit abgeschlagen hinter Enercon, Vestas, Senvion und Nordex (151013). Bei Gamesa verhielt es sich umgekehrt: Das Hauptgeschäft waren hier schon immer landgestützte Anlagen, während die Offshore-Anlagen nur eine zweitrangige Rolle spielten. Aus diesem Grund wurden sie auch abgegeben und in das Gemeinschaftsunternehmen "Adwen" mit Areva eingebracht.

Sogar der höhere Wartungsbedarf bei Gamesa galt als profitabler Vorteil

Rechnerisch rückten die beiden Fusionspartner sogar zum Weltmarktführer auf, wenn man die Marktanteile von 2015 zugrunde legte (160601). Geografisch ergänzten sie sich insoweit, als die Siemens-Windtochter ihre Aufträge bisher hauptsächlich in Nordeuropa und Nordamerika akquirierte. Die Gamesa war dagegen vor allem in Südeuropa und stark wachsenden Schwellenmärkten wie Indien und Lateinamerika tätig. Weitere Synergie-Effekte schienen sich aus dem technischen Vorsprung zu ergeben, über den Siemens vor allem bei getriebelosen Windturbinen verfügte. Die zahlreichen Gamesa-Anlagen mit ihrer eher bejahrten Technik erbrachten dafür höhere Gewinne im Service-Geschäft. Dieser Wartungs- und Reparaturbedarf wurde damals offenbar noch als Vorzug gewertet und sogar als Grund dafür gesehen, daß Gamesa über eine höhere Rendite als Siemens Wind Power verfügte. An dieser Sichtweise stimmte immerhin soviel, dass die Erträge aus Wartung und Reparatur der installierten Kapazitäten für alle Hersteller von Windkraftanlagen von großer Bedeutung sind. Dass sich eine solche Einnahmequelle auch sehr schnell in entschädigungpflichtige Nachbesserungen verwandeln könnte, kam anscheinend niemandem in den Sinn.

Siemens musste zusätzlich den verlustträchtigen Hersteller Awden schlucken

Aber es lag nicht nur an technischen Mängeln der Gamesa-Anlagen und spanischem Schlendrian, wenn in dem erhofften Aufstieg der Siemens-Gamesa zum neuen Weltmarktführer von Anfang an der Wurm drin war. Der erste Kotzbrocken, den Siemens noch vor der förmlichen Fusion der beiden Unternehmen schlucken musste, war die Übernahme der Anteilshälfte am Offshore-Hersteller Adwen (160909). Bei diesem handelte es sich um die frühere "Areva Wind", die ihrerseits aus dem deutschen Offshore-Hersteller Multibrid in Bremerhaven hervorging (100614, 070910). Der französische Nuklearkonzern Areva hatte kein Interesse, zusätzlich zu seiner Beteiligung an dem verlustträchtigen Gemeinschaftsunternehmen auch noch die andere Hälfte von der Gamesa zu erwerben. Er nutzt vielmehr die Chance, seine eigene Beteiligung endlich loszuwerden. Der vor zehn Jahren gestartete Ausflug in die Welt der erneuerbaren Energien hatte ihn nämlich schätzungsweise 1,5 Milliarden Euro gekostet, wobei sich sein Hauptgeschäft mit Reaktoren allerdings noch desaströser entwickelte (150703).

Aufgrund der mit Gamesa getroffenen Vereinbarungen war Siemens in dieser Situation verpflichtet, in die Bresche zu springen und der Areva für 60 Millionen Euro die hälftige Beteiligung an Adwen abzunehmen. Für Siemens war das keine sonderlich große Summe. Gravierender waren die 216 Millionen Euro, die Adwen im Vorjahr an Verlust erwirtschaftet hatte. Eine deutliche Belastung ergab sich ferner aus Verpflichtungen, die von Areva bzw. Adwen eingegangen wurden. Dazu gehörte die Errichtung von zwei Fabriken in Le Havre mit 700 Beschäftigten, die das Unternehmen zugesichert hatte, um den Zuschlag für drei Windparks zu erhalten. Insgesamt handelte sich Siemens mit der Übernahme von Adwen nur unerwünschten Ballast ein. Die Adwen-Produktion in Bremerhaven wurde deshalb kurz nach der Einverleibung durch Siemens Gamesa eingestellt und auch das Service-Geschäft schrittweise abgebaut.

Schon kurz nach dem Start halbierte sich der Börsenkurs von Siemens Gamesa

Nach dem Neustart des fusionierten Unternehmens Anfang April 2017 brach der Kurs der Siemens-Gamesa-Aktie binnen vier Monaten um fast die Hälfte ein. Der Hauptgrund war sicher ein weltweiter Rückgang der Aufträge, unter dem auch andere führende Hersteller litten. Bei Siemens Gamesa war der Rückgang jedoch besonders ausgeprägt: Zusammengenommen verringerte sich der weltweite Auftragseingang, der von April bis Juni 2016 bei beiden Fusionspartnern noch 2.729 MW betragen hatte, auf 1.398 MW. Er wurde also fast halbiert. Die Aufträge für landgestützte Windkraftanlagen gingen sogar von 1.662 MW auf 693 MW zurück, also um 58 Prozent. Siemens gab sich trotzdem optimistisch und erwartete eine baldige Marktbelebung im Erneuerbaren-Sektor (170805).

Schon zwei Monate später half Gesundbeten nicht mehr: Der Kurs der Gamesa-Aktie war inzwischen an der Madrider Börse von über 22 Euro auf etwas über 10 Euro gestürzt. Das Unternehmen veröffentlichte die zweite Gewinnwarnung binnen drei Monaten und besetzte drei Führungspositionen neu. Als Ursache des Rückschlags nannte der Vorstandsvorsitzende Markus Tacke die notwendige Neubewertung von Lagerbeständen in den USA und Südafrika. Offenbar handelte es sich um landgestützte Windkraftanlagen und damit erneut um jenen Teil des Geschäfts, den die spanischen Partner in das fusionierte Unternehmen eingebracht hatten (171009).

Das Geschäft mit Kohle- und Gasturbinen ging ebenfalls stark zurück

Damit zeichnete sich ab, dass das weiterhin in Spanien beheimatete Windkraft-Unternehmen von seiner ganzen Anlage her eine Mesalliance war. Parallel dazu brach im Siemens-Geschäftsbereich Energie der Absatz an Kohle- und Gasturbinen drastisch ein (171103). Der Konzern forderte deshalb einen verläßlichen Ausstiegspfad bei der Kohleverstromung und einen stärkeren Ausbau der Erneuerbaren (171108). Zumindest in Deutschland konnte er keine Aufträge für neue Kohlekraftwerke mehr erwarten (170411). Dagegen wurden Gaskraftwerke zur Abpufferung der fluktuierenden Wind- und Solarstromerzeugung weiterhin benötigt. Sobald der zeitweilig bis zum Stillstand abgebremste Windkraft-Ausbau vor der deutschen Küste wieder in Fahrt kommen würde, konnte er davon ebenfalls profitieren. Ebenso vom Ausbau der Stromnetze und Speicher, der sträflich lange vernachlässigt wurde. Insgesamt waren die geschäftlichen Aussichten im Bereich der Energietechnik einschließlich Windkraft deshalb gar nicht so bescheiden, wie es zeitweilig scheinen mochte.

Verkauf der Energietechnik inklusive Siemens Gamesa sollte die Probleme lösen

Trotzdem beschloss der Siemens-Vorstand im Mai 2019, den ganzen Bereich Energietechnik auszugliedern und separat an die Börse zu bringen. Der Aufsichtsrat gab dazu einstimmig seinen Segen, also mit den Stimmen der Arbeitnehmervertreter. Der bisherige Geschäftsbereich "Gas and Power" sollte dadurch "vollständige Unabhängigkeit und unternehmerische Freiheit erhalten". Und nicht nur das: Als Dreingabe wurde auch die bisher separat geführte Windkrafttochter Siemens Gamesa in das Paket gepackt, das ohne sie wahrscheinlich attraktiver gewesen wäre (190503) .

Der damalige Vorstandsvorsitzende Kaeser legte dabei Wert auf die Feststellung, "dass Siemens aus einer Position der Stärke heraus die Weichen für die Zukunft stellt und exzellent positioniert ist". Er wollte damit wohl vorsorglich den Einwand entkräften, dass Siemens insgesamt ganz gut dastehe und es einmal zur Firmentradition gehörte, auch längere Durststrecken in Kauf zu nehmen, wenn wichtige Geschäftsbereiche zeitweilig keine schwarzen Zahlen schreiben. Bei den Protesten gegen die angekündigten Stellenstreichungen im November 2017 hatten Demonstranten an diese Tradition mit einem Zitat von Werner Siemens erinnert: "Für augenblicklichen Gewinn verkaufe ich die Zukunft nicht."

Aber es blieb beim Verkauf: Im Juli 2020 billigten auch die Eigentümer des Siemens-Konzerns mit 99,36 Prozent des Aktienkapitals das Vorhaben des Vorstands. Wegen der Corona-Pandemie fand die außerordentlichen Hauptversammlung virtuell in der Siemens-Zentrale statt. Physisch zugegen waren lediglich der Vorstandsvorsitzende Joe Kaeser und ein paar weitere Konzernvertreter. Aktionäre, Journalisten und andere Interessenten konnten per Internet teilnehmen, wobei die Abstimmung durch PIN-Eingabe über eine gesicherte Datenverbindung erfolgte. Tatsächlich gab es auch drei Anträge, die Abspaltung des Energiebereichs abzulehnen. Sie hatten indessen keine Chance, da sie nur 0,64 Prozent des Aktienkapitals repräsentierten (200711).

Abfindung der Gamesa-Minderheitsaktionäre kostete über vier Milliarden-Euro

Ab 2022 bemühte sich der Mehrheitsaktionär Siemens Energy verstärkt, aus der verkorksten Fusion mit Gamesa doch noch ein rentables Unternehmen zu machen. Zu Anfang des Jahres übernahm sein bisheriges Vorstandsmitglied Jochen Eickholt den Vorstandsvorsitz der spanischen Windkraft-Tochter, um diese von Grund auf zu sanieren. Neben der Streichung zahlreicher Arbeitsplätze und dem Austausch mehrerer Manager gehörte dazu ein Übernahmeangebot an die spanischen Minderheitsaktionäre, das rund drei Milliarden Euro kosten sollte. Nachdem Siemens Energy schon über neunzig Prozent der Aktien an sich gebracht hatte, beschloss im Januar 2023 eine außerordentliche Hauptversammlung, die Tochter Siemens Gamesa von der Börse zu nehmen (230109).

Im Juni 2023 konnte das Übernahmeangebot an die spanischen Minderheitsaktionäre vollständig abgeschlossen werden, womit Siemens Energy bei seiner spanischen Tochter unumschränkte Durchgriffsmöglichkeiten bekam. Allerdings war der Preis dafür extrem hoch, denn nun stellte sich heraus, dass die Abfindung der Minderheitsaktionäre sogar 4,05 Milliarden Euro gekostet hatte. Das war auch für Siemens-Verhältnisse ein gewaltiger Batzen.

Hohe Folgekosten von Qualitätsmängeln durchkreuzten die Sanierungsbemühungen

Noch schlimmer war jedoch eine neue Hiobsbotschaft: Am 2. Juni 2023 ließ Siemens Energy wissen, dass die ohnehin schon negative Gewinnprognose für die Windtochter Gamesa, die einen Nettoverlust von mehr als 800 Millionen Euro erwartete, zurückgenommen und durch noch schlechtere Aussichten ersetzt werden müsse. Der Grund seien "deutlich erhöhte Ausfallraten bei Windturbinen-Komponenten", hieß es in der Ad-hoc-Mitteilung. "Der derzeitige Stand der technischen Überprüfung legt nahe, dass für die Erreichung der angestrebten Produktqualität bei bestimmten Onshore-Plattformen wesentlich höhere Kosten anfallen werden, als bisher angenommen. Mögliche qualitätsbezogene Maßnahmen und die damit verbundenen Kosten werden derzeit noch bewertet und liegen voraussichtlich bei über 1 Milliarde Euro. Da geplante Verbesserungen der Produktivität nicht in dem bisher erwarteten Umfang eintreten, überprüfen wir zudem die wesentlichen Annahmen, die den Geschäftsplänen zugrunde liegen. Darüber hinaus sehen wir weiterhin Schwierigkeiten beim Hochlauf der Fertigungskapazitäten im Offshore-Bereich."

Die Probleme bei Gamesa waren also noch viel größer als bisher angenommen. Vor allem konnten sich aus den Qualitätsmängeln bei den landgestützten Windkraftanlagen langwierige Nachbesserungen und Entschädigungsansprüche in Milliardenhöhe ergeben. Und weil Siemens Energy schon vier Milliarden Euro für die Abfindung der spanischen Aktionäre ausgegeben hatte, fehlten dem Gesamtunternehmen nun hinreichende Rücklagen, um neue Großprojekte mit den üblichen Kreditlinien von Banken abzusichern oder die erwähnten "Schwierigkeiten beim Hochlauf der Fertigungskapazitäten im Offshore-Bereich" zu überwinden.

Jetzt, wo die Energiewende endlich an Tempo gewinnt, fehlt Siemens Energy die nötige Finanzkraft

Das war umso bitterer, als nun endlich der Netzausbau sowie der Zubau an Windkraft-Kapazitäten in Fahrt kamen. Zum Beispiel ist Siemens Energy mit der Herstellung der "Ultranet"-Leitung einschließlich der dazugehörigen Konverterstationen beauftragt worden (200516). Auch für die "SuedLink"-Leitung von Brunsbüttel nach Großgartach werden die Konverter von Siemens Energy geliefert (210808). Viele weitere Großaufträge für Netzausbau, Elektrolyseure oder auch Windparks wären noch zu vergeben. Am 8. November will Siemens Energy im Beisein des Bundeskanzlers in Berlin ein neues Werk eröffnen, das Elektrolyseure zur Erzeugung von grünem Wasserstoff herstellt. Um weiterhin erfolgreich mithalten zu können, bräuchte das Unternehmen die finanzielle Unterstützung des einstigen Mutterkonzerns. Dieser beruft sich indessen darauf, dass er nur noch eine Beteiligung von 25,1 Prozent hält und auch diese möglichst schnell bis auf die 6,8 Prozent minimieren möchte, die bereits dem Siemens-Pensionsfonds übertragen wurden.

Der ehemalige Siemens-Chef Kaeser will von der eigenen Verantwortung ablenken

Außerdem gehe es gar nicht um eine Staatshilfe, erklärte der einstige Siemens-Chef Joe Kaeser, der seit 2021 Aufsichtsratsvorsitzender von Siemens Energy ist. Es gehe lediglich um finanzielle Garantien, die aller Voraussicht nach gar nicht in Anspruch genommen werden müssten. "Das Unternehmen benötigt erkennbar kein Geld vom Staat", formulierte er apodiktisch – wohl auch deshalb, um sich persönlich von jeder Verantwortung freizusprechen. Denn es war Kaeser, der als Siemens-Chef 2017 für die Mesalliance mit Gamesa verantwortlich war und drei Jahre später die Abspaltung des Energietechnik-Geschäfts durchsetzte. Außerdem hatte er zuletzt noch als Aufsichtsratsvorsitzender von Siemens Energy die Milliarden-Abfindung für die Minderheitsaktionäre von Siemens Gamesa gebilligt.

So einfach darf die Bundesregierung den Konzern aber nicht davonkommen lassen, wenn sie jetzt mit Kaesers Nachfolger Roland Busch über eine Beteiligung an der Hilfe für Siemens Energy verhandelt. Es war zweifellos der mit über neun Millionen Euro jährlich hochbezahlte Kaeser, der mit seinen Entscheidungen die jetzige finanzielle Notlage von Siemens Energy verursacht hat. Da kann sich auch sein Nachfolger nicht einfach zurücklehnen und darauf berufen, dass Siemens Energy ein eigenständiges Unternehmen sei.

 

 

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