Juli 2023 |
230701 |
ENERGIE-CHRONIK |
Schon 2021 gab es drei Monate lang einen Importüberschuss. Trotzdem verzeichnete man für das ganze Jahr einen Exportüberschuss von 17,4 TWh. In diesem Jahr ist das Sommerloch aber gravierender, weshalb auch für das Jahresergebnis zum ersten Mal seit 22 Jahren mit einem Importüberschuss zu rechnen ist. |
Die Halbjahresbilanz des deutschen Stromaustauschs mit dem Ausland ergab im Juli zum ersten Mal seit 22 Jahren wieder einen Importüberschuss, der beim Stromhandel 2,5 Terawattstunden (TWh) und beim physikalischen Stromfluss 1,0 TWh betrug (zum Unterschied siehe Hintergrund 1 dieser Ausgabe). Damit hat sich der seit 2018 andauernde Rückgang des Deutschen Stromexports wieder fortgesetzt, nachdem 2022 ein Wiederanstieg zu verzeichnen war, der in erster Linie auf die energiepolitischen Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine zurückzuführen gewesen sein dürfte.
Noch zu Anfang dieses Jahres sah es so aus, als ob es infolge dieser besonderen Situation auch in diesem Jahr wieder zu einem ähnlichen oder sogar noch höheren Exportüberschuss kommen würde. Zum Beispiel beschloss nach langem Zögern auch das Großkraftwerk Mannheim (GKM), ab Januar seinen Steinkohleblock 7 auf Grundlage des "Ersatzkraftwerkegesetzes" aus der Reserve zu holen und damit an den Markt zurückzukehren. Die ungewöhnlich günstigen Rahmenbedingungen für Kohlestrom und und dessen Export waren aber nicht von Dauer. Schon im April wurde deshalb entschieden, den Steinkohleblock ab Juni wieder als Reservekraftwerk vorzuhalten, anstatt ihn weiterhin für die kommerzielle Stromerzeugung zu nutzen, was bis zum Frühjahr 2024 erlaubt wäre.
Einige Politiker und Kernkraft-Fans glaubten, aus dem Exportrückgang politischen Honig saugen zu können, indem sie ihn auf die am 15. April erfolgte Abschaltung der drei letzten Kernkraftwerke zurückführten. "Die Ampel hat mit dem Abschalten der nationalen Kernkraftwerke die Energiesouveränität Deutschlands ins Wanken gebracht", schwadronierte der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe, Stefan Müller, gegenüber der "Bild"-Zeitung. "Statt ausreichend Strom in Deutschland zu produzieren, sind wir jetzt auf den Atom-Strom aus Frankreich angewiesen. So gefährdet Habeck den Industriestandort Deutschland.”
Müller hatte zuvor eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet und wollte wissen, wieviel Strom vor und nach dem 16. April exportiert und importiert wurde (gemeint hat er wohl den 15. April, an dem die drei letzten Kernkraftwerke abgeschaltet wurden). Die Auskunft war allerdings nicht geeignet, ihn in seiner vorgefaßten Meinung zu bestätigen, zumal sich das Bundeswirtschaftsministerium in der Antwort viel Mühe gab, ihm eine differenziertere Vorstellung vom Funktionieren des Strommarktes zu vermitteln. Unter anderem gehörte dazu diese Feststellung:
"Über die Handelsrichtung zwischen Ländern entscheiden allein die relativen Kostenunterschiede zwischen den in den nationalen Gebotsreihungen zuletzt noch bezuschlagten Erzeugungstechnologien (die jeweiligen 'Grenzkraftwerke'). Deshalb erlaubt eine Betrachtung von Exporten und Importen und deren Entwicklung über die Zeit alleine keine Aussagen über die physikalische Knappheit von Strom. Der Außenhandelssaldo spiegelt mithin lediglich den Sachverhalt wider, dass Strom in zwei benachbarten Ländern im jeweiligen Zeitpunkt unterschiedlich günstig erzeugt wird."
Eine genauere Überprüfung der Entwicklung des Importsaldos zeigt,
dass die Abschaltung der drei Kernkraftwerke zwar den erwartbaren Einfluss
hatte, dieser aber so bescheiden war, wie es dem nur noch geringen Anteil
der Kernenergie an der Stromerzeugung entsprach. Auch bei einem Weiterbetrieb
der drei Reaktoren wäre im ersten Halbjahr aus dem bisherigen Exportüberschuss
ein Importüberschuss geworden – nur etwa fünf Wochen später
(siehe Hintergrund 2 dieser Ausgabe).
Die physikalischen Stromflüsse, die an den Kuppelstellen des deutschen Netzes mit den Nachbarländern registriert werden, entsprechen in ihrer Gesamtheit dem kommerziell vereinbarten Stromaustausch mit dem Ausland. Bei der Betrachtung einzelner Länder sind sie jedoch wenig aussagekräftig, weil der Strom oft andere Wege nimmt, um vom Lieferanten zum Empfänger zu gelangen.
Zum Beispiel gab es in dem Zeitraum von mehr als einem halben Jahr, den die obenstehende Grafik erfasst, beim kommerziellen Stromaustausch mit Frankreich einen deutschen Exportüberschuss von 3,0 TWh (8,8 TWh Exporte minus 5,8 TWh Importe). Ganz anders lauten jedoch die Zahlen beim physikalischen Austausch, der sogar einen Importüberschuss von 1,5 TWh ergibt (3,3 TWh Exporte minus 4,8 TWh Importe). Der eklatante Widerspruch erklärt sich daraus, dass beim physikalischen Austausch 4,5 TWh über Drittländer geflossen sind. Besondere Beachtung verdient dabei vor allem der hohe physikalische Exportsaldo von 3,7 TWh gegenüber der Schweiz, der den kommerziellen Stromaustausch mit diesem Nachbarland um ein mehrfaches übertrifft und im wesentlichen auf deutsche Strom-Transite nach Frankreich zurückzuführen sein dürfte.
In ihrer Gesamtheit sind die physikalischen Stromflüsse, wie sie an den Kuppelstellen des deutschen Netzes mit den Netzen der Nachbarländer erfasst werden, aber ein zuverlässiger Indikator für das Verhältnis zwischen Exporten und Importen. Bei intakten Meßgeräten ist das Gesamtergebnis sogar genauer als es die Außenhandelsstatistik aufgrund der jeweiligen Stromlieferverträge ermitteln kann. In den vergangenen 32 Jahren sah die deutsche Stromexport-Bilanz demnach so aus:
Bei dieser Grafik fällt auf, dass es von 1990 bis 2002 nur kleinere Saldi beim Stromaustausch gab, die abwechselnd in beiden Bereichen lagen (wobei sich aber der Umfang der Exporte und Importe jeweils um rund 45 Prozent erhöhte). Das annähernde Gleichgewicht zwischen Im- und Exporten endete erst 2003 mit einem bis dahin unerreichten Exportsaldo von 8,1 TWh, der sich bis 2008 noch auf 22,5 TWh erhöhte. Vermutlich hatte diese Entwicklung auch mit der Reduzierung der besonderen Netzentgelte für grenzüberschreitende Stromtransporte zu tun (021016), die ab 2004 völlig entfielen (030703), was die deutschen Stromerzeuger möglicherweise besonders begünstigte.
Die 2009 einsetzende Wirtschaftskrise senkte den Stromexport-Überschuss vorübergehend (091203). Nach der Katastrophe von Fukushima kam es 2011 zu einem nochmaligen und stärkeren Rückgang, weil die sofortige Stilllegung von acht Kernkraftwerken durch vermehrte Importe ausgeglichen werden musste (110401). Aber schon im folgenden Jahr erreichte der Exportsaldo einen neuen Höchstwert von 33,8 TWh. In den folgenden Jahren wurde der Exportüberschuss noch größer und erreichte 2017 seinen absoluten Höchststand mit 60,2 TWh.
Es war allerdings vor allem Kohlestrom, der hier exportiert wurde und dadurch in anderen Ländern die emissionsärmeren Gaskraftwerke aus dem Markt drängte (150602). Da die Treibhausgase am Ort der Stromerzeugung freigesetzt und berechnet werden, entlasteten diese Exporte zwar die CO2-Bilanz der ausländischen Abnehmer, gefährdeten aber im Inland die Erreichung des Klimaziels (161206). Unter diesem Gesichtspunkt waren die Exporterfolge der deutschen Kraftwerksbetreiber keineswegs erfreulich. Sie waren eher eine Art Notventil, durch das der Überdruck entweichen konnte, der im Inland aus dem Konflikt zwischen dem Ausbau der erneuerbaren Stromquellen und den noch immer viel zu großen Kapazitäten an fossiler und nuklearer Stromerzeugung entstand.
Inzwischen erkannten auch große Teile der Wirtschaft die Notwendigkeit wirksamerer Maßnahmen zum Schutz des Klimas, indem sie für sie einen "verläßlichen und sozialverträglichen Ausstiegspfad bei der Kohleverstromung" plädierten (171108). Im Juni 2018 beauftragte die Bundesregierung eine Kommission mit der Ausarbeitung eines Plan zum Ausstieg aus der Kohleverstromung (180612). Zwei Jahre später beschloss der Bundestag das Kohleausstiegsgesetz (200701). Parallel dazu ging der 2017 erreichte Exportüberschuss um mehr als zwei Drittel auf 17,4 TWh zurück. Vermutlich wäre er 2022 noch weiter geschrumpft, wenn nicht durch den russischen Überfall auf die Ukraine eine völlig neue Situation entstanden wäre. Nun ging es plötzlich nicht mehr um die Stilllegung von Kohlekraftwerken, sondern um deren vorübergehende Reaktivierung, um die netztechnischen Probleme besser meistern zu können, die sich aus der übergroßen Abhängigkeit von Gaskraftwerken ergaben (220602). Gleichzeitig nutzte eine wieder stärker gewordene Kernkraft-Lobby die Gunst der Stunde, um mit dem falschen Argument eines sonst drohenden Strommangels die Abschaltung der drei letzten Kernkraftwerke zu verhindern. Der angeblich notwendige Weiterbetrieb dieser drei Reaktoren diente dabei nur als Vorwand, um als "Brücke" zu einer generellen Neubelebung der nuklearen Stromerzeugung in Deutschland zu dienen (siehe Hintergrund, April 2023).