Januar 2016 |
160110 |
ENERGIE-CHRONIK |
Der physikalische Stromaustausch mit dem Ausland wird an den jeweiligen Grenzkuppelstellen der Netze gemessen und entspricht insgesamt etwa den Strommengen, die mit den europäischen Nachbarstaaten gehandelt werden. Die einzelnen Stromlieferungen nehmen aber nicht unbedingt den kürzesten Weg über die Grenze, sondern suchen sich ihre eigenen Wege durch das europäische Verbundnetz. Zum Beispiel waren 2015 die mit Österreich und Frankreich gehandelten Strommengen wesentlich größer als die an den Grenzen registrierten physikalischen Stromflüsse. Im Falle der Niederlande und der Schweiz verhielt es sich umgekehrt. Die Stromflüsse nach Polen erfolgten sogar so gut wie ohne Stromhandelsverträge mit diesem Land und dürften hauptsächlich in Österreich verbraucht worden sein. |
Das seit zwölf Jahren andauernde Ungleichgewicht bei den Stromflüssen zwischen Deutschland und dem Ausland hat sich im vergangenen Jahr weiter vergrößert. Wie aus vorläufigen Angaben der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen hervorgeht, flossen 50,1 Terawattstunden (TWh) Strom mehr in die angrenzenden Staaten als in umgekehrter Richtung. Der 2014 erreichte Rekordüberschuß von 35,6 TWh (150602) ist damit um gut vierzig Prozent nochmals übertroffen worden.
Seit 2003 exportieren die deutschen Kraftwerke immer mehr Strom in die benachbarten Staaten. Sogar in der Rezession der Jahre 2008/2009 sowie nach der Stillegung der acht ältesten Kernkraftwerke im Jahr 2011 war ein deutlicher Exportüberschuß zu verzeichnen. |
Betrachtet man anstelle der physikalischen Stromflüsse die Handelsflüsse, so betrug der Exportsaldo sogar 60,9 TWh gegenüber 40,3 TWh im Vorjahr, was einer Zunahme um fünfzig Prozent entspricht. Dies ergibt sich jedenfalls aus einer Jahresauswertung, welche die Initiative "Agora Energiewende" im Januar aufgrund von Angaben der ENTSO-E (090207) und eigenen Berechnungen veröffentlichte. Als mögliche Ursachen für die Differenz von mehr als zehn Terawattstunden zum Saldo der physikalischen Stromflüsse nennt das Papier Kettenhandelsverträge von Strom im europäischen Binnenmarkt, Ringflüsse zwischen den verschiedenen europäischen Netzgebieten sowie Redispatch-Maßnahmen der Netzbetreiber.
Zugleich stieg bei den Handelsflüssen die an einzelnen Tagen erreichte maximale Exportleistung im Jahr 2015 auf etwa 17 Gigawatt an. Im Vorjahr hatte die maximale Exportleistung noch bei rund 10 Gigawatt gelegen. Die maximale Importleistung ist mit 16 Gigawatt vergleichbar groß. Allerdings verringerte sich die Zahl der Stunden, an denen Deutschland Nettoimporteur von Strom war, von 1.181 Stunden im Jahr 2014 auf 415 im Jahr 2015.
Deutschland verkauft demnach 10 Prozent der Stromproduktion ins Ausland (Handelssaldo) beziehungsweise produziert 8 Prozent Strom mehr Strom, als es verbraucht (physikalischer Saldo). Diese Differenz zwischen Erzeugung und Verbrauch ist in den vergangenen Jahren konstant angestiegen – während der Stromaustauschsaldo im Jahr 2000 noch ungefähr ausgeglichen war, öffnet sich die Schere zwischen Stromerzeugung und Stromverbrauch seither immer weiter (siehe Grafik).
Der bedeutendste Handelspartner für Strom aus Deutschland war Österreich, mit dem schon aufgrund der Nutzung von Pumpspeicherkraftwerken ein täglicher Stromhandel besteht. Übers Jahr gesehen bezog Österreich jedoch deutlich mehr Strom aus Deutschland als umgekehrt (Export nach Österreich: 44,9,Terawattstunden, Import aus Österreich 13,6 Terawattstunden). Demgegenüber sind die Niederlande ein reines Importland für deutschen Strom – sie kauften aufgrund der niedrigeren Strompreise in Deutschland mehr als 16,6 Terawattstunden, lieferten jedoch fast nichts. Drittwichtigster Abnehmer von Strom war Frankreich, das 13,3 Terawattstunden aus Deutschland importierte und etwa 3,8 Terawattstunden an Deutschland lieferte.
Umgekehrt importiert Deutschland traditionell Strom aus Tschechien (2015: Importe in Höhe von 8,6 Terawattstunden bei Exporten von 5,4 Terawattstunden) sowie aus Schweden (2015: Importe in Höhe von 1,6 Terawattstunden bei Exporten von 0,1 Terawattstunden). Im Stromhandel mit der Schweiz und mit Dänemark haben sich die Verhältnisse gegenüber dem Vorjahr verschoben: Während die Schweiz 2014 noch Nettoexporteur nach Deutschland war, ist sie 2015 zum Nettoimporteur geworden: Deutschland exportierte 10,4 Terawattstunden und importierte 5,7 Terawattstunden aus der Schweiz. Die Stromhandelsbilanz zwischen Deutschland und Dänemark wiederum war 2014 noch in etwa ausgeglichen, wogegen Dänemark im vergangenen Jahr 5,3 Terawattstunden nach Deutschland ausführte, aber nur 2,1 Terawattstunden einführte.
Einer Bruttostromerzeugung von 647,1 TWh stand im vergangenen Jahr ein Bruttostromverbrauch von 597 TWh gegenüber. Die Kraftwerke produzierten also 50,1 TWh mehr, als verbraucht werden konnte. So groß war die Differenz noch nie, seitdem die Liberalisierung des Strommarktes dem früher fast identischen Verlauf der beiden Kurven ein Ende setzte. Sie entspricht dem Exportüberschuß beim physikalischen Stromaustausch mit dem Ausland. |
Als Ursache für die hohen deutschen Stromexporte nennt die Agora-Initiative die Strompreisunterschiede zwischen den Ländern: Die deutsch-österreichische Preiszone hat nach Skandinavien mit seinen traditionell niedrigen Strompreisen (21 Euro im Schnitt 2015) die zweitniedrigsten Strompreise in Europa. Zum Beispiel lagen die Preise in Deutschland und Österreich im Schnitt im Jahr 2015 bei etwa 31,60 Euro pro Megawattstunde. Demgegenüber betrugen sie 2015 in Polen, Frankreich, Schweiz und in den Niederlanden etwa 40 Euro pro Megawattstunde und in Spanien, Portugal, Italien und Großbritannien lagen sie im Schnitt bei 50 Euro pro Megawattstunde und mehr.
Die höheren Strompreisniveaus in diesen Nachbarländern erklären sich aus dem höheren Anteil von Gaskraftwerken beziehungsweise im Fall von Spitzenreiter Großbritannien (56 Euro pro Megawattstunde) aus dem Mindestpreis von 18 Pfund (circa 24 Euro) pro Tonne CO2-Emissionen, der von britischen Kraftwerksbetreibern zusätzlich zum EU-Emissionshandelspreis zu entrichten ist, weshalb britische Kraftwerke derzeit pro ausgestoßener Tonne CO2 Kosten von etwa 32 Euro zu tragen haben.
Ferner verweist die Agora-Initative auf zwei Faktoren, welche die hohen deutschen Stromexporte in besonderer Weise begünstigen: