Juni 2022 |
220601 |
ENERGIE-CHRONIK |
Wenn Putin den Gashahn nicht noch weiter
oder ganz zudreht, wird er wohl nicht verhindern können, dass
die deutschen Gassspeicher die vorgeschriebenen Füllstände von
80 Prozent bis 1. Oktober und von 90 Prozent bis 1. November
erreichen.
Quelle: Bundesnetzagentur
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Der russische Diktator Wladimir Putin will offenbar die rechtzeitige Auffüllung der westeuropäischen Gasspeicher vor Beginn der kalten Jahreszeit verhindern. Nur so lässt es sich erklären, dass er bereits seit Ende Mai die in Deutschland ankommenden Gasflüsse drosselte und bis Mitte Juni auf weniger als die Hälfte der üblichen Menge senkte (siehe Grafik 3). Davon betroffen ist auch die Weitergabe von Gas in andere europäische Länder wie Frankreich, Österreich und Tschechien. Da der Gasverbrauch im Sommer vergleichsweise minimal ist (siehe Grafik 4), bedeutet das aber noch keine aktuelle Gefährdung der Versorgungssicherheit. Die aktuellen Füllstände der Speicher in Deutschland lagen Ende Juni bei 61 Prozent (siehe Grafik 1). Bei Deutschlands größtem Gasspeicher Rehden, dessen Auffüllung die Gazprom sabotierte und der deshalb im Mai mit zwei Prozent noch so gut wie leer war (220506), erreichte der Füllstand inzwischen 18,16 Prozent, da die Bundesregierung bei der ehemaligen Gazprom Germania und ihrer Speichergesellschaft Astora die Regie übernommen hat (220608).
Das Bundeswirtschaftsministerium hat vor diesem Hintergrund am 23. Juni
die "Alarmstufe" ausgerufen, welche die seit 30. März geltende
"Frühwarnstufe" ablöst. Eine weitere Verschärfung wäre die "Notfallstufe",
mit der die Bundesnetzagentur als "Bundeslastverteiler" beauftragt würde,
die Verteilung der verbleibenden Gasmengen zu regeln. In der Alarmstufe
sind dagegen nur marktbasierte staatliche Eingriffe vorgesehen (220405).
Obwohl das Instrumentarium im einzelnen noch nicht feststeht, werden diese
"marktbasierten Maßnahmen" den allgemeinen Preisanstieg für Gas noch
verstärken, zumal das neugefaßte Energiesicherheitsgesetz in §
24 die Weitergabe von gestiegenen Kosten an die Endverbraucher
erleichtert (220603). Schon bisher sind die
Gas-Großhandelspreise stark gestiegen, da sich die von ausbleibenden
Lieferungen betroffenen Unternehmen die fehlenden Mengen nur zu zu
deutlich höheren Preisen anderweitig am Markt beschaffen konnten (siehe
Grafik 2).
Die Gaspreise haben sich nach der Explosion Anfang März wieder etwas beruhigt. Das Preisniveau ist aber noch immer extrem hoch und begann Mitte Juni weiter zu steigen. Seit vergangenen Oktober gibt es in Deutschland nur noch ein einziges Marktgebiet für Gas, das unter der Bezeichnung Trading Hub Europe (THE) die beiden Vorgänger Gaspool Balancing Services und NetConnect Germany ablöste (211010). Quelle: Bundesnetzagentur
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Dieser Preisanstieg ist ein weiterer Effekt, den Putin erreichen möchte, um noch möglichst viel Geld für die restlichen Lieferungen zu kassieren, bevor Deutschland und die EU völlig auf russische Importe verzichten können (220501). Ein willkommener Nebeneffekt und für ihn vielleicht sogar noch wichtiger ist die Destabilisierung der westeuropäischen Wirtschaft durch Gasmangel und eine durch den Anstieg der Energiepreise angeheizte Inflation. Aber auch ein völliger Lieferstopp gehört zum Kalkül das Autokraten im Kreml, sofern der daraus entstehende Schaden für die westeuropäische Wirtschaft größer ist als die Einnahmeverluste für den russischen Staatshaushalt.
Für den kommenden Winter ist deshalb mit dem Schlimmsten zu rechnen, und es stellt sich nachträglich die Frage, ob ein aktives Handeln der EU durch Verhängung eines Gasembargos gegen Russland nicht von Anfang an die bessere Lösung gewesen wäre (220301, 220402). Die Probleme und Abstriche bei dem Ölembargo, das die EU Anfang Juni beschloss und ab 2023 in Kraft treten soll, lassen allerdings befürchten, dass ein Gasembargo noch mehr verwässert und damit weitgehend unwirksam geworden wäre. Dabei könnte dieses nur halbherzige Ölembargo, das vor allem auf Betreiben Ungarns und Griechenlands entschärft wurde, die EU weniger schmerzen und den Kreml härter treffen als ein Gasembargo, wenn es konsequent umgesetzt worden wäre (220604).
Ermuntert fühlen darf sich Putin bei seiner Strategie dadurch, dass die
EU bisher nur sehr defensiv auf die Daumenschrauben reagiert hat, die er
zur schrittweisen Aufweichung der westlichen Sanktionen erfindet. Es
begann mit der Liste "unfreundlicher Staaten", die er am 23. März
präsentierte, und von denen er verlangte, dass sie ihre Gasrechnungen
künftig in Rubel statt der vereinbarten Euro oder Dollar zu bezahlen
hätten (220301). Damit wollte er die
Finanzsanktionen unterlaufen, die ihn an der praktischen Verwertung der
eingenommenen Devisen hinderten. Am Ende hatte er auch Erfolg damit,
obwohl Polen und Bulgarien sich nicht auf die ersatzweise verlangte
Zwei-Konten-Prozedur einließen und deshalb Ende April mit Lieferstopps
belegt wurden (220401). Ferner wurde aus
demselben Grund auch ein niederländischer Kunde nicht mehr beliefert.
Ebenso erging es Versorgern aus Finnland, Dänemark und Shell Energy
Europe. Als jedoch kurz danach die ungleich größeren Gasimporteure RWE und
Uniper ihre Rechnungen bezahlten, akzeptierten sie in Absprache mit der
Bundesregierung genau diese Auflagen, um keinesfalls einen Lieferstopp für
Deutschland zu riskieren. Damit war Putins Einschüchterungsstrategie
aufgegangen. Nach außen erweckten Energiekonzerne, Bundesregierung und EU
freilich den Eindruck, als sei mit dem Kreml doch noch ein gangbarer Weg
ausgehandelt worden, der mit den EU-Sanktionsbeschlüssen zu vereinbaren
war (220501). Man wird deshalb solchen
intransparenten Verlautbarungen künftig noch mehr misstrauen müssen.
Die Gasflüsse auf Nord Stream 1 sind Anfang Juni stark zurückgegangen. Mitte Juni sind sie dann geradezu abgestürzt bis auf etwa 40 Prozent des früheren Niveaus. Auch über die Transgas-Pipeline, die durch die Ukraine, Slowakei und Tschechien nach Deutschland führt, kommt weniger als ein Drittel der früheren Mengen an. Wenn das so bleibt, ist nach Einschätzung der Bundesnetezagentur ein Speicherstand von 90 Prozent bis November kaum mehr ohne zusätzliche Maßnahmen erreichbar. Von der Reduktion sind auch andere europäische Länder wie Frankreich, Österreich und Tschechien betroffen. Quelle: Bundesnetzagentu
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Als Quittung für ihe Fügsamkeit bekamen die deutschen Großkunden wenige Tage später von Putin einen kräftigen Tritt in den Hintern, indem der Diktator den Gasfluss keineswegs im vertraglich vereinbarten Umfang aufrechterhielt, sondern ihn auf den beiden verbliebenen Leitungen um mehr als die Hälfte reduzierte. Als Begründung dienten angebliche technische Schwierigkeiten. Und zwar sei ein Gasverdichter, den Siemens zu Wartungsarbeiten nach Kanada geschickt habe, wegen der dort verhängten Sanktionen nicht rechtzeitig zurückgekommen. Siemens bestätigte, dass es einen solchen Gasverdichter und das Problem mit den kanadischen Sanktionen gab. Fachleute waren jedoch übereinstimmend der Meinung, dass die Gazprom hier nur wieder mal ein technisches Problem vorschützte, wie das schon bei der Nichtauffüllung der deutschen Gasspeicher im vorigen Jahr geschah. "Die Begründung der russischen Seite ist schlicht vorgeschoben", erklärte Bundeswirtschaftsminister Habeck am 15. Juni. "Es ist offenkundig die Strategie, zu verunsichern und die Preise hochzutreiben."
"Es ist sehr bequem, ein Unternehmen mit reinzuziehen, das in Russland bekannt ist", meinte dazu der Siemens-Aufsichtsratsvorsitzende Joe Kaeser gegenüber der "Süddeutschen Zeitung" (29.6.). "Selbst wenn es so wäre, würde das niemals rechtfertigen , den Gasfluss so stark zu drosseln. Da muss es einfach eine politische Motivation geben, das geht gar nicht anders."
Kurz nach der Rubel-Forderung eröffnete Putin das Katz-und-Maus-Spiel mit der Gazprom Germania und deren zahlreichen Töchtern, die am 4. April treuhänderisch der Bundesnetzagentur unterstellt werden mussten, weil der Kreml sie nur noch als Störpotential benutzen wollte (220403). Putin reagierte am 11. Mai mit einer speziellen Sanktionsliste, auf der insgesamt 31 Gazprom-Beteiligungen in Westeuropa standen, über die Gazprom inzwischen die Befehlsgewalt verloren hatte und mit denen deshalb ab sofort jeder Handel verboten wurde (220506). So konnte er das Störpotential, das ihm entwunden werden sollte, doch noch zu einem gewissen Grad nutzen. Vor allem wurden durch dieses Dekret sämtliche Gaslieferverträge der Handelstochter Wingas gegenstandslos. Sie müssen deshalb mit der Gazprom neu verhandelt werden aber zu deutlich höheren Preisen.
Die vorsätzliche Drosselung der Gasflüsse über die beiden Pipelines Nord Stream und Transgas bedeutet nun eine weitere Daumenschraube, die Putin nach Belieben anziehen oder lockern kann. Natürlich handelt es sich wieder um eine klare Vertragsverletzung. Die vorgeschützten technischen Probleme nimmt keiner ernst. Ab 11. Juni steht die jährliche Wartung der Ostsee-Pipeline an. Die damit verbundene Unterbrechung des Gasflusses wird Gazprom vermutlich möglichst lange ausdehnen, falls es überhaupt zur Wiederaufnahme der Belieferung kommt. Zumindest wird wochenlang nur noch die Transgas-Trasse zur Verfügung stehen. Aber auch auf der gibt es schon jetzt angeblich technische Probleme, die sich nach Belieben vergrößern lassen. Theoretisch stünde noch die durch Polen führende Jamal zur Verfügung. Diese wird aber von der Gazprom seit April überhaupt nicht mehr benutzt. Rückblickend drängt sich der Verdacht auf, dass damit bereits eine Kapazitätsverengung vorbereitet wurde, mit der Putin nun noch ein weiteres Mal Deutschland und die EU erpressen will, bevor er die Belieferung ganz einstellt.
Der deutlich geringere Gasverbrauch im
ersten Halbjahr 2022 ist inzwischen wahrscheinlich nicht mehr
nur auf die höheren Temperaturen gegenüber dem Vorjahr
zurückzuführen, sondern auch auf bewusst sparsameren Umgang
mit diesem fossilen Energieträger.
Quelle: Bundesnetzagentur
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Angesichts der Aggressivität, mit der Putin sein bald nicht mehr benötigtes Gas noch als Waffe zur Erzielung eines größtmöglichen Schadens in Westeuropa einsetzen will, kann man es der EU nicht verdenken, wenn sie ihre mittlerweile sechs Sanktionspakete voll ausschöpft. Litauen verweigert deshalb seit dem 17. Juni den Transport russischer Stahlerzeugnisse, die für die russische Enklave Kaliningrad bestimmt sind, da an diesem Tag die im vierten Sanktionspaket vom 15. März vorgesehene Übergangsfrist ablief. Diese Sanktionen untersagen nämlich nicht nur die Einfuhr einer Reihe von russischen Waren in die Länder der EU, sondern auch deren Transport über EU-Gebiet.
Das Gebiet um Kaliningrad (früher Königsberg) ist der nördliche Teil des ehemaligen Ostpreußen, den sich nach 1945 die Sowjetunion einverleibte. Da Stalin es damals der russischen Sowjetrepublik zuschlug, ist es heute eine russische Enklave, die auf der Landseite von den beiden EU-Staaten Polen und Litauen umgeben wird und nur über die Ostseeküste direkt erreichbar ist. Im Laufe des kommenden Halbjahres werden unter anderem auch Zement, Alkohol , Kohle sowie Rohöl und Ölprodukte unter das Transportverbot fallen. Nicht betroffen sind fast alle anderen Waren sowie der Personenverkehr, sofern die Reisenden nicht als spezielle Putin-Freunde oder aus einem anderen Grund auf der Sanktionsliste stehen. Aber auch die gesperrten Güter kann Russland weiterhin per Schiff direkt in die Enklave verfrachten – einschließlich der Atomraketen, von denen dort schon etliche stationiert sind.
Trotzdem reagierte die Moskauer Propaganda geradezu hysterisch und tat
so, als ob eine Art Aushungerungsblockade gegen die Enklave beginne, wie
sie seinerzeit die Sowjets über Westberlin verhängten, das deshalb
monatelang über eine Luftbrücke mit Lebensmitteln versorgt werden musste.
Das Außenministerium entblödete sich nicht, von einer 'Verletzung
völkerrechtlicher Vorschriften" zu sprechen. Gemeint war damit die
großzügige Transitregelung, die vor zwanzig Jahren vereinbart wurde, und
der Putin nun selber die Grundlage entzogen hat. Die litauische
Ministerpräsidentin Ingrida Symonite stellte demgegenüber klar, das
keinesfalls von einer Blockade gesprochen werden könne. Außerdem fand sie
es bemerkenswert, dass Litauen von einem Staat der Vertragsverletzung
bezichtigt werde, "von dem ich nicht weiß, welchen internationalen Vertrag
er noch nicht verletzt hat".