September 2012

120901

ENERGIE-CHRONIK


Rußland beliefert deutsche Kernkraftwerke mit militärischem Uran

Die Betreiber der deutschen Kernkraftwerke verwenden seit zwölf Jahren in erheblichem Umfang Brennelemente, die militärisches Uran aus russischen Beständen enthalten. Auf diesen Sachverhalt machte am 15. September die "Süddeutsche Zeitung" aufmerksam. Unter der Überschrift "Das Bombengeschäft" berichtete das Blatt aus vertraulichen Papieren der Energie Baden-Württemberg (EnBW), die anscheinend im Zusammenhang mit der Rußland-Affäre des Unternehmens (120908) publik wurden. Demnach vereinbarten die deutschen KKW-Betreiber die Nutzung militärischen Urans aus Rußland nicht nur deshalb, weil die so gefertigten Brennelemente billiger waren; sie wollten auch ihre Reaktoren als Instrumente der Abrüstung darstellen und auf diese Weise politischen Druck erzeugen, um die im Juni 2000 vereinbarten Restlaufzeiten für die deutschen Kernkraftwerke (000601) nachträglich doch noch verlängern zu können.

Der Artikel erregte erhebliches Aufsehen. Von anderen Medien wurde er teilweise so verstanden und wiedergegeben, als ob in deutschen Kernkraftwerken "Strom aus russischen Atombomben" produziert würde. Der Begriff militärisches Uran bezieht sich in diesem Fall aber nicht auf das hoch angereicherte Uran (HEU) aus russischen Atombomben, das aufgrund des 1993 unterzeichneten "HEU Purchase Agreement" exklusiv an die USA geliefert und dort zu Brennelementen für Kernkraftwerke verarbeitet wird. Vielmehr geht es um das militärische Uran für Antriebsreaktoren, das bei der Verschrottung russischer Atom-U-Boote anfällt. Die damit hergestellten Brennelemente wurden und werden in diversen westeuropäischen Reaktoren verwendet. Neben deutschen Kernkraftwerken wie Neckarwestheim, Brokdorf, Unterweser und Gundremmingen gehören dazu die schweizerischen Reaktoren Gösgen und Beznau.

Mox-Elemente mit russischem Plutonium sollten als Hebel zur Laufzeiten-Verlängerung dienen

Dem SZ-Bericht zufolge liebäugelten deutsche Atommanager vorübergehend auch mit der Idee, Plutonium aus militärischen Beständen der ehemaligen Sowjetunion zur Herstellung sogenannter Mischoxid-Brennelemente zu verwenden. Die rot-grüne Bundesregierung sei für dieses Thema grundsätzlich offen, hieß es in einem internen EnBW-Papier aus dem Jahr 2001, das der Vorbereitung eines Treffens zwischen EnBW-Chef Gerhard Goll und Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) diente. "Überraschenderweise gibt es bei den Grünen dank guten Lobbyings durch die richtigen Leute eine vergleichsweise hohe Akzeptanz", schrieb damals der Chef der EnBW-Kraftwerke AG, Michael Gaßner, an Goll. Die Verstromung russischen Plutoniums mit Mischoxid-Brennelementen eröffne nebenbei die Möglichkeit, den soeben vereinbarten Ausstieg aus der Atomenergie wieder in Frage zu stellen: "Die Bundesregierung weiß allerdings nicht, daß die Zeiträume, die benötigt werden, um all das russische Plutonium zu verbrennen, doch deutlich länger sind, als die 'Restlaufzeiten' des Energiekonsenses, sodaß hieraus der Druck auf eine Verlängerung der Laufzeiten entstehen wird."

Verwendung von Waffen-Uran wäre zwar möglich, ist aber wenig wahrscheinlich

Dem SZ-Bericht zufolge wurden in den vergangenen zehn Jahren insgesamt mehr als tausend Brennelemente mit militärischem Uran aus Rußland bestückt. Bei weiteren 500 gelte dies als sehr wahrscheinlich. Der Einsatz weiterer 180 Elemente sei geplant. Der RWE-Konzern teilte auf Anfrage des Blattes mit, er habe insgesamt 856 solcher Brennelemente verwendet. Der scheidende EnBW-Chef Hans-Peter Villis bestätigte gegenüber DPA (21.9.) ebenfalls die Verwendung von Brennelementen, die mit Uran aus russischen Militärbeständen angereichert wurden. Den vertraglichen Vereinbarungen mit den russischen Lieferanten sei nicht zu entnehmen, woher das Uran genau stamme, räumte er ein. Es handele sich aber keinesfalls um Waffen-Uran, sondern um höher angereichertes Uran für militärische Zwecke, wie es für die Reaktoren der russischen Atom-U-Boote hergestellt wurde.

Tatsächlich gibt es bisher keine Anhaltspunkte dafür, daß hoch angereichertes Uran aus russischen Atombomben (HEU) in westeuropäischen Kernkraftwerken eingesetzt wurde. Das ist im Rahmen der Abrüstungsvereinbarungen auch gar nicht vorgesehen. Vielmehr hat man das mittel angereicherte Uran (MEU) für den Antrieb der russischen Atom-U-Boote mit schwach angereichertem Uran aus der Wiederaufarbeitung in La Hague und Sellafield vermischt. Dadurch entsteht ein Gemisch aus niedrig angereichertem Uran (LEU), das als Kernbrennstoff für zivile Leichtwasserreaktoren geeignet ist. Prinzipiell lassen sich KKW-taugliche Brennelemente allerdings auch mit Waffen-Uran herstellen, wie das Beispiel der USA zeigt, die einen großen Teil ihres Atomstroms auf diese Weise erzeugen. Außerdem soll bereits die Clinton-Regierung den Russen zugestanden haben, zur Belieferung ihrer westeuropäischen Brennelemente-Kunden notfalls auch auf das Waffen-Uran aus dem HEU Purchase Agreement zurückgreifen zu dürfen.

Abrüstungsvereinbarungen eröffneten der Atomindustrie neue Geschäftsmöglichkeiten

Der Begriff "militärisches Uran" umfaßt somit zwar auch Waffen-Uran, ist aber nicht deckungsgleich. Zur Verwechslung beider Begriffe im Sinne eines vermeintlichen Synonyms hat die Atomlobby beigetragen, indem sie zeitweilig ganz allgemein die Beseitigung militärischen Urans in Atomkraftwerken als Königsweg zur nuklearen Abrüstung darzustellen versuchte. In Wirklichkeit ging es der Atomindustrie vor allem um wirtschaftliche Vorteile bei der Herstellung von Brennelementen. Schon 1997 bemühten sich deshalb die französische Cogema und die RWE-Tochter Nukem um den Ankauf von russischem Uran, das bei Abrüstungsmaßnahmen anfallen würde (970813).

Im Juni 2002 einigten sich dann Rußland und die westlichen Industriestaaten auf dem G-8-Gipfel im kanadischen Kananaskis auf ein groß angelegtes Abrüstungsprogramm. Damit sollten terroristische Zugriffe auf Nuklearmaterial (920308, 940811, 950714) und die weitere Verbreitung atomarer Massenvernichtungswaffen verhindert werden. Auf der Grundlage dieser Beschlüsse übernahm das Bundeswirtschaftsministerium ab 2003 die Realisierung eines Großprojektes zur Atom-U-Boot-Entsorgung im Nordwesten Rußlands. Das Auswärtige Amt koordinierte Projekte zur Chemiewaffenvernichtung und zum physischen Schutz von Nuklearmaterialien. Den beiden Ministerien standen dafür jeweils 600 Millionen Euro zur Verfügung. Vor einem Jahr wurde in der Saida-Bucht bei Murmansk ein mit deutscher Hilfe gebautes Zwischenlager für Atom-Müll aus stillgelegten U-Booten der russischen Nordmeerflotte in Betrieb genommen. Das Bundeswirtschaftsministerium teilte aus diesem Anlaß mit, daß Rußland nach eigenen Angaben bereits rund 200 von ehemals insgesamt 250 Atom-U-Booten außer Dienst gestellt habe.

KKW-Betreiber beließen es bei zwei Pressemitteilungen im Frühjahr 2000 – der Rest war Schweigen

Die Verwendung des auf diese Weise nutzlos gewordenen Reaktor-Urans der russischen Atom-U-Boote als Kernbrennstoff für zivile Atomkraftwerke war an sich kein Geheimnis. Sie wurde aber die meiste Zeit tunlichst verschwiegen. Die KKW-Betreiber berichteten darüber lediglich einmal im Frühjahr 2000, als sie mit der rot-grünen Bundesregierung über die Modalitäten des Atomausstiegs verhandelten. In zwei Pressemitteilungen des "Deutschen Atomforums" wurde damals die geplante Verwendung militärischen Urans aus russischen Beständen als "bedeutsamer friedenssichernder Beitrag zur Abrüstung" gefeiert. Anscheinend wollten die KKW-Betreiber damit ihre Reaktoren als unverzichtbare Instrumente der Abrüstung darstellen, um bei den damals noch andauernden Verhandlungen über die Restlaufzeiten punkten zu können.

"Das technisch-wirtschaftliche Konzept dieser Kooperation ist für die deutsche wie für die russische Seite attraktiv", hieß es in der Pressemitteilung des Atomforums vom 6. Mai 2000. Die Wiederanreicherung des bei der Wiederaufarbeitung anfallenden Urans durch Vermischen mit höher angereichertem Uran aus militärischen Beständen sei wirtschaftlich vorteilhafter als die konventionelle Anreicherung in einer Anreicherungsanlage. Den deutschen Kernkraftwerksbetreibern eröffne sich so "eine wirtschaftlich tragfähige Möglichkeit zur Verwendung des bei der Wiederaufarbeitung von Brennelementen zurückgewonnenen Urans". Zudem sei das Konzept auch unter Abrüstungsgesichtspunkten vorteilhaft. Mit der Nutzung von Uran aus russischen militärischen Beständen für die Energieerzeugung werde dieses Material dem militärischen Potential entzogen. So werde "gleichzeitig ein auch von der deutschen Bundesregierung gewünschter friedenssichernder Beitrag zur Abrüstung geleistet".

Laut einer vorangegangenen Pressemitteilung des Atomforums vom 2. März 2000 fanden erste Tests bereits 1995 im EnBW-Kernkraftwerk Obrigheim sowie im Schweizer Reaktor Gösgen statt. Der E.ON-Vorläufer PreussenElektra habe die Verwendung solcher Brennelemente schon 1998 beantragt und ab Herbst 2000 in den Kernkraftwerken Brokdorf und Unterweser praktiziert. Hergestellt würden die Brennstäbe von der russischen Firma MSZ in Kooperation mit Siemens (später Framatome bzw. Areva NP), wobei man das Uran, das im Rahmen der Wiederaufarbeitung bei der französischen Cogema anfalle, mit höher angereichertem Uran aus russischen Militärbeständen vermische (000328).

Hat das Atomforum sich selber zensiert?

Nach der Einigung über die Eckpunkte des Atomausstiegs gab es zu diesem Thema keinerlei Mitteilungen mehr. Sogar die hier zitierten beiden Pressemitteilungen scheinen nachträglich von der Internet-Seite des "Deutschen Atomforums" entfernt worden zu sein. Das änderte sich erst, als die "Süddeutsche" recherchierte. Um den Vorwurf der Geheimniskrämerei zu entkräften, berief sich das Atomforum auf seine Pressemitteilung vom 6. Mai 2000. Es konnte aber den Originaltext angeblich auf die Schnelle nicht finden und zur Verfügung stellen. Die SZ monierte daraufhin in ihrem Artikel, daß der Text nicht einmal im Internet-Archiv des Atomforums zu finden sei, das sonst alle Veröffentlichungen seit Beginn des Jahres 2000 enthält. Kurz darauf fand sich beim Atomforum die Original-Pressemitteilung doch noch, und auch auf der Internetseite des Lobby-Vereins war der Text plötzlich wieder verfügbar...

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