Udo Leuschner / Geschichte der FDP (71)

17. Bundestag 2009 - 2013


Brüderle statt Rösler

Acht Monate vor der Bundestagswahl wird der Fraktionsvorsitzende neuer Spitzenkandidat

Zu Beginn des Jahres 2013 erreichte die FDP im "Politbarometer", das die Forschungsgruppe Wahlen regelmäßig für das ZDF-Fernsehen ermittelte, vier Prozent der Stimmen. Erst im Sommer verbesserte sie sich auf fünf und im Herbst auf sechs Prozent. Man darf solche Meinungsumfragen freilich nicht auf die Goldwaage legen. Sie kommen auf sehr schmaler und fragwürdiger Grundlage zustande. Außerdem werden die Ergebnisse vor der Veröffentlichung nach jeweiligem Gusto korrigiert. So erklären sich auch die teilweise erheblichen Unterschiede zwischen einzelnen Umfrage-Instituten. Beispielsweise ermittelte Infratest Anfang Januar 2012 ein Absinken der FDP auf zwei Prozent, während diese im "Politbarometer" weiterhin doppelt so gut abschnitt.

Im großen und ganzen läßt sich jedoch sagen, daß die FDP schon ein gutes halbes Jahr nach dem größten Wahlsieg ihrer Geschichte um den Wiedereinzug in den Bundestag bangen mußte. Sie kam seitdem bei der "Sonntagsfrage" allenfalls noch auf sechs Prozent. Daran änderte auch die Landtagswahl in Niedersachsen am 20. Januar 2013 nichts, bei der sie sich von 8,2 auf 9,9 Prozent verbessern konnte.

Das gute Ergebnis in Niedersachsen (siehe 69) stärkte immerhin die Stellung des Parteivorsitzenden, über dessen Ablösung bereits gemunkelt worden war, falls die FDP auch in Hannover aus dem Landtag fliegen sollte. Es war ein persönlicher Erfolg Röslers, der in Niedersachsen Landesvorsitzender, Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident gewesen war, bevor er in Berlin die Parteiführung übernahm. Zudem hatte sich Rösler stark im niedersächsischen Wahlkampf engagiert.

Frondeure sehen die FDP "noch nicht gut genug aufgestellt"

Bis dahin war Rösler ein Parteivorsitzender auf Abruf gewesen, der deutlich hören konnte, wie rings um ihn schon die Messer gewetzt wurden. Daß noch keiner aus der Kulisse trat, um das traurige Werk zu vollenden, lag eigentlich nur an den unmittelbar bevorstehenden Bundestagswahlen. Nur allzu gern überließ man dem "amtierenden Parteivorsitzenden", wie sich der Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle in einem Fernsehinterview ausgedrückt hatte, die undankbare Aufgabe, ein schlechtes Wahlergebnis einzufahren. Für Ablösung und Schuldzuweisung war dann immer noch Zeit.

Als Zwischenlösung planten die Frondeure, den Parteivorsitzenden nicht mehr als Spitzenkandidaten antreten zu lassen, sondern durch den Fraktionsvorsitzenden Brüderle zu ersetzen. Vor diesem Hintergrund ließ Brüderle schon Ende 2012 öffentlich wissen, daß er keine Ambitionen auf den Parteivorsitz habe und Rösler unabhängig vom Ausgang der Niedersachsen-Wahl weiter unterstützen werde. Zur selben Zeit sprach das Präsidiumsmitglied Dirk Niebel davon, daß der Parteivorsitzende nicht unbedingt auch der Spitzenkandidat zur Bundestagswahl sein müsse. Auf dem Dreikönigstreffen am 6. Januar 2013 wurde Niebel noch deutlicher und kritisierte, daß "wir als Team noch nicht gut genug aufgestellt sind". So wie jetzt könne es mit der FDP nicht weitergehen: "Es zerreißt mich innerlich, wenn ich den Zustand meiner Partei sehe." Obwohl Niebel den Parteivorsitzenden nicht direkt angriff, wurde dies allgemein als scharfe Kritik an Rösler verstanden.

Rösler geht in die Offensive und bietet Brüderle sogar den Parteivorsitz an

Rösler wußte, welche Rolle ihm zugedacht war. Am Tag nach dem Erfolg in Niedersachsen drehte er in einer Sitzung des Präsidiums kurzerhand den Spieß um: Er bot Brüderle an, Spitzenkandidat der Partei bei der Bundestagswahl zu werden. Zudem bot er ihm auch noch den Parteivorsitz an. Das erste Angebot nahm Brüderle an. Das zweite lehnte er ab. Er habe Rösler nicht ablösen wollen, versicherte er. Neben der Inthronisierung Brüderles als neuer Spitzenkandidat beschloß das Präsidium, die offenen Führungsfragen möglichst schnell auch offiziell zu klären, indem der 64. Bundesparteitag, der ursprünglich im Mai stattfinden sollte, um zwei Monate früher einberufen wurde. Damit entsprach man ebenfalls einem Wunsch des Parteivorsitzenden.

Relativ entspannt konnte Rösler am 27. Februar 2013 seinen 40. Geburtstag feiern (da das tatsächliche Datum seiner Geburt in Vietnam unbekannt ist, wurde es amtlich auf den 24. Februar 1973 festgelegt). Unter den mehr als tausend Gästen, die sich einem umgebauten Berliner Straßenbahndepot versammelten, befand sich auch die Bundeskanzlerin. "Angela ist eine der wenigen hier im Saal, die nicht Vorsitzende der FDP werden wollen", scherzte Rösler bei der Begrüßung der Gäste. Von Brüderle bekam er vierzig Flaschen Rotwein aus Rheinland-Pfalz geschenkt. "Das ist ein Stück Medizin und stärkt Dich zusätzlich", versicherte Brüderle treuherzig dem Geburtstagkind, das als Mediziner wie als Politiker die Liebesgabe sicher besser einzuschätzen wußte.

Vorgezogener Parteitag bestätigt den Vorsitzenden mit 85,7 Prozent

Auf dem vorgezogenen 64. Bundesparteitag, der am 9./10. März 2013 in Berlin über die Bühne ging, wurde Rösler dann mit 85,71 Prozent der Stimmen als Vorsitzender wiedergewählt. Das war deutlich weniger als die 95 Prozent, die er zwei Jahre zuvor auf dem Rostocker Parteitag erhalten hatte, aber "nach den Ereignissen in den letzten zwei Jahren ein sehr gutes Ergebnis", wie in einer Mitteilung des Landesverbandes Sachsen-Anhalt betont wurde. Außerdem übertraf er damit die Ergebnisse seiner drei Stellvertreter Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (83,7 Prozent), Christian Lindner (77,81 Prozent) und Holger Zastrow (49,69 Prozent). Von dem Hoffnungsträger Lindner hätte man eigentlich ein besseres Abschneiden erwartet. Dazu kam es wohl deshalb nicht, weil die Delegierten den amtierenden Parteivorsitzenden nicht unnötig desavouieren wollten. Bei der Wiederwahl des sächsischen Landesvorsitzenden Zastrow überraschte, daß er sich im zweiten Wahlgang knapp gegen die baden-württembergische Landeschefin Birgit Homburger durchsetzen konnte. Im Amt bestätigt wurden Generalsekretär Patrick Döring und Schatzmeister Otto Fricke. Dirk Niebel mußte seinen Sitz im Präsidium an den schleswig-holsteinischen Platzhirsch Wolfgang Kubicki abgeben. Anscheinend war das die Quittung dafür, daß er auf dem jüngsten Dreikönigstreffen allzu unverhüllt Kritik an Rösler geübt hatte.

Brüderle und Rösler giften vereint gegen Grüne und SPD

Zusätzlich fand am 4./5. Mai – das war der Termin, an dem ursprünglich der 64. Bundesparteitag stattfinden sollte – in Nürnberg ein außerordentlicher Bundesparteitag statt, der auf Wahlkampf und Außenwirkung abgestellt war. Brüderle und Rösler attackierten nun einträchtig die Grünen und die SPD. Beispielsweise dämonisierte Brüderle den Grünen-Politiker Jürgen Trittin wegen seiner Steuerpläne zum "Graf Dracula des deutschen Mittelstandes" und beschimpfte den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück als "sozialistischen Zauberlehrling". Rösler erkannte in den Grünen den "parteigewordenen Tugendwahn" und warf der SPD vor, einen "kapitalen Raubzug durch die Mitte unserer Gesellschaft" zu planen. Auch die Union bekam ein paar Fettspritzer ab: Sie sei "noch immer auf dem Trip zum christlichen Sozialismus", befand Brüderle. Der saarländischen CDU-Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer warf der Spitzenkandidat der FDP "schwarz lackierten Sozialismus" vor, weil sie für die Wiederanhebung des Spitzensteuersatzes auf den alten Stand von 53 Prozent plädiert hatte.

Der Spitzenkandidat wird virtuell wieder zum Wirtschaftsminister

Auch auf ihren Plakaten zog die Partei nun vor allem mit Brüderle in den Wahlkampf. Unter dem bieder-jovialen Gesicht des Fraktionsvorsitzenden standen Parolen wie "Gut gemacht: Stabiles Geld, starkes Deutschland". Anscheinend wollte man die eineinhalb Jahre, in denen Brüderle Wirtschaftsminister war, als glorreiche Zeit erscheinen lassen – obwohl seit Mai 2011 Rösler der Wirtschaftsminister war und länger amtierte als Brüderle. Mit dem Wechsel sollte damals der Nimbus des Amtes auf den Parteivorsitzenden übertragen werden. Daß dies dann doch nicht so recht klappte, hatte wenig mit der Amtsführung zu tun, die weder bei Brüderle noch bei Rösler ein Ruhmesblatt war. Es lag eher daran, daß Rösler aus genetischen Gründen weniger wie ein wiedergeborener Ludwig Erhard aussah. Der hessische FDP-Chef Jörg Uwe Hahn sprach die diesbezüglichen Probleme der Werbestrategen offen an, als er Anfang Februar 2013 in einem Interview mit der "Frankfurter Neuen Presse" meinte: "Bei Philipp Rösler würde ich allerdings gerne wissen, ob unsere Gesellschaft schon so weit ist, einen asiatisch aussehenden Vizekanzler auch noch länger zu akzeptieren." Hahns beiläufige Bemerkung löste eine Welle der Empörung aus, obwohl sie gewiß nicht rassistisch gemeint war und er an anderer Stelle des Interviews durchaus seine Wertschätzung für Rösler zum Ausdruck gebracht hatte, der als vietnamesisches Waisenkind von deutschen Eltern adoptiert worden war.

Brüderle schaut zu tief in ein Dirndl

Brüderle bekam die Keule der "political correctness" ebenfalls zu spüren, nachdem er zum neuen Spitzenkandidaten der FDP ausgerufen worden war: Eine Redakteurin des Magazins "stern" erinnerte sich plötzlich, wie er sie nicht als journalistische Fragestellerin, sondern als weibliches Lustobjekt wahrgenommen habe. Die Begegnung, die am Abend vor dem Stuttgarter Dreikönigstreffen an der Bar eines Hotels stattfand, war schon gut ein Jahr her. Brüderle habe mit Blick auf ihren Busen gemeint: "Sie können ein Dirndl auch ausfüllen." Im Laufe des Gesprächs habe er nach ihrer Hand gegriffen, diese geküßt und in altmodischer Weise Süßholz geraspelt. "Ich möchte, daß Sie meine Tanzkarte annehmen." Sie habe ihn vergebens ermahnt: "Herr Brüderle, Sie sind Politiker, ich bin Journalistin." Worauf er – wieder ganz Charmeur der alten Schule – entgegnet habe: "Politiker verfallen doch alle Journalistinnen".

Man kann sich gut vorstellen, daß die Begegnung an der Hotelbar tatsächlich so stattgefunden hat, zumal der FDP-Fraktionschef anscheinend schon einigen Wein intus hatte. Am Ende des Abends soll er so beschwipst gewesen sein, daß er bei der Verabschiedung mit seinem Gesicht dem ihrigen "sehr nah" gekommen sei. Zum Schlimmsten, nämlich einem Kuß, kam es aber offenbar nicht. Dem Bericht zufolge eilte nun eine FDP-Sprecherin herbei. "Herr Brüderle!" habe diese streng gerufen, "Zeit fürs Bett", und den Parteifreund aus der Bar hinausgeführt.

Brüderle soll durch den "stern"-Artikel, der am 24. Januar erschien, persönlich schwer getroffen worden sein. Für sich genommen hätte der Vorwurf "sexistischen" Verhaltens so ridikül gewirkt wie er war, wenn man nicht gerade zu den enragierten Leserinnen von "Emma" gehörte. Er wurde aber geschickt als Aufhänger genutzt, um die ganze politische Richtung, die der Spitzenkandidat repräsentierte, als genauso vorgestrig erscheinen zu lassen wie sein Balzgehabe gegenüber einer Journalistin, die gerade geboren wurde, als er bereits Landesvorsitzender der FDP in Rheinland-Pfalz war. Und da berührte das Pamphlet tatsächlich einen wunden Punkt: Was Politiker wie Brüderle unter Liberalismus verstanden, war ein mit Freiheitsphrasen garnierter Manchester-Kapitalismus aus dem vorvergangenen Jahrhundert.

Die Euro-Rebellen sammeln sich jetzt außerhalb der FDP und gründen die AfD

Unter den wiedergeborenen Manchester-Liberalen gab es freilich solche und solche, wie der Aufstand der "Euro-Rebellen" gezeigt hatte (siehe 67). Der vom Abgeordneten Frank Schäffler betriebene Migliederentscheid war in der geplanten Form nicht zustandegekommen. Dennoch hatte er inner- wie außerhalb der Partei seine Spuren hinterlassen. Der Pyrrhussieg der Parteiführung bewirkte lediglich, daß die FDP für Euro- und Europa-Skeptiker nicht mehr attraktiv war. Zum Beispiel hatte sich der frühere BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel – der nie Mitglied der Partei, aber einer ihrer einflußreichsten Unterstützer war – nun enttäuscht von der FDP abgewandt. Wie Schäffler gehörte Henkel zu jenen Hayek-Jüngern, die den Propheten des Neoliberalismus etwas anders auslegten als es die Mehrheit tat. Hauptkonfliktpunkt war dabei die Haltung zur Europäischen Union und zur Gemeinschaftswährung Euro.

Henkel und ähnliche Vertreter eines besonders bornierten Neoliberalismus gehörten nun zu den Mentoren der "Alternative für Deutschland (AfD)", die am 6. Februar 2013 gegründet wurde und am 14. April ihren ersten Parteitag abhielt. Im Mittelpunkt des dabei beschlossenen Wahlprogramms stand die Währungs- und Europolitik. Die AfD forderte "eine geordnete Auflösung des Euro-Währungsgebietes“ mit der Wiedereinführung nationaler Währungen oder der "Schaffung kleinerer und stabilerer Währungsverbünde“. Gesetzgebungskompetenzen sollten von der EU zurück zu den nationalen Parlamenten verlagert werden. Hinzu kam eine ganze Reihe anderer Punkte zur Sozial-, Gesundheits-, Familien-, Bildungs- oder Einwanderungspolitik, die so formuliert waren, daß sie auf eine hohe Bandbreite an Zustimmung hoffen konnten. Zum Beispiel wurde eine "Neuordnung des Einwanderungsrechts" verlangt, welche die "Zuwanderung in die Sozialsysteme“ unterbindet.

Döring versucht, die AfD in die neonazistische Ecke zu rücken

Die neue AfD erinnerte ein bißchen an den "Bund freier Bürger", mit dem vor zwanzig Jahren der ehemalige bayerische FDP-Vorsitzende Guido Brunner gegen den Vertrag von Maastricht zu Felde gezogen war (siehe 29). In einem Interview mit dem "Handelsblatt" (15. 5.) gab der Parteisprecher Bernd Lucke offen zu, daß ihm auch Wähler von ganz rechts willkommen seien: "Ohne uns gäbe es die Gefahr, daß enttäuschte Wähler, die eigentlich gar nicht rechts sind, aus Protest extremistische Parteien wählen.“ Ehemalige Mitglieder der neonazistischen Parteien NPD und DVU würden aber nicht als Mitglieder akzeptiert. Bei ehemaligen Mitgliedern der "Republikaner" werde der Beitritt von einem „persönlichen Gespräch“ abhängig gemacht.

Es spricht für die Hilflosigkeit der FDP angesichts der neuen Konkurrenz, daß ihr Generalsekretär Patrick Döring nun aufgrund dieser Äußerung die AfD in die neonazistische Ecke zu rücken versuchte und folgende Stellungnahme verbreiten ließ: "Die AfD zeigt ihr wahres Gesicht: Nazis und Verfassungsfeinde sind Freunde der AfD. Ganz professoral schreckt Lucke nicht davor zurück, um nationalistische Kräfte zu werben. Die AfD hat keine Alternativen, Deutschlands politischen und wirtschaftlichen Interessen in Europa zu vertreten. Nationale Isolation ist wirtschaftlich eine Verarmungsstrategie und politisch das Ende Europas in Frieden und Freiheit."

Döring merkte dann schnell, daß ihm niemand beipflichten wollte. Die FDP trat sich nur selber vors Schienbein, wenn sie in so unbedarfter Weise gegen eine Konkurrentin wütete, die ihr selber sicherlich weit näher stand als der NPD oder den "Republikanern".

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