Udo Leuschner / Geschichte der FDP (72) |
17. Bundestag 2009 - 2013 |
Am 22. September 2013 stand schon kurz nach Schließung der Wahllokale fest, daß die FDP nicht mehr in den Bundestag gelangen würde. Sie war von 14,6 auf nur noch 4,8 Prozent der Stimmen abgestürzt. Die Unionsparteien legten dagegen deutlich dazu, was sie im wesentlichen den Verlusten der FDP zu verdanken hatten. Und auch die SPD konnte sich zu Lasten von Grünen, FDP und Linken verbessern. Hier in absteigender Reihenfolge die Ergebnisse jener sieben Parteien, welche die höchsten Stimmenanteile auf sich vereinen konnten:
Bundestagswahl 2013 |
Bundestagswahl 2009 |
|
CDU | 34,1 |
27,3 |
SPD | 25,7 |
23,0 |
Die Linke | 8,6 |
11,9 |
Grüne | 8,4 |
10,7 |
CSU | 7,4 |
6,5 |
FDP | 4,8 |
14,6 |
AfD | 4,7 |
- |
Die neue "Alternative für Deutschland (AfD)" erzielte also auf
Anhieb fast dasselbe Ergebnis wie die FDP, scheiterte aber wie diese an der
Fünf-Prozent-Hürde. Eine von Infratest Dimap erstellte Analyse der
Wählerwanderung läßt vermuten, daß die FDP wieder in den
Bundestag gelangt wäre, wenn ihr die AfD nicht rund ein Prozent der Stimmen
abspenstig gemacht hätte. Im Vergleich mit den 2,2 Millionen Wählern,
welche die FDP gleichzeitig an die Unionsparteien verlor – besser gesagt:
wieder zurückgeben mußte – war die Abwanderung zur AfD sicher
zweitrangig. Und auch der Verlust von 530.000 Wählern an die SPD wog schwerer.
Trotzdem dürften die 430.000 früheren FDP-Anhänger, die nun der
AfD zugeströmt waren, der berühmte Tropfen gewesen sein, der das Faß
zum Überlaufen brachten. Sie bildeten jedenfalls das stärkste Kontingent
jener Wechselwähler, von denen die AfD profitierte. Ohne diese Neugründung
wären sie vermutlich eher bei der FDP geblieben, da keine andere Partei
über jenes spezifisch gegen "Brüssel" und die Gemeinschaftswährung
Euro gerichtete Programm verfügte, mit dem die AfD auf Stimmenfang ging.
Insgesamt fehlten der FDP nur etwa 90.000 Stimmen für den Wiedereinzug
in den Bundestag.
Es war zu erwarten gewesen, daß die AfD vor allem von früheren FDP-Anhängern gewählt werden würde. Nicht aber, daß das zweitstärkste Kontingent der zur AfD gestoßenen Wechselwähler 340.000 frühere Anhänger der Linken waren. Besonders in Ostdeutschland konnte dies beobachtet werden. Erst dann folgten 290.000 ehemalige Wähler der Unionsparteien und 180.000 Ex-Wähler der SPD. Die neue Partei hatte demnach sowohl auf der rechten wie der linken Seite des Parteienspektrums erfolgreich nach Wählern gefischt. Und das hatte offenbar wiederum damit zu tun, daß sie parteiübergreifend ein verbreitetes Unbehagen an jener Variante neoliberaler Politik ansprach, wie sie in Brüssel praktiziert wurde und vor allem durch die Banken- und Euro-Krise diskreditiert worden war. So ergaben sich gemeinsame Schnittmengen über traditionelle politische Lager hinweg, wie bereits das Zweckbündnis zwischen dem Linksliberalen Burkhard Hirsch und dem Manchester-Liberalen Frank Schäffler bei der Ablehnung des ESM-Vertrags gezeigt hatte.
Eine weitere Hiobsbotschaft kam aus Hessen, wo gleichzeitig mit dem Bundestag der Landtag neu gewählt worden war: Hier hatte die FDP ihr vorheriges Ergebnis von 16,2 Prozent um mehr als zwei Drittel unterboten. Immerhin war sie mit 5,0 Prozent noch äußerst knapp ins Parlament gelangt, während die AfD mit 4,1 Prozent draußen blieb. Durch den Verlust von 13 Landtagsmandaten war aber eine Fortsetzung des schwarz-gelben Regierungsbündnisses nicht mehr möglich. Der Landesvorsitzende Jörg-Uwe Hahn bereute nun, daß er noch kurz vor der Wahl auf einen Parteitagsbeschluß gedrängt hatte, der die FDP auf eine weitere Koalition mit der CDU festlegte und alle anderen Optionen ausschloß. Die CDU war da wesentlich flexibler: Nach längeren Verhandlungen kam es im Januar 2014 zur ersten schwarz-grünen Koalition in Hessen.
Alles in allem erlebte die FDP am 22. September den schwärzesten Tag seit ihrer Gründung. Sortiert man die 16 Bundesländer nach der Bedeutung, die sie für die Partei als Stimmenbeschaffer bei der Bundestagswahl hatten, ergibt sich folgendes Bild:
Anzahl der Zweitstimmen |
Zweitstimmen in Prozent |
Prozent-Verluste gegenüber 2009 |
|
Nordrhein-Westfalen | 498027 |
5,2 |
- 9,6 |
Baden-Wôrttemberg | 348317 |
6,2 |
- 12,6 |
Bayern | 334158 |
5,1 |
- 9,6 |
Niedersachsen | 185647 |
4,2 |
- 9,1 |
Hessen | 175144 |
5,6 |
- 11,0 |
Rheinland-Pfalz | 122640 |
5,5 |
- 11,1 |
Schleswig-Holstein | 91714 |
5,6 |
- 10,6 |
Sachsen | 71259 |
3,1 |
- 10,2 |
Berlin | 63616 |
3,6 |
- 8,0 |
Hamburg | 42869 |
4,8 |
- 8,4 |
Brandenburg | 35365 |
2,5 |
- 6,8 |
Thôringen | 32101 |
2,6 |
- 7,2 |
Sachsen-Anhalt | 30998 |
2,6 |
- 7,7 |
Saarland | 21506 |
3,8 |
- 8,0 |
Mecklenburg-Vorpommern | 18968 |
2,2 |
- 7,6 |
Bremen | 11204 |
3,4 |
- 7,2 |
Kein einziger der 16 Landesverbände konnte sich somit von der katastrophalen Talfahrt abkoppeln. In Baden-Württemberg erzielte die FDP zwar mit 6,2 Prozent das relativ beste Ergebnis, erlitt aber zugleich die höchsten Verluste beim Vergleich mit der Bundestagswahl 2009. Mehr als fünf Prozent der Zweitstimmen erlangte sie sonst nur noch in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein.
Der Verlust der Regierungsbeteiligung wäre noch zu verschmerzen gewesen. In ihrer mittlerweile 65-jährigen Geschichte hatte die Partei das bundespolitische Geschehen bereits dreimal aus der Opposition verfolgen müssen, zuletzt sogar elf Jahre lang. Noch nie war sie aber aus dem Bundestag verbannt worden. Bei den 17 zurückliegenden Bundestagswahlen hatte sie im Durchschnitt 9,2 Prozent der Stimmen errungen. Das bisher schlechteste Wahlergebnis hatte 5,8 Prozent betragen. Das war 1969, als sie sich auf ein sozialliberales Bündnis mit der SPD orientierte, was ihr erst später mit bis zu 10,6 Prozent der Stimmen honoriert wurde.
Durch den Wegfall von 93 Bundestagsmandaten verlor die Partei die finanziellen Ressourcen, die es ihr bisher ermöglicht hatten, hunderte von Fraktionsmitarbeitern zu beschäftigen. Darüber hinaus wurde das Geld auch auf der unteren Ebene knapper, da für viele FDP-Büros die Teilfinanzierung durch den jeweiligen Bundestagsabgeordneten entfiel. Die etwa vierzig hauptamtlichen MItarbeiter im Thomas-Dehler-Haus konnten nur einen Bruchteil der nicht mehr finanzierbaren Aufgaben übernehmen. Außerdem standen der Parteizentrale ebenfalls einschneidende Personalkürzungen bevor. Der bisherigen Finanzplanung war ein voraussichtliches Wahlergebnis von rund sieben Prozent zugrunde gelegt worden. Nun mußte neu gerechnet werden. Zuerst war von einer Stellenkürzung um ein Drittel die Rede, am Ende war es die Hälfte. Völlig ungewiß blieb auch, wieweit das Spendenaufkommen versiegen würde. Weshalb – zum Beispiel – sollte ein Großsponsor wie der Glücksspiel-Unternehmer Gauselmann weiterhin eine Partei unterstützen, die weder in der Regierung noch im Bundestag vertreten war?
Relativ glimpflich kam vorerst die Friedrich-Naumann-Stiftung davon, die wie die anderen parteinahen Stiftungen eine als "Bildungsarbeit" kostümierte Parteipropaganda und Auslandsarbeit betreibt. Ihr Etat belief sich 2013 auf 51 Millionen Euro, wovon allein 27 Millionen für "internationale Zusammenarbeit" ausgegeben wurden. Der größte Teil dieses Geldes – knapp 46 Millionen Euro – stammte aus Steuergeldern. Viel weniger würden es auch in den kommenden vier Jahren nicht sein: Nach dem Reglement, das sich die Bundestagsparteien selber gewährt haben, wird die staatliche Zuwendung für mindestens eine Wahlperiode auch dann gezahlt, wenn die Mutterpartei der Stiftung nicht mehr im Parlament vertreten ist. Die Höhe bemißt sich nach den letzten vier Wahlergebnissen. In der Existenz bedroht wäre die Naumann-Stiftung also erst, wenn die FDP auch 2017 nicht wieder in den Bundestag gelangen würde.
Völlig ungeschmälert blieben dagegen die Einkünfte jener Parteifreunde, die unter der schwarz-gelben Koalition zu Ämtern und Stellen gelangt waren, die sie sonst nicht erhalten hätten. Vetterleswirtschaft und Ämterpatronage hatten in der FDP Tradition (siehe 47). Aber noch nie hatte es so viele Pfründen zu verteilen gegeben, wie nach dem überwältigenden Wahlsieg des Jahres 2009, als sofort eine neue Runde der Pöstchen-Verteilung begann (siehe 60). Vor allem dem Entwicklungsminister Niebel war immer wieder Nepotismus vorgewofen worden. Bereits Anfang 2010 befürchtete die SPD, daß Niebels Ressort "mehr und mehr zur Versorgungsanstalt für altgediente FDP-Funktionäre" werde. Im Juli 2012 beleuchtete der "Spiegel" die Praktiken, mit denen die beiden FDP-Minister Niebel und Westerwelle treue FDP-Funktionäre mit Auslandsposten versorgen würden und resümierte: "So sind diese für den Fall abgesichert, daß die FDP nach der Bundestagswahl im kommenden Jahr nicht mehr an der Regierung beteiligt ist."