Udo Leuschner / Geschichte der FDP (67)

17. Bundestag 2009 - 2013


Die Euro-Rebellen

Der Mitgliederentscheid zum ESM-Vertrag offenbart die innere Krise der Partei

Ab 2010 geriet die Gemeinschaftswährung der Europäischen Union in schwere Turbulenzen. Im Unterschied zur weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise, die bereits 2007 einsetzte und mit der sie eng zusammenhing, betraf diese Euro-Krise nur die 16 Staaten, die seit 2002 den Euro als offizielle Währung eingeführt hatten. Ihre Hauptursache war die Nichteinhaltung der "Konvergenzkriterien", wie sie 1992 im Vertrag von Maastricht festgelegt wurden, um eine gemeinsame europäische Währung zu schaffen und deren Stabiltiät zu gewährleisten. Nun stellte sich heraus, daß diese Kriterien in der Praxis mehr als nachlässig gehandhabt worden waren. So gehörte Griechenland von Anfang der Euro-Zone an, obwohl es die Erfüllung der Konvergenzkriterien nur vorgetäuscht hatte. Die vorgelegten Zahlen waren sogar so fadenscheinig gewesen, das sie einer halbwegs gründlichen Überprüfung nie hätten standhalten können. Die EU-Bürokratie hatte eine solche Überprüfung versäumt. Es gibt sogar den begründeten Verdacht, daß sie aus politischen Gründen beide Augen zudrückte.

Im Frühjahr 2010 konnte die griechische Regierung nicht länger verheimlichen, daß sie auf den Staatsbankrott zusteuerte. Besorgniserregend war auch die Lage in Portugal, Spanien, Irland und Italien, wo die allgemeine Wirtschafts- und Finanzkrise die Staatshaushalte derart zerrüttet hatte, daß die Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrags nicht mehr erfüllt werden konnten. Bis zur Einführung des Euro waren derartige Ungleichheiten der Wirtschaftsentwicklung und Staatsverschuldung durch Veränderung des Austauschverhältnisses der einzelnen nationalen Währungen gelöst worden. Zum Beispiel waren die italienische Lira oder der französische Franc im Verhältnis zur Deutschen Mark jahrzehntelang abgewertet worden. Seit Einführung der Gemeinschaftswährung bestand dieser Regelmechanismus nur noch gegenüber solchen EU-Staaten, die nicht der Euro-Zone angehörten. Etwa gegenüber Großbritannien oder Schweden. Es bedurfte also anderer Wege, um die aus den Fugen geratenen Staatshaushalte zu retten.

EU spannt "Rettungsschirme" auf, die es eigentlich nicht geben dürfte

So kam es zu bisher unvorstellbaren Milliarden-Hilfen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten für Griechenland und andere schwächelnde Mitglieder der Euro-Zone. Der Vertrag von Maastricht sah einen derartigen Beistand nicht vor. Die Verpflichtung zum wechselseitigen Einstehen für die Schulden von Mitgliedsstaaten war sogar ausdrücklich sogar ausgeschlossen worden. Aber man wollte um jeden Preis die teilweise Rückgängigmachung des Währungsverbunds vermeiden.

Erste, noch provisorische Maßnahmen waren der Europäische Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) und die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Ende 2010 beschlossen die EU-Staaten dann die Einführung eines weitergehenden Rettungsschirms, der als internationale Finanzinstitution mit Sitz in Luxemburg die Vorgänger ablösen und auf Dauer angelegt sein sollte. Dieser Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM) sollte über ein Stammkapital von 700 Milliarden Euro verfügen, wobei Deutschland mit 190 Milliarden den größten Beitrag leisten und somit auch die größten Ausfallrisiken übernehmen würde. Seine Gründung sollte in Form eines völkerrechtlichen Vertrags zwischen den Regierungen erfolgen, der nach der Ratifizierung durch die nationalen Parlamente in Kraft treten würde.

Der Abgeordnete Frank Schäffler führt die Rebellen an

Vor diesem Hintergrund entstand in der FDP eine heftige Auseinandersetzung um die Zustimmung zum ESM-Vertrag. Schon im Mai 2010, als der Bundestag über den deutschen Beitrag zur Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) abstimmte, hatten die beiden FDP-Abgeordneten Frank Schäffler und Lutz Knopek den Gesetzentwurf der eigenen Regierung abgelehnt. Schäffler beließ es nicht dabei, sondern betrieb nun die Herbeiführung eines Mitgliederentscheids gegen den ESM-Vertrag. Wenn sich mindestens ein Drittel aller Parteimitglieder beteiligt und mehrheitlich gegen die Ratifizierung des Vertrags ausgesprochen hätten, wäre dieses Votum für die Parteiführung so verbindlich wie ein Parteitagsbeschluß gewesen. Faktisch hätte es aber auch für die Bundestagsfraktion gegolten.

Böse Zungen behaupteten, Schäffler sei aus Frust zu einem rechthaberischen Abweichler geworden, nachdem es ihm nicht gelungen war, finanzpolitischer Sprecher der Fraktion zu werden oder einen anderen einflußreichen Posten zu erlangen. In der Tat huldigte der Rebell einem am Manchester-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts orientierten Marktradikalismus, der sogar innerhalb der FDP als borniert galt. Und selbst innerhalb der Hayek-Gesellschaft, der nur handverlesene neoliberale Ultras angehörten, galt Schäffler als "libertärer" Außenseiter.

Unterstützung durch den Linksliberalen Burkhard Hirsch

Ähnlich wie der rechtskonservative FDP-Dissident Guido Brunner, der 1993 gegen den Vertrag von Maastricht vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt hatte (siehe 29), rührte der Marktradikale Schäffler aber an ein echtes Problem. Und das verhalf ihm zur unerwarteten Unterstützung durch den Linksliberalen Burkhard Hirsch, den mit Schäffler sonst nichts verband als das Parteibuch. Aus der Sicht des einstigen Bundestags-Vizepräsidenten Hirsch verletzte der ESM-Vertrag die deutsche Verfassung, weil er ein unkontrolliertes Instrument der europäischen Regierungen sein würde und unkündbare Verpflichtungen enthielt, die mit der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Bundestags nicht zu vereinbaren waren. Abgesehen von diesen verfassungsrechtlichen Bedenken hielt Hirsch es für einen Geburtsfehler der Währungsunion, daß sie bewußt Staaten zusammenführte, die in ihrer Wirtschaftspolitik völlig unterschiedlich waren und es auch weiterhin blieben. So etwas könne einfach nicht funktionieren.

Es gab also ganz unterschiedliche Motivationen, um den ESM-Vertrag abzulehnen. Dies zeigte auch die Palette der Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht, die vom stellvertretenden CSU-Vorsitzenden Peter Gauweiler über den Verein "Mehr Demokratie" bis zur Bundestagsfraktion der Linken reichte. Die beiden FDP-Kritiker Schäffler und Hirsch klagten selber nicht. Sie unterstützten aber eine Verfassungsbeschwerde, die von der früheren SPD-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin und dem Rechtsprofessor Christoph Degenhard eingereicht wurde.

Gegen den Widerstand der Parteiführung wird das Quorum erreicht

Die Parteiführung hoffte zunächst, daß es den Euro-Rebellen nicht gelingen werde, die notwendige Anzahl von Unterschriften für einen Mitgliederentscheid einzusammeln. Der Antrag mußte von mindestens einem Fünftel der FDP-Mitglieder unterstützt werden. Bei 64.340 Mitgliedern waren das mindestens 3.217 Personen. Schäffler und seine Mitstreiter erfüllten jedoch wider Erwarten das Quorum. Am 10. Oktober 2011 konnten sie in der Berliner Parteizentrale sogar 3.517 gültige Unterschriften vorlegen. Eigentlich wollten sie diese Christian Lindner persönlich übergeben. Der Generalsekretär bestand aber darauf, die Zeremonie protokollarisch herabzustufen. An seiner Stelle nahm deshalb die Bundesgeschäftsführerin Gabriele Renatus die Unterschriften entgegen. Zu den Erstunterzeichnern gehörten neben Schäffler und Hirsch die Bundestagsabgeordneten Nicole Bracht-Bendt und Lutz Knopek sowie der Europa-Abgeordnete Holger Krahmer.

Die Parteioberen leiteten nun wohl oder übel die notwendigen Schritte ein, machten aber aus ihrer Ablehnung des Mitgliederentscheids weiterhin keinen Hehl. Außenminister Guido Westerwelle hielt es bereits für ein triftiges Argument, daß sich das politische Establishment klar für den ESM-Vertrag entschieden habe: "Auch die größten Skeptiker sollten ins Grübeln geraten, wenn alle führenden Kräfte der Republik, alle führenden Kräfte in Europa und nahezu alle führenden Kräfte in der Welt der Überzeugung sind, daß es richtig ist, diesen Weg zur Rettung des Euro zu gehen." Die früheren Parteichefs Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel riefen die Funktionäre der Partei dazu auf, sich "denjenigen entgegenzustellen, die in der Stunde schwerster Probleme Europa Stillstand und damit den Anfang vom Rückschritt zumuten wollen". Der hessische Landesvorsitzende Jörg-Uwe Hahn sprach gar von "schweren Anschlägen auf die innerparteiliche Demokratie", die aus dem Umfeld des Abgeordneten Schäffler verübt würden. Und die Justizministerin Sabine Leutheuser-Schnarrenberger bezeichnete den bevorstehenden Mitgliederentscheid als "völlig abstrus".

Die Parteioberen legen einen eigenen Antrag vor, der scheinbar dasselbe will

Indessen dämmerte der Parteiführung bald, daß dies nicht der richtige Ton war, um den Mitgliederentscheid scheitern zu lassen. Am 24. Oktober beschloß der Bundesvorstand, dem Antrag der Euro-Rebellen einen eigenen Antrag gegenüberzustellen. Es handelte sich um ein ausgesprochen phrasenhaftes Papier, das den Mitgliederentscheid nun sogar als "Gewinn für die demokratische Meinungsbildung" rühmte. Mit Floskeln wie "Jeder haftet für seine Schulden selbst" wurde der Kritik der Euro-Rebellen verbal geschmeichelt. Wirkliche Zugeständnisse gab es nicht. Die Zustimmung zum ESM-Vertrag sollte lediglich an die Bedingung geknüpft sein, daß keine "Ausweitungen des deutschen Haftungsvolumens der Rettungsschirme durch finanztechnische Maßnahmen" erfolgen. Bisher war nämlich nicht einmal gesichert, daß sich die Haftung Deutschlands auf die eingezahlten 190 Milliarden Euro beschränken würde.

Es war der Parteiführung offensichtlich zu riskant gewesen, die in fünf Punkten formulierten Forderungen der Euro-Rebellen einfach zur Abstimmung zu stellen. Es klang zu überzeugend, daß jemand, der Schulden macht und eine unsolide Haushaltspolitik betreibt, auch dafür aufkommen müsse, anstatt andere bezahlen zu lassen. Der Gegenantrag hütete sich, dieser Ansicht zu widersprechen. Er klang vielmehr wie eine Paraphrasierung des Unmuts, der die Euro-Rebellen inspirierte. Er enthielt aber letztlich nur heiße Luft. Sogar die Begrenzung des deutschen Haftungsvolumens auf 190 Milliarden Euro barg politisch keinen Stein des Anstoßes, denn genau dies verlangte ein am 12. September verkündetes Urteil, mit dem das Bundesverfassungsgericht grünes Licht für die Unterzeichnung des ESM-Vertrags gegeben hatte.

Es reicht nur zu einer Mitgliederbefragung, die für die Führung wenig schmeichelhaft ist

Bis zum 13. Dezember 2011 hatten die Mitglieder nun Gelegenheit, sich für einen der beiden Anträge zu entscheiden. Auf zahlreichen Veranstaltungen rangen beide Seiten um die Lufthoheit auf örtlicher und regionaler Ebene. Dabei zeigte sich, wie sehr sich die Führung von der immer brüchiger werdenden Basis entfernt hatte. "Wer rekapitalisiert eigentlich uns?" fragte beispielsweise in Würzburg ein Parteimitglied. "Die Marktwirtschaft wird nicht funktionieren, wenn man sie am Bäckermeister um die Ecke exekutiert und im Bankensystem den Sozialismus einführt." Typisch für die innere Krise der Partei war aber vor allem, daß der Großteil der Mitglieder sich überhaupt nicht an der Auseinandersetzung beteiligte.

Am 16. Dezember gab die Parteizentrale das Ergebnis bekannt: Insgesamt waren bei der Zählkommission 20.364 Wahlbriefe eingegangen. Als "gültig und bewertbar" galten 19.930. Davon unterstützten 54,5 Prozent die Haltung des Parteivorstands und 44,2 Prozent die Initiative der Euro-Rebellen. Die restlichen 1,4 Prozent waren Enthaltungen.

Das sah auf den ersten Blick wie ein klarer Sieg des Parteivorstands aus und wurde von diesem auch so dargestellt. Bei genauerem Hinsehen handelte es sich aber um ein Armutszeugnis: Nur 31,6 Prozent der Mitglieder hatten sich an der Abstimmung beteiligt. Damit wurde das Quorum von 33,3 Prozent verfehlt, das erforderlich gewesen wäre, um dem Mitgliederentscheid den Rang eines Parteitagsbeschlusses zu verleihen.

Was blieb, war eine Mitgliederbefragung. Und deren Ergebnis war auch nicht schmeichelhaft, denn nur knapp siebzehn Prozent aller Mitglieder unterstützten den Parteivorstand, während immerhin knapp vierzehn Prozent den Vorstoß der Euro-Rebellen guthießen. "Das ist nicht das, was man eine solide Basis nennen würde", resümierte die "Frankfurter Allgemeine" (17.12.).

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