Udo Leuschner / Geschichte der FDP (69) |
17. Bundestag 2009 - 2013 |
Am 12. Dezember 2011 erklärte FDP-Generalsekretär Christian Lindner überraschend seinen Rücktritt. Es gebe "den Moment, in dem man seinen Platz frei machen muß, um eine neue Dynamik zu ermöglichen", erklärte er zur Begründung. Er lege sein Amt nieder "aus Respekt vor meiner Partei und vor meinem Engagement für die liberale Sache".
Das war so nichtssagend oder auch kryptisch formuliert, daß es zu Spekulationen über die wahren Hintergründe des Amtsverzichts nach nur knapp zwei Jahren geradezu einlud. Wollte Lindner eine "neue Dynamik" auslösen, um den glücklosen Parteivorsitzenden Rösler zu stürzen? Hatten sich beide so heillos zerstritten, daß er sich unter dieser Führung nicht mehr für die "liberale Sache" engagieren wollte? Wollte er gar selber die Nachfolge Röslers antreten?
Sicher schien lediglich, daß es zu Spannungen zwischen beiden gekommen war und daß Lindners Rücktritt nicht nur mit dem Niedergang der Partei bei den Wahlen zu tun hatte. So verübelte es Lindner dem Parteivorsitzenden, wie er den Mitgliederentscheid über den ESM-Vertrag, den die "Euro-Rebellen"erzwungen hatten, noch vor der offiziellen Auszählung der Stimmen für gescheitert erklärt hatte, was die innerparteliche Zerrissenheit in dieser Frage unnötigerweise vertiefte. Rösler war seinerseits unzufrieden mit der Kampagnenfähigkeit der Parteizentrale im Thomas-Dehler-Haus. Der Generalsekretär konnte zwar schöne Reden halten, mit denen er dem kruden Neoliberalismus seiner Partei ein philosophisches Mäntelchen umhängte. Im Unterschied zu seinem Vorgänger Dirk Niebel oder einem Rabauken wie Westerwelle galt er damit als intellektueller Feingeist, obwohl er im Grunde nur dieselbe Botschaft gefälliger verpackte. Was Lindner jedoch nicht so lag, waren Organisationstalent und die Fähigkeit, die eigenen Leute zu einer schlagkräftigen Truppe von Parteisoldaten zu formen, wie dies unter dem eher grobschlächtigen Kommando der Generalsekretäre Niebel und Westerwelle der Fall gewesen war.
Die Parteizentrale befand sich auch deshalb in einer schwachen Verfassung, weil die FDP nach ihrem grandiosen Wahlsieg soviele Ämter und Pfründen zu vergeben hatte wie noch nie zuvor. Zum Beispiel war der bisherige Bundesgeschäftsführer Hans-Jürgen Beerfeltz von seinem Parteifreund Niebel als Staatssekretär ins Bundesentwicklungsministerium geholt worden. Was zurückblieb, war eher zweite Garnitur. Die neue Bundesgeschäftsführerin Gabriele Renatus war eine getreue Gefolgsfrau Westerwelles. Im übrigen galt sie aber als schwache Besetzung, zumal sie zusätzlich auch noch als Organisations- und- Finanzchefin sowie als Büroleiterin von Rösler fungierte.
Die Unzufriedenheit mit dem Thomas-Dehler-Haus veranlaßte Rösler im Herbst 2011 zu einem Revirement: Renatus blieb zwar Bundesgeschäftsführerin. Die Leitung der Abteilung Organisation und Finanzen übernahm aber die bisherige Landesgeschäftsführerin der niedersächsischen FDP, Mignon Fuchs. Eine weitere Vertraute aus Niedersachsen, Mareike Goldmann, wurde neue Büroleiterin des Parteichefs. Ferner ersetzte Rösler den stellvertretenden Regierungssprecher Christoph Steegmans durch Georg Streiter. Steegmans war 2009 aus der Pressestelle der Bundestagsfraktion ins Bundespresseamt gewechselt. Er galt wie Renatus als Teil des Westerwelle-Netzwerks. Seine Ablösung war deshalb eigentlich schon früher erwartet worden. Sie verlief nun aber ziemlich ungeschickt, da Steegmans erst durch eine Presseanfrage davon erfuhr.
Falls Lindner gehofft haben sollte, mit seinem Amtsverzicht den Parteivorsitzenden zum Rücktritt zu bewegen, so wurde er binnen weniger Stunden enttäuscht. Nach kurzem Schwanken ernannte Rösler noch am selben Tag den 38 Jahre alten Patrick Döring zum neuen Generalsekretär. Döring war einer seiner Vertrauten aus dem niedersächsischen Landesverband und amtierte seit dem Rostocker Parteitag, auf dem Rösler die Nachfolge Westerwelle antrat, als Schatzmeister. Seine Berufung zum Generalsekretär erfolgte bis zur Bestätigung durch den nächsten Bundesparteitag zunächst kommissarisch.
Der frischgebackene Generalsekretär machte zuerst einmal dadurch von sich reden, daß er mit seinem Auto den Außenspiegel eines anderen Wagens beschädigt hatte. Angeblich hatte er nichts bemerkt und deshalb nicht angehalten. Er war aber Politiker genug, um die Brisanz der Angelegenheit zu erkennen, nachdem ein Zeuge die Polizei verständigt hatte: "In einer verantwortungsvollen politischen Position ist ein Außenspiegel nicht einfach ein Außenspiegel", bekannte Döring mit staatsmännischem Timbre der "Bild-Zeitung". Das Ermittlungsverfahren wegen Fahrerflucht wurde schließlich gegen eine Geldbuße von 1500 Euro eingestellt.
Kurz darauf verblüffte Döring mit einem anderen Lackschaden, den er nun aber in seiner "verantwortungsvollen politischen Position" als Generalsekretär der eigenen Partei zufügte: In einem Interview mit dem Magazin "stern" verglich er seinen Vorgänger Lindner mit einem erfolgreichen Versicherungsvertreter, dem der Erfolg zu Kopfe steigt und der sich "dann einen Porsche kauft". Lindner sei "hochgejazzt" worden, "wie das für einen Anfang 30-Jährigen nicht gut ist". Er selber habe nach Westerwelles Abgang ironisch gefragt: "Warum wird Lindner nicht gleich Parteivorsitzender, am besten König von Deutschland". Mit dem Rücktritt habe der Vorgänger "brandbeschleunigend" wirken wollen. Sich selber stilisierte Döring zur Feuerwehr, die verhindert habe, daß dem Freund Rösler die Hütte abbrennt: "Wenn Philipp das am Mittwochabend nicht glattgezogen und mich nicht benannt hätte, hätte er den Freitag wahrscheinlich nicht mehr erreicht." Rösler sei "kein Kämpfer, sondern ein Wegmoderierer". Möglicherweise sei er auch ein besserer Minister als ein Parteivorsitzender.
Der neue Generalsekretär mußte den Umgang mit Medien offenbar erst noch lernen. "Die Vorstellung, Döring wolle den Mann stürzen, dem er gerade in äußerst schwieriger Zeit seine Unterstützung an der Parteispitze zugesagt hat, ist abwegig", kommentierte die Süddeutsche Zeitung (5.1.) einfühlsam diesen Fauxpas. "Doch wirft der Vorgang Fragen nach Dörings Qualifikation für den heiklen Job eines Generalsekretärs auf." Dieser habe sich "schlicht unprofessionell" verhalten, indem er auf eine nachträgliche Autorisierung der Zitate verzichtete.
Verfasser dieses Kommentars war der für die FDP zuständige Berliner Parlamentskorrespondent des Blattes, Peter Blechschmidt. Im November 2012 teilte Döring mit, daß Blechschmidt ab 2013 die Leitung der FDP-Pressestelle übernehmen werde und daß er sich über die Zusammenarbeit mit ihm freue. Ferner gab Döring bekannt, daß die Bundesgeschäftsführerin Renatus erkrankt sei. Ihr Nachfolger wurde Anfang 2013 Jörg Paschedag. Renatus starb im Oktober desselben Jahres.
Das neue Grundsatzprogramm, mit dessen Ausarbeitung sich seit 2010 eine Kommission unter Lindner befaßte, wurde nun unter Döring fortgeführt und vollendet. Es bekam den Titel "Verantwortung für die Freiheit – Freiheitsthesen der FDP für eine offene Bürgergesellschaft" und wurde am 22. April 2012 vom Bundesparteitag in Karlsruhe verabschiedet. Zugleich erfolgte die offizielle Berufung Dörings zum Generalsekretär. Sein Vorgänger Lindner ließ sich ebenfalls auf dem Parteitag blicken, verschwand aber schnell wieder, als wollte er signalisieren, daß hier nicht sein Programm verabschiedet werde. Dabei dürfte sich inhaltlich nicht viel geändert haben. Ideologischer Schwerpunkt war wieder jenes penetrante Freiheits-Pathos, das seit Westerwelle zum Markenzeichen der Partei geworden war. "Die FDP ist die einzige Partei der Freiheit" hieß es anmaßend. "Als einzige Partei in Deutschland macht die FDP die Freiheit des einzelnen Menschen zum Maß, Mittel und Zweck all ihrer Politik. Wir ergreifen Partei für die Chancen von Querdenkern, Einsteigern und Machtlosen." Im Vorwort bedankte sich Döring nun artig bei Christian Lindner, "der diese Debatte als Generalsekretär über lange Zeit maßgeblich geführt und geprägt hat".
Lindner bereitete unterdessen behutsam seine Rückkehr an die Parteispitze vor. Er hatte von Anfang an erkennen lassen, daß er sich keineswegs aus der Politik zurückziehen und seine FDP-Karriere beenden würde. Der 33-jährige behielt sein Bundestagsmandat. Einige Wochen nach dem Rücktritt machte ihn die FDP-Bundestagsfraktion als Nachfolger seines Namensvetters Martin Lindner zum Sprecher für Technologiepolitik. Im Frühjahr 2012 wurde er dann in Nordrhein-Westfalen Spitzenkandidat für die Landtagswahl, Fraktionsvorsitzender im Landtag und schließlich auch noch Landesvorsitzender.
Mit einer vorgezogenen Landtagswahl am 13. Mai 2012 wollte sich die in in Nordrhein-Westfalen amtierende Minderheitsregierung von SPD und Grünen eine ausreichende parlamentarische Mehrheit sichern. Das ist ihr gelungen. Nutznießer war aber auch die von Lindner geführte FDP. Sie errang 8,6 Prozent der Stimmen gegenüber 6,7 Prozent bei der Wahl vor zwei Jahren. In Anbetracht des allgemeinen Abwärtstrends der FDP war das ein sehr respektables Ergebnis: Eine Woche zuvor war die Partei in Schleswig-Holstein von 14,9 auf 8,2 Prozent zurückgefallen. Sieben Wochen zuvor war sie im Saarland sogar mit 1,2 Prozent aus dem Parlament geflogen. Diese Niederlagen gingen – soweit sie nicht offenkundig von Landespolitikern verbockt wurden – zu Lasten Röslers und der Berliner Parteispitze. Den Erfolg in Nordrhein-Westfalen durfte sich dagegen Lindner persönlich ans Revers heften. Bevor er dort die Führung übernahm, waren die Umfrageergebnisse so schlecht gewesen, daß mit dem Wiedereinzug in den Landtag kaum zu rechnen war. Sein Vorgänger als Fraktionschef, Gerhard Pape, ließ die FDP-Riege im Landtag deshalb schon mal zugunsten der ungeliebten rot-grünen Minderheitsregierung stimmen. Denn bei einer Abstimmungsniederlage und dadurch ausgelösten Neuwahlen hätte die FDP am meisten zu verlieren gehabt.
Trotz des frischen Lorbeers, den er nun als Stimmengewinner vorweisen konnte, machte Linder keine Anstalten, unverhohlen an Röslers Stuhl zu sägen. Er ließ sich auch nicht aus der Reserve locken, als der schleswig-holsteinische Landeschef Wolfgang Kubicki, der bereits Westerwelle angezählt hatte, nun seinerseits die Säge herausholte. In einem Interview mit dem Magazin "stern", das Anfang August 2012 erschien, bezeichnete Kubicki die Fixierung der Partei auf die CDU, wie sie von Rösler betrieben werde, als "dramatischen Fehler". Darin sei er sich mit Lindner einig. Wenn unter Rösler die Wahlchancen der FDP weiter schwinden sollten, müsse der Ex-Generalsekretär neuer Parteivorsitzender werden. Er sei der "geborene neue Bundesvorsitzende". Lindner dachte aber nicht daran, sich diesen Schuh anzuziehen: "Sicherlich muß die Lage der FDP weiter analysiert werden", meinte er auf Nachfrage. "Koalitionsdebatten, die von den wichtigen Sachproblemen ablenken, empfehle ich uns aber gegenwärtig nicht."
Lindner ging wohl davon aus, daß sich seine Chancen nur verbessern konnten, wenn er den glücklosen Rösler weiter im Geschirr lassen würde. Bis zu den Bundestagswahlen war es nur noch ein Jahr. Ein nochmaliger Wechsel an der Parteispitze wäre da sehr riskant gewesen. Daß die FDP allenfalls knapp die Fünf-Prozent-Hürde überwinden würde, stand bereits fest. Sicher war auch, daß Rösler für den Abstieg verantwortlich gemacht würde. Es gab für Lindner deshalb keinen Grund, sich vorzeitig von seiner neuen Basis in Nordrhein-Westfalen zu verabschieden. Er konnte die Zeit für sich arbeiten lassen, um dann auf den rauchenden Trümmern der Wahlergebnisse als Deus ex machina aufzutauchen.
Vor den Bundestagswahlen gab es noch zwei wichtige Landtagswahltermine. Der erste war die Wahl in Niedersachsen am 20. Januar 2013. Ausnahmsweise ging es auch hier wieder aufwärts: Von 8,2 auf 9,9 Prozent. Etwas getrübt wurde die Freude über die 14 Sitze im Landtag durch die schwächelnde CDU und den dadurch bewirkten Verlust der schwarz-gelben Regierungsmehrheit, da SPD und Grüne nun zusammen über ein Mandat mehr verfügten. Für den Bundesvorsitzenden Rösler, der aus Niedersachsen kam und sich stark im Wahlkampf engagiert hatte, bedeutete das Ergebnis aber zweifellos einen persönlichen Erfolg. Er bekam dadurch eine dringend benötigte Rückenstärkung, um die Partei auch in den Bundestagswahlkampf führen zu können. Vor der Wahl hatte es nämlich bereits Spekulationen über seinen Rücktritt gegeben, falls nicht mindestens sieben Prozent erreicht würden.
Die nächste Bewährungsprobe waren die Wahlen in Bayern, die eine Woche vor der Bundestagswahl und der gleichzeitig stattfindenden Landtagswahl in Hessen am 15. September 2013 stattfanden. Hier ging es wieder abwärts: Von 8,0 auf 3,2 Prozent. Dieses Ergebnis überraschte nicht. Die FDP flog damit wieder ins parlamentarische Aus, wo sie vor dem Erfolg des Jahres 2008 bittere vierzehn Jahre lang ausharren mußte. Es wurde damit sozusagen der Normalzustand wiederhergestellt. Von der CSU wäre sie ohnehin nicht mehr als Koalitionspartner gebraucht worden, da diese nun wieder die absolute Mehrheit erlangt hatte.
Eine Woche vor der Bundestagswahl signalisierte der Niedergang in Bayern, daß der allgemeine Abwärtstrend der Partei anhielt. Bei Meinungsumfragen lag das erwartete Wahlergebnis ziemlich genau bei fünf Prozent. Es hing somit von Bruchteilen eines Prozents ab, ob die FDP wieder in den Bundestag gelangen würde. Das Schicksal des glücklosen Rösler war aber jetzt schon entschieden: Er war nur noch Parteichef auf Abruf.