Juli 1997

970701

ENERGIE-CHRONIK


Bundesregierung will Atomrechtsänderungen auch ohne Konsens mit der SPD durchsetzen

Die Bundesregierung hat ihre ursprüngliche Absicht aufgegeben, das Atomgesetz im Wege eines "Energiekonsenses" mit der SPD zu reformieren. Stattdessen beschloß das Kabinett am 16.7. den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes, das nur solche Punkte enthält, die nach Ansicht der Regierung nicht der Zustimmung des Bundesrats bedürfen und deshalb auch nicht vom politischen Konsens mit der SPD abhängig sind. Der Entwurf der Umweltministerin Angela Merkel (CDU) sieht ein sogenanntes standortunabhängiges Prüfverfahren für neu zu errichtende Kernkraftwerke vor, erlaubt die Enteignung von Grundstücken und Bergrechten für Endlager-Zwecke, verlängert die Übergangsfristen des Einigungsvertrags für kerntechnische Einrichtungen in den neuen Ländern und erleichtert die Nachrüstung bestehender Kernkraftwerke (Handelsblatt, 3.7. u. 17.7., FR, 17.7.).

Standortunabhängiges Prüfverfahren für den EPR

Das standortunabhängige Prüfverfahren soll in der Praxis der Entwicklung des Europäischen Druckwasserreaktors (EPR) und so der Erhaltung des kerntechnischen Know-hows zugute kommen: Es räumt einer damit beauftragten Bundesbehörde die Möglichkeit ein, solche Anlagen schon in der Entwicklungsphase zu überprüfen. Es ersetzt aber nicht das eigentliche Genehmigungsverfahren für konkrete Bauvorhaben, für das weiterhin die Landesbehörden zuständig bleiben.

Enteignungsmöglichkeit in Gorleben, Verlängerung für Morsleben und erleichterte KKW-Nachrüstung

Die mögliche Enteignung von Grundstücken und Bergrechten zielt vor allem auf die Situation in Gorleben, wo eine Realisierung des geplanten Endlagers bisher an den Salzrechten des Grundbesitzers Andreas Graf von Bernstorff zu scheitern droht (siehe auch 960212). Die Verlängerung der Übergangsfristen des Einigungsvertrags soll vor allem die Betriebszeit des Endlagers Morsleben um fünf Jahre bis 2005 ausdehnen, betrifft aber auch das Zwischenlager Greifswald und andere kerntechnische Einrichtungen in den neuen Ländern. Für die Erleichterung der Nachrüstung von Kernkraftwerken sorgt die Klarstellung, daß Sicherheitsverbesserungen bei bestehenden Anlagen auch dann durchgeführt werden dürfen, wenn der für neu zu errichtende Anlagen geforderte Sicherheitsstandard gemäß dem Energie-Artikelgesetz von 1994 (siehe 940401) nicht vollständig erreichbar ist.

Kanzler lehnte Verknüpfung mit Kohlebeihilfen ab

Gleichzeitig mit den Änderungen des Atomgesetzes billigte das Bundeskabinett den Entwurf des Gesetzes über die neuen Beihilfen für die Steinkohle, wie sie im März vereinbart worden waren (siehe 970302). Die FDP wollte beide Gesetze in Form eines Energie-Artikelgesetzes miteinander koppeln, um so der SPD eine Ablehnung der atomgesetzlichen Änderungen zu erschweren. Bundeskanzler Kohl entschied jedoch, daß beide Gesetze bis auf weiteres getrennt behandelt werden (Handelsblatt, 14.7.; FAZ, 15.7.).

Der Präsident des Deutschen Atomforums und EVS-Vorstandsvorsitzende Wilfried Steuer begrüßte die geplante Einführung eines standortunabhängigen Prüfverfahrens für den deutsch-französischen Druckwasserreaktor (EPR). Allerdings wüßten die deutschen EVU "heute noch nicht definitiv, ob die EPR-Entwicklung je realisiert werden kann, obwohl sie das sehr wünschen". Seine Wirtschaftlichkeit werde erst am Ende der jetzt beginnnenden zweiten Entwicklungsphase abschließend beurteilt werden können.

Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reinhard Höppner (SPD), kündigte an, daß sein Land Verfassungsklage gegen die Verlängerung der Einlagerungserlaubnis für Morsleben erheben werde: Die Verlängerung der Übergangsfristen des Einigungsvertrags für die kerntechnischen Einrichtungen in der ehemaligen DDR dürfe nicht ohne das Einverständnis der betroffenen Bundesländer erfolgen. Auch der Gorlebener Grundbesitzer Andreas Graf von Bernstorff will gegen die im Gesetzentwurf vorgesehene Enteignungsmöglichkeit gerichtlich vorgehen (DPA, 20.7.).

Suche nach Energiekonsens blieb erfolglos

Die aktuellen Bemühungen um einen Energiekonsens zwischen Koalition und SPD gehen bis auf das Jahr 1992 zurück. Den Anstoß gab damals ein Brief an Bundeskanzler Kohl, in dem die Chefs der beiden Energiekonzerne RWE und VEBA, Friedhelm Gieske und Klaus Piltz, ihre Bereitschaft bekundeten, bestehende Kernkraftwerke nach Ablauf ihrer Betriebszeit durch Kohle- und Gaskraftwerke zu ersetzen, sofern die Option auf die Kernenergie grundsätzlich gewahrt bleibe (siehe 921203). Die Verhandlungen scheiterten jedoch im Oktober 1993, weil die SPD - anders als ihr Verhandlungsführer Gerhard Schröder - nicht bereit war, den Bau eines besonders sicheren Reaktortyps als Referenzanlage zu akzeptieren, mit dem die Koalition einen wissenschaftlich-technologischen "Fadenriß" auf dem Gebiet der Kernenergie verhindern wollte (siehe 931001). Nach den Bundestagswahlen 1994 kam es zu neuen Gesprächen zwischen Regierungsparteien und SPD-Opposition, die aber im Juni 1995 ebenfalls daran scheiterten, daß sich beide Seiten nicht über eine gemeinsame Formulierung zur Option für die Entwicklung neuer Kernkraftwerke einigen konnten (siehe 950601). Im Dezember 1996 wurden dann im Zusammenhang mit den Subventionen für die Steinkohleverstromung ein weiteres Mal Verhandlungen über einen Energiekonsens aufgenommen (siehe 970104). Die Beteiligten kamen sich dabei in der Frage der Entsorgung radioaktiver Abfälle relativ nahe (siehe 970205), doch gab es in der SPD erneut unüberwindliche Widerstände gegen die Forderung der Koalition, auch einem standortunabhängigen Prüfverfahren für den Europäischen Druckwasserreaktor und einer erweiterten Nutzung des Zwischenlagers Ahaus zuzustimmen (siehe 970303 u. 970402).

Nach Meinung der Zeit (25.7.) hat die SPD die Chance für einen tragbaren Kompromiß schon 1993 verspielt: "Damals wollten sich Regierung und Stromwirtschaft nicht nur auf Restlaufzeiten für die deutschen Meiler einlassen; der Bau neuer nuklearer Stromfabriken sollte außerdem von der Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit des Bundestages abhängig gemacht werden. Näher waren die Sozialdemokraten der Umsetzung ihres Ausstiegsbeschlusses nie. Ihre Kompromißlosigkeit hat das Ausstiegsziel nun wieder in weitere Ferne rücken lassen."

Auch nach Meinung der Süddeutschen Zeitung (4.7.) hat die SPD keinen Grund, die Erfolglosigkeit der Bemühungen um einen Energiekonsens der Regierungskoalition anzulasten: "Wenn ein Energiekonsens zum Ziel haben sollte, daß man die technische Weiterentwicklung der Kernkraft abbricht, dann sollte man ihn nicht weiterverfolgen. Niemand kann vorhersagen, wie die Energiemärkte in einem halben Jahrhundert aussehen werden. Deshalb sollte die Option zur weiteren Nutzung nicht aus der Hand gegeben werden."