Dezember 1992 |
921203 |
ENERGIE-CHRONIK |
Erhebliches Aufsehen erregte am 4.12. ein Aufmacher der Süddeutsche Zeitung, in dem über einen "einschneidenden Kurswechsel" in der deutschen Kernenergie-Politik berichtet wird: Die Chefs der beiden Energiekonzerne RWE und VEBA, Friedhelm Gieske und Klaus Piltz, hätten Bundeskanzler Kohl in einem Brief am 23.11. angeboten, bestehende Kernkraftwerke nach dem Ende ihrer Betriebszeit durch Kohle- und Gaskraftwerke zu ersetzen. Die Kernenergie solle lediglich als Option erhalten bleiben. Zugleich werde ein Ende der Wiederaufarbeitung in Aussicht gestellt. Beide Konzerne wollten auf diese Weise wieder einen energiepolitischen Konsens erreichen. Sie könnten dabei auf die Unterstützung des niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder (SPD) zählen (siehe 920514). Ein Gespräch der Firmenchefs mit Bundeskanzler Kohl sei für den 18.12. vorgesehen.
Das SPD-Präsidium hat Schröder grünes Licht für Gespräche mit Stromversorgern und Bundesregierung über einen Energie-Konsens mit dem Ziel des Ausstiegs aus der Kernenergie gegeben. Dies berichtete dpa am 8.12. In der Unionsfraktion mache sich indessen Verärgerung über den mit Schröder abgestimmten Vorstoß von RWE und VEBA beim Kanzler breit.
Am 14.12. kam es in Bonn zu einem Treffen Schröders mit Bundesumweltminister Töpfer (CDU). Beide vereinbarten, die Gespräche zur Erzielung eines parteiübergreifenden Energiekonsenses bis spätestens Sommer 1993 abzuschließen. Es zeichnete sich ferner ab, daß an der Kompromißsuche neben Vertretern von Bundesregierung, Koalition, SPD Landesregierungen und Energiewirtschaft auch Vertreter der Grünen beteiligt werden sollten. Am folgenden Tag traf Töpfer in Essen mit Gieske, Piltz und Bayernwerk-Chef Jochen Holzer zusammen. Töpfer sprach anschließend von einem "konstruktiv-sachlichen und hervorragenden Gespräch". Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann (FDP) hatte seine Teilnahme an diesem Gespräch demonstrativ abgesagt, weil er sich durch die vorherige Begegnung Töpfers mit Schröder in seiner Abwesenheit - Möllemann weilte zu diesem Zeitpunkt in Moskau - hintergangen fühlte. Eine ursprünglich für den 18.12. vorgesehene Begegnung des Bundeskanzlers mit Spitzenvertretern der Energiewirtschaft wurde unter Hinweis auf die in Gang befindlichen Bemühungen abgesagt (dpa,15.12.; FAZ, 16.12.; FR, 17.12.).
Wie die Süddeutsche Zeitung am 5.12. berichtet, ist der Vorstoß von RWE und VEBA "von anderen Unternehmen der Branche mit skeptischer Zurückhaltung, zum Teil aber auch mit offener Ablehnung aufgenommen worden". In einem Interview in derselben Ausgabe des Blattes erklärte Bayernwerk-Chef Holzer: "Der Vorstoß der beiden Kollegen ist ein Alleingang und war nicht - wie das bislang in den Konsensgesprächen der Fall war - zwischen den Hauptbeteiligten abgestimmt." Der Vorstandsvorsitzende der Energieversorgung Schwaben (EVS), Wilfried Steuer, unterstrich am 4.12. in einer Stellungnahme, daß ein Verzicht auf Kernenergie besonders für die süddeutschen Stromversorger mit gravierenden Problemen verbunden wäre.
Die Kernenergie gehöre zu einem "vernünftigen Energie-Mix". Dies erklärte der Vorsitzende der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW), Horst Magerl, am 8.12. nach einer Sitzung des zuständigen Ausschusses seines Verbandes. Sie habe nicht nur große Bedeutung für den Industriestandort Deutschland und die Sicherung der Energieversorgung der Menschheit, sondern sei auch unentbehrlich, um drohende Risiken für das Weltklima abzuwenden (dpa, 8.12.).
Der RWE-Vorstandsvorsitzende Friedhelm Gieske sagte am 10.12. auf der Hauptversammlung seines Unternehmens, der Brief an den Kanzler dürfe nicht, wie dies geschehen sei, unter dem Stichwort Ausstieg aus der Kernenergie interpretiert werden. Bayernwerk-Chef Holzer begrüßte diese Klarstellung. Holzer fügte hinzu, er fände es gut, wenn sich VEBA-Chef Piltz "ähnlich klar wie das RWE" von der Formel "Ausstieg aus der Kernenergie mit vager Revisionsklausel" distanzieren würde (Handelsblatt, 11.12.; FAZ, 12.12.; Welt 15.12.).
Bei Medien, die der Nutzung der Kernenergie in der Regel skeptisch gegenüberstehen, fand der Vorstoß von Gieske und Piltz ein gespaltenes Echo. Für die Frankfurter Rundschau (5.12.), läßt die Lektüre des Briefs an den Kanzler "eher den Schluß zu, daß pfiffige Manager dabei sind, die SPD zum Ausstieg aus ihrem 1986 in Nürnberg beschlossenen Ausstieg aus der Atomenergie zu bewegen". In einem weiteren Kommentar unter der Überschrift "Gefährliches Angebot" (9.12.) meinte das Blatt: "Bei Licht besehen bietet das Verhandlungspaket der beiden Top-Manager reichlich wenig. Dafür ist der Preis um so höher."
Das PDS-Blatt Neues Deutschland (14.12.) sprach von einem "Versuch der Landesregierung Niedersachsens, Schrott für Gold zu verkaufen". Schröder stehe unter dem massiven Druck von Bürgerinitiativen und müsse deshalb Erfolge präsentieren. Die Elektrizitätswirtschaft versuche ihrerseits, "auf Zeit zu spielen", bis sich mit den politischen Mehrheitsverhältnissen auch die Chancen für die Kernenergie wieder verändert hätten.
Dagegen begrüßte die tageszeitung (5.12.) den Vorstoß von Gieske und Piltz als "historische Wende" und "Einstieg in den Ausstieg". Mit dem Brief an den Kanzler sei "Atomenergie in Deutschland eine Übergangsenergie" geworden. Die Skeptiker unter den Kernkraftgegnern mahnte das Blatt am 16.12., man müsse "den Ausstiegswillen der Atombosse politisch ernstnehmen". Das bloße Festhalten an der Forderung nach einem Sofortausstieg aus der Kernenergie bedeute, auf den "St. Nimmerleinstag" zu warten."Die Stromkonzerne haben gute Gründe für einen kleinen Kompromiß bei er Atommüll-Entsorgung. An diesen Kompromiß festgetäut ist aber der große Ausstieg. Ohne Datum für den Ausstieg aus den alten Meilern geht in der Atompolitik gar nichts."
Der Spiegel (7.12.) schrieb: "Der Vorstoß Schröders und der beiden Konzernchefs wirbelt alle Nuklear-Blöcke durcheinander. ... Die Atomfans in der Union fühlen sich genauso verladen wie die Illusionäre in der SPD, die wirklich an einen Ausstieg binnen eines Jahrzehnts geglaubt haben."
Für die Süddeutsche Zeitung (9.12. u. 18.12.) läßt der Vorstoß von Gieske und Piltz viele Fragen offen: "Keinesweg unterschätzen darf man auch, daß das Vorpreschen von RWE und VEBA die Energiewirtschaft gespalten hat. Siemens fürchtet um seine international vermarktbare MOX-Technik, und die süddeutschen Energieversorger, allen voran das Bayernwerk, sehen ihre Kostenvorteile schwinden, wenn sie statt Kernenergie Kohle einsetzen müßten." Die Absage des ursprünglich für den 18.12. vorgesehenen Spitzengesprächs beim Kanzler lasse sich "nur so interpretieren, daß nichts auf dem Tisch liegt, was zu einem Konsens verbunden werden könnte". Generell taugten die zwischen Piltz, Gieske und Schröder getroffenen Vereinbarungen nicht als Basis für einen Konsens, "weil sie nur die jeweiligen Interessen berücksichtigen, nicht aber das Umfeld, in dem ein solcher Konsens angesiedelt werden muß".
Das Handelsblatt (17.12.) konstatierte, daß durch die Initiative von Schröder, Piltz und Gieske, die auch mit dem IG-Chemie-Vorsitzenden Hermann Rappe abgestimmt worden sei, "neue Fakten entstanden" seien. "Es drängt sich die Erkenntnis auf, daß wichtige Strommanager es offenbar leid sind, für die Kernenergienutzung nachhaltig zu werben und einzutreten."
Der Rheinische Merkur (11.12.) erinnerte
daran, daß die von Wirtschaftsminister Möllemann vor
einem Jahr angekündigte Kommission zur Findung eines neuen
Energie-Konsenses noch immer nicht zustandegekommen ist: "Daß
die Energiewirtschaft nun das Heft selber in die Hand genommen
hat und die Dinge mit der SPD vorgedacht hat, ist auch als ein
Mißtrauensvotum gegenüber der Fähigkeit des Wirtschaftsministers
zu interpretieren."