April 2024 |
240406 |
ENERGIE-CHRONIK |
Neben der schon seit zwei Jahrzehnten andauernden Überschwemmung des Marktes mit sogenanntem "Öko-Strom" gibt es neuerdings auch die Augenwischerei mit "Öko-Gas", mit der Energievertriebe erfolgreich auf Kundenfang gehen. Wie das Journalisten-Kollektiv "Correctiv" am 16. April mitteilte, hat es 150 solcher Angebote von Energievertrieben untersucht und festgestellt, dass davon mindestens 116 "weit weniger grün sind als versprochen". Zum Beispiel würden der hessische Gasversorger Entega oder kommunale Unternehmen wie die Stadtwerke Duisburg und Rostock auf diese Weise "eine Lösung für die Klimakrise verkaufen, die keine ist".
Beim "Öko-Strom" funktioniert das Geschäftskonzept üblicherweise so, dass der ganz normale Strom-Mix, der aktuell zu rund der Hälfte aus erneuerbaren Quellen stammt und insoweit tatsächlich echter Öko-Strom ist, durch den Ankauf sogenannter Herkunftsnachweise zu angeblich hundertprozentigem Grünstrom aufgebauscht wird. Zum Beispiel kann die Eigenschaft "Ökostrom" von einem norwegischen Wasserkraftwerk abgelöst und als separat gehandelter "Herkunftsnachweis" von einem deutschen Stromlieferanten erworben werden, der damit sein Angebot virtuell zu "Strom aus norwegischer Wasserkraft" veredelt, obwohl er weiterhin nur den normalen Strom-Mix liefert. Da solche Herkunftsnachweise unabhängig von realen Stromlieferungen verkauft werden, sind sie spottbillig zu haben. Dennoch kann eine solche virtuelle "Umstellung auf Ökostrom" bei großen Strommengen beträchtlich zu Buche schlagen. Zum Beispiel gab die Bundeswehr für derartige PR-Kosmetik insgesamt 3,5 Millionen Euro aus, wofür sie vom Bundesrechnungshof zu Recht scharf kritisiert wurde (131205). Dieser Handel mit Herkunftsnachweisen ist also nichts anderes als Etikettenschwindel und trägt in keiner Weise zum Klimaschutz bei. Dennoch wurde er in Artikel 19 der 2018 erlassenen EU-Richtlinie "zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen" zugelassen und damit legalisiert. Er kann deshalb nicht im strafrechtlichen Sinn als Betrug bezeichnet und entsprechend geahndet werden.
Beim "Öko-Gas" entspräche diesem Etikettenschwindel ein Handel mit Herkunftsnachweisen, die in irgendeinem Land des Europäischen Wirtschaftsraums für die elektrolytische Erzeugung von Wasserstoff mit Grünstrom ausgestellt werden. Diese könnten dann von Erdgasversorgern erworben werden, um ihr klimaschädliches Produkt als klimaneutral zu deklarieren. Einen solchen Handel gibt es freilich nicht, und es ist auch nicht zu erwarten, dass es ihn künftig geben wird. Wenn derzeit sowohl auf europäischer wie auch nationaler Ebene über Herkunftsnachweise für Wasserstoff nachgedacht wird, geht es auch eher um die Erfassung und Kennzeichnung eines realen Energie-Mixes aus Wasserstoff und Erdgas als um die rein virtuelle Übertragung der Eigenschaft "100 % Öko" für Zwecke des Marketings (210610).
Laut "Correctiv" haben die Gasversorger ersatzweise einen Dreh gefunden – oder besser gesagt übernommen – , mit dem schon in vielen anderen Wirtschaftsbereichen das "Greenwashing" aller möglichen Produkte betrieben wird:
"Das Prinzip hinter der Losung vom grünen Gastarif nennt sich Kompensation, man könnte auch Wiedergutmachung sagen: klimaschädliche Emissionen, die in Deutschland entstehen, zum Beispiel durchs Heizen, werden an einer anderen Stelle ausgeglichen – durch den Schutz von Wäldern in Brasilien oder den Bau von Wasserkraftwerken in Indien. Unternehmen können die so eingesparten Emissionen in Form von CO2-Gutschriften kaufen, um ihre Klimabilanz zu verbessern."
Damit würden die Kunden freilich "massiv getäuscht". Wie die Recherche ergeben habe, bleibe nicht nur die Wiedergutmachung aus. In manchen Fällen werde aus dem Versprechen sogar das Gegenteil: Umwelt und Klima nehmen Schaden. So nutzen deutsche Gasversorger auch CO2-Gutschriften aus Gaskraftwerken in Indien, China und Singapur, um ihre Tarife als klimafreundlich verkaufen zu können – und unterstützen so die fossile Industrie.
Das zeigt eine den Zeitraum von 2011 bis 2024 umfassende Auswertung der Kompensationsaktivitäten und CO2-Gutschriften von 150 deutschen Gasversorgern und kommunalen Stadtwerken, die "Correctiv" mit Unterstützung von Experten des New Climate Institute, der Berkeley University, des Öko-Instituts und der Deutschen Umwelthilfe vorgenommen hat. Als Grundlage dienten die Register der großen Marktführer auf dem freiwilligen Kompensationsmarkt: Verra und Gold Standard. Diese beiden Nichtregierungsorganisationen setzen weltweit Standards für die Qualität von Klimaschutzprojekten und deren CO2-Gutschriften. Sie fungieren als Kontrollinstanz, die garantiert, dass Emissionen tatsächlich eingespart oder reduziert werden.
Zumindest bei Verra ist dieses Garantieversprechen nicht viel wert, denn 98 Prozent der fragwürdigen CO2-Gutschriften wurden von diesem Marktführer ausgegeben. Beispielsweise wurden weniger Waldflächen geschützt als angegeben, weniger Emissionen als berechnet eingespart oder es fehlte das Kriterium der "Zusätzlichkeit", weil die jeweiligen Projekte auch ohne die Zuschüsse aus dem Verkauf von CO2-Gutschriften zustande gekommen wären.
Fast ein Zehntel der insgesamt 10 Millionen CO2-Gutschriften, die "Correctiv" fragwürdigen Projekten zuordnen konnte, stammte aus Gaskraftwerken. So nutzte der zum E.ON-Konzern gehörende Energievertrieb Eprimo im Jahr 2022 über 200.000 CO2-Gutschriften aus einem indischen Gaskraftwerk-Projekt. E.ON erklärte dazu, dass der Konzern 2022 einen "internen Mindestqualitätsstandard" definiert habe, der sicherstelle, "dass die genutzten Zertifikate von hoher Integrität sind." Zu der konkreten Frage, ob Eprimo auch künftig Gutschriften aus fossilen Projekten nutzen wolle, äußerte sich das Unternehmen nicht.
Häufig werden die CO2-Gutschriften für Projekte im Ausland erteilt, die ohnehin zustande gekommen wären oder sogar umweltschädliche Auswirkungen haben. Als Beispiel nennt "Correctiv" den Karcham-Wangtoo-Damm am indischen Fluss Satluj mit dem dazugehörigen Wasserkraftwerk, das 2011 ans Netz ging. Dieses Projekt zur Energiegewinnung entstand völlig unabhängig von irgendwelchen Zuschüssen aus dem Verkauf von CO2-Zertifikaten. Es hatte aber nur negative Folgen für die Umwelt und die dort lebenden Menschen, da es zu Trockenheit, Wassermangel, Erdrutschen und Überschwemmungen führte.
Dem Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) wirft "Correctiv"
vor, er verbreite "das Narrativ vom klimafreundlichen Erdgas" unter
seinen Mitgliedern und deren Kunden mit einer Broschüre, in der es heißt: "Auch
herkömmliches Erdgas kann klimaneutral gestellt werden: durch eine
CO2-Kompensation. (…) Das Gasprodukt erhält dafür eine Zertifizierung und ist
zum Beispiel unter der Bezeichnung „Ökogas-Tarif“ erhältlich.“