Dezember 2013 |
Hintergrund |
ENERGIE-CHRONIK |
Die Zahl der Haushaltskunden, die vermeintlichen "Ökostrom" beziehen, hat sich von 2008 bis 2012 mehr als verdreifacht. Die Struktur des vorhandenen Kraftwerksparks wurde dadurch freilich nicht nennenswert beeinflußt, sondern lediglich die Art seiner Vermarktung. Das gilt sowohl für die Augenwischerei mit RECS- und EECS-Zertifikaten als auch für "echten" Strom aus erneuerbaren Energien, der irgendwo mengengleich ins Netz eingespeist wird. Das Geschäft lebt in beiden Fällen von Illusionen. Quelle: Monitoringbericht 2013 |
(zu 131205)
Die Bundeswehr hat 3,5 Millionen Euro für den Erwerb von norwegischen "Ökostrom"-Zertifikaten ausgegeben. Sie wollte damit den Anschein erwecken, als ob ihre Liegenschaften mit Strom aus norwegischer Wasserkraft versorgt würden (131205). In Wirklichkeit hat sie für die Versorgung mit umweltfreundlich erzeugtem Strom und den Ausbau der Erneuerbaren Energien ungefähr soviel bewirkt, als wenn sie Räucherstäbchen angezündet oder die Militärseelsorge mit der Lesung einer Heiligen Messe für den Umweltschutz beauftragt hätte. Dem Bundesrechnungshof ist deshalb beizupflichten, wenn er darin eine Verschwendung von Steuergeldern sieht. Ebenso verdient er Unterstützung, wenn er sich in dieser Frage mit dem Verteidigungsministerium anlegt.
Im Vergleich mit den Milliarden, die sonst bei dubiosen Beschaffungsprojekten der Bundeswehr verschwinden, sind die 3,5 Millionen Euro für die Zertifikate sicher nur eine Kleinigkeit. Es handelt sich um die sprichwörtlichen Peanuts, über die Ministerialbürokraten, die täglich mit weit größeren Summen jonglieren, nur mitleidig den Kopf schütteln können. Sie sind aber typisch für die Leichtfertigkeit, mit der im Bereich des Verteidigungsministeriums bisher das Geld verpulvert wurde, und auch typisch für die Arroganz, mit der ein anscheinend wenig sachkundiges Personal sein Fehlverhalten zu rechtfertigen versucht. Der Gipfel war dabei die Behauptung, die Bundeswehr erfülle mit dieser teuer erkauften Augenwischerei die Vorbildfunktion für öffentliche Gebäude bei der Nutzung erneuerbarer Energien, wie sie etwa im Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz festgeschrieben wurde (110202).
Letztendlich geht es bei der Auseinandersetzung um den Umgang mit der EU-Richtlinie 2009/28/EG (PDF) vom 23. April 2009. Offiziell bezweckt diese die "Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen". Faktisch bedeutet sie aber einen Rückschritt hinter den in Deutschland erreichten Stand der Förderung auf diesem Gebiet. Sie ermöglicht nämlich den europaweiten Handel mit "Herkunftsnachweisen" für Strom aus erneuerbaren Energien, ohne daß diese Herkunftsnachweise mit entsprechenden Lieferverträgen unterlegt sind. Die Eigenschaft "Ökostrom" steht also buchstäblich nur auf dem Papier. Zum Beispiel genügt die Bescheinigung, daß ein norwegisches Wasserkraftwerk in einem bestimmten Zeitraum eine bestimmte Strommenge erzeugt. Das so zustande gekommene "Zertifikat" kann dann innerhalb der EU und des Europäischen Wirtschaftsraums (Norwegen und die Schweiz gehören nur dem letzteren an) von jedem Stromlieferanten erworben und für den eigenen Herkunftsnachweis verwendet werden. Es taucht dann in dessen Strom-Mix unter "sonstige erneuerbare Energien" auf und erweckt den irreführenden Eindruck, als ob damit tatsächlich eine Stromlieferung – etwas aus norwegischer, österreichischer oder schweizerischer Wasserkraft – verbunden wäre.
Beim angeblichen Bezug von Strom aus norwegischer Wasserkraft durch die Bundeswehr verhielt es sich so, daß zunächst ganz normale Lieferverträge mit deutschen Energiekonzernen geschlossen wurden. Was also tatsächlich geliefert wurde, war im wesentlichen Kohle- und Atomstrom. Zugleich stellte die Bundeswehr aber weitere 3,5 Millionen Euro zur Verfügung, damit die Lieferanten Zertifikate für Strom aus norwegischer Wasserkraft kaufen und damit den Strom-Mix rein kosmetisch verschönern konnte. Eine der vier Beschaffungs-Dienststellen wollte sogar hundertprozentig auf Ökostrom umschminken. Sie vergaß allerdings, daß der ganz normale Strom-Mix bereits zu etwa dreißig Prozent aus erneuerbaren Energiequellen stammte. Sie brachte so das Kunststück fertig, die Liegenschaften ihres Bereichs sogar zu 130 Prozent mit Ökostrom zu versorgen. Davon waren dreißig Prozent real. Die restlichen hundert Prozent bestanden aus reiner Kosmetik.
Das klingt wie Wahnsinn, hat aber Methode. Und diese Methode hat sogar den amtlichen Segen der EU-Gesetzgebung. Es begann zunächst ganz harmlos mit der Richtlinie 2001/77/EG (PDF) "zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt" vom 27. September 2001. In Artikel 5 verpflichtete sie die Mitgliedsländer zur Ausstellung von Bescheinigungen, die "Erzeugern von Strom aus erneuerbaren Energiequellen den Nachweis ermöglichen, daß der von ihnen verkaufte Strom aus erneuerbaren Energiequellen im Sinne dieser Richtlinie stammt".
Bei dieser anfänglichen Beschränkung auf einen Nachweis für verkauften Strom blieb es aber nicht. Die Energiekonzerne instrumentalisierten den neu eingeführten Herkunftsnachweis, um den realen Ausbau der erneuerbaren Energiequellen durch Augenwischerei zu ersetzen. Sie machten sich dabei die Tatsache zunutze, daß es im Netz keine unterschiedlichen Arten von elektrischer Energie gibt, da Strom nun mal Strom ist und es für seine physikalische Beschaffenheit überhaupt nicht auf die Art der Erzeugung ankommt. Ein weiteres Argument lautete, daß es innerhalb des kontinentaleuropäischen Verbundsystems und aufgrund der Vernetzung mit benachbarten Systemen immer belangloser werde, an welcher Stelle Europas ein bestimmtes Kraftwerk seinen Strom aus erneuerbaren Energien einspeist. Deshalb sei es auch egal, an welcher Stelle die Erzeugung von Ökostrom ausgewiesen werde. Schließlich ändere sich nichts an der Gesamtsumme des Ökostroms im europäischen Netz, wenn diese Eigenschaft beispielsweise von einem bestimmten Wasserkraftwerk abgelöst und per Zertifikat auf einen Lieferanten von Kohlestrom übertragen werde. Voraussetzung sei lediglich, daß die betreffende Menge an Strom aus real existierender Wasserkraft dann für die Laufzeit des Zertifikats nicht mehr als Ökostrom gilt, sondern zu "Graustrom" entwertet wird.
Dieser Gedankengang gemahnte allerdings ein bißchen an die mittelalterlichen Scholastiker, die mit viel Scharfsinn zu der Einsicht gelangten, daß auf einer Nadelspitze unendlich viele Engel Platz hätten, weil himmlische Wesen keinen materiellen Leib besitzen. Ein paar hundert Jahre später lief die intellektuelle Akrobatik der Konzern-Lobbyisten darauf hinaus, daß sich der "ideelle" Wert des Ökostroms vom materiellen Träger in Gestalt des erzeugenden Kraftwerks trennen lassen müsse. Und so fanden unermeßlich große Mengen von Ökostrom plötzlich auf einem winzigen Stück Papier Platz. Das Ergebnis war eine moderne Form des Ablaßhandels, die mit dem Erwerb solcher Zertifikate ein ruhiges ökologisches Gewissen versprach. Die Scholastiker wären sicher begeistert gewesen.
Letztendlich ging es den Energiekonzernen nur darum, ihren Kohle- und Atomstrom auf billige Weise zu Ökostrom aufzuhübschen. Außerdem hofften sie wohl schon von Anfang an, nationale Fördersysteme wie das Erneuerbare-Energien-Gesetz aushebeln zu können, wenn das System erst mal perfektioniert würde und den Segen der EU erhielte. Mit dem Europäischen Emissionshandelssystem hatte ihnen die Kommission bereits eine solche Steilvorlage geliefert. Der Emissionshandel funktionierte zwar schon damals nicht, und bis heute – neun Jahre nach Beginn der ersten Handelsperiode – hat er keinen ersichtlichen Nutzen für den Klimaschutz gebracht (130105). Das hinderte die Taschenträger der Konzerne in Politik und Wissenschaft aber keineswegs daran, lauthals die Abschaffung der EEG-Förderung zu verlangen, weil sie durch den Emissionshandel nutzlos und sogar kontraproduktiv geworden sei (040304, 090308).
Während die Umsetzung der EU-Richtlinie 2001/77/EG hinsichtlich der Herkunftsnachweise nur schleppend bzw. gar nicht erfolgte, waren die Energiekonzerne deshalb sehr aktiv und schufen das Renewable Energy Certificate System (RECS). Es organisierte den Handel mit Herkunftsnachweisen in jener Weise, wie wir sie am Beispiel der Zertifikate für Strom aus norwegischer Wasserkraft bereits kenngelernt haben. Es nahm insoweit die EU-Richtlinie 2009/28/EG vorweg, auf die sich das heutige European Energy Certificate System (EECS) stützt. Es gelang der Branche sogar, ihre RECS-Zertifikate für die in § 42 EnWG vorgeschriebene Stromkennzeichnung verwenden zu dürfen (080102). Grundsätzlich blieb RECS aber eine rein private Veranstaltung, von der in ziemlich undurchsichtiger Weise auch allerlei Unternehmen der Zertifizierungs-Branche sowie kooperationsbereite Organisationen aus dem Umweltbereich profitierten. Für Deutschland wären hier etwa der TÜV-Süd und das "Öko-Institut" zu nennen. Letzteres war als sogenannter "issuing body" für das RECS-System in Deutschland verantwortlich und spielte damit eine besonders unrühmliche Rolle, nachdem es anfänglich die "grünen Tarife" abgelehnt hatte (980321).
Mit dem Inkrafttreten der EU-Richtlinie 2009/28/EG verwandelten sich die RECS-Zertifikate in ein Auslaufmodell. Sie wurden nur noch solange ausgestellt, bis die Richtlinie in nationale Vorschriften umgesetzt war und der Handel auf Basis des neuen European Energy Certificate System (EECS) beginnen konnte. Die Energiekonzerne verzichteten indessen sehr gern auf RECS, da es ihnen ja gelungen war, aus ihrer privaten Veranstaltung eine amtliche zu machen. In dem einschlägigen Artikel 15 der neuen Richtlinie ist nun keine Rede mehr davon, daß die Zertifikate als Nachweis beim Verkauf von Strom dienen sollen. Vielmehr heißt es ausdrücklich, daß sie als Nachweis für die Stromkennzeichnung durch die Energieversorger gemäß Artikel 3 Absatz 6 der Richtlinie 2003/54/EG (PDF) gedacht sind. Der Handel mit den Zertifikaten kann also, wie bisher bei RECS, völlig losgelöst von Lieferverträgen erfolgen. Anstelle privater Einrichtungen übernimmt der Staat die Kontrolle der ausgegebenen Zertifikate. Damit wird das System formal weniger angreifbar. Zum Beispiel konnte RECS nicht wirklich garantieren, daß jene Strommengen, von denen das Etikett "Ökostrom" abgelöst und verkauft wurde, für die Gültigkeitsdauer des Zertifikats am Ort der Erzeugung tatsächlich nur noch als "Graustrom" galten und somit nicht mehrfach vermarktet wurden.
Auf der Grundlage der EU-Richtlinie 2009/28/EG entdeckte nun sogar die Energiebörse EEX ein neues Geschäftsfeld: Im Juli 2013 eröffnete sie den Handel mit Herkunftsnachweisen für Strom aus Wasser- und Windkraft. Die "Guarantees of Origin" (GoO) gibt es wahlweise für die drei Regionen "Nordic Hydro", "Alpine Hydro" und "Northern Continental Europe Wind". Es werden also die alten Wasserkraftwerke Norwegens, der Schweiz und Österreichs sowie Windstrom aus Dänemark außerhalb der Ursprungsländer ein zweites Mal vermarktet. Es handelt sich um Strom, der weiterhin ganz normal ins Netz eingespeist wird und für den am Ort seiner Erzeugung niemand einen Aufpreis zahlen würde. Die zentrale Rolle im geschäftlichen Kalkül spielt vielmehr Deutschland, wo zwar ein stolzes Viertel der gesamten Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien stammt, zum größten Teil aber nicht für den Dummenfang mit Zertifikaten verwendet werden kann, weil das Erneuerbare-Energien-Gesetz eine solche "Doppelvermarktung" untersagt.
In der ursprünglichen Fassung sah der EU-Richtlinienvorschlag sogar die obligatorische Einführung eines Handels mit solchen Herkunftsnachweisen vor. Damit wären die Herkunftsnachweise in Konkurrenz zu den bisherigen Förderprogrammen getreten und hätten diese ausgehebelt. Während beispielsweise in Deutschland die ganze Palette der erneuerbaren Energien durch entsprechend abgestufte Einspeisungsvergütungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) gefördert wird, hätte der Pflichthandel mit "grünen Zertifikaten" allenfalls den Bau von ohnehin rentablen Anlagen (Wasserkraft) oder dicht an der Schwelle zur Rentabilität befindlichen Stromerzeugungsarten (Windenergie) an billig-günstigen Standorten außerhalb Deutschlands stimuliert. Vorteilhaft wäre dies nur für die großen Energiekonzerne gewesen, die ohnehin europaweit agieren. Sie hätten sich dann beispielsweise Anlagen in Norwegen oder Spanien auf die Erfüllung ihres deutschen Solls anrechnen lassen können. (080103)
Mit Ausnahme der FDP protestierten im Februar 2008 alle Parteien des Bundestags gegen diesen Anschlag auf die erfolgreiche EEG-Förderung. In einer Entschließung unterstützten sie die diesbezüglichen Interventionen der Bundesregierung in Brüssel:
"Ein solches System würde nicht nur massiv das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) und vergleichbare Regelungen in anderen EU-Mitgliedstaaten gefährden. Im Ergebnis wäre der erfolgreiche Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland selbst bedroht."
Der energiepolitische Sprecher der Grünen, Hans-Josef Fell, benannte bei dieser Gelegenheit auch die Lobbyisten, die am Richtlinienvorschlag der EU-Kommission so erfolgreich mitgewirkt hatten:
"Die Stromkonzerne wollen die erneuerbaren Energien mit einem Quoten-Zertifikatssystem ähnlich in ihren Herrschaftsbereich übernehmen, wie dies den Mineralölkonzernen mit den nationalen Quotensystemen für Biokraftstoffe gelungen ist. Mehr noch: Die Energiekonzerne erhoffen sich Mitnahmeeffekte mit dem ineffizienten Zertifikatssystem. Als Vorbild soll der Emissionshandel dienen, der den Energiekonzernen Mitnahmeeffekte in mehrstelliger Milliardenhöhe ermöglicht hat, aber faktisch noch kein CO2 eingespart hat." (080207)
Mit den schließlich erreichten Änderungen wurden dem Richtlinienvorschlag die schlimmsten Giftzähne gezogen. Was leider blieb, war die aus dem RECS-System übernommene Vorgabe, daß sich der ideelle Wert des Ökostroms von der entsprechenden Erzeugungsanlage trennen und separat vermarkten lassen müsse. Die undankbare Aufgabe, diese Konstruktion in eine nationale Regelung umzusetzen, wurde in Deutschland dem Umweltbundesamt übertragen (110201). Es führt deshalb seit Anfang des Jahres 2013 ein Herkunftsnachweisregister für Ökostrom (HKNR), das den Erzeugern alle Strommengen ab einer Megawattstunde bescheinigt. Zugleich überwacht es die Entwertung dieser Zertifikate, nachdem sie an einen Stromlieferanten verkauft wurden, um dessen offiziellen Strom-Mix zu verschönen. Ferner ist das Amt für den Ex- und Import solcher Herkunftsnachweise zuständig.
Die Verwendung der Herkunftsnachweise zur Aufhübschung des eigenen Strom-Mixes ist freilich nur Stromlieferanten gestattet. Stadtwerke dürfen also weiterhin stolz verkünden, daß bei ihnen hundertprozentig Ökostrom durchs Netz fließe, wenn sie eine entsprechende Anzahl von Herkunftsnachweisen erworben haben. Ebenso können die Energiekonzerne ihren besonders hohen Anteil an Kohle- und Atomstrom weiterhin in dieser Weise kaschieren. Der Herkunftsnachweis verliert aber seine Gültigkeit, sobald der Strom beim Verbraucher ankommt. Die Bundeswehr wird deshalb künftig nicht einmal einen propagandistischen Nutzen davon haben, wenn sie ihren Lieferanten den zusätzlichen Erwerb solcher Zertifikate bezahlt. Zumindest darf sie sich nicht auf das Herkunftsregister beim Bundesumweltamt berufen, um gegenüber der Öffentlichkeit eine besondere Umweltfreundlichkeit zu suggerieren. Damit entfällt auch das Argument des Verteidigungsministeriums, sie erfülle so die Vorbildfunktion für öffentliche Gebäude bei der Nutzung erneuerbarer Energien. Und auch für den Kleinverbraucher gibt es keine amtliche Stützung der Illusion, daß er tatsächlich Ökostrom beziehe.
Fazit: Die RECS-Zertifikate sind auch in der durch die EU-Richtlinie 2009/28/EG legitimierten neuen Form des European Energy Certificate System (EECS) nichts anderes als eine Augenwischerei. Besonders ärgerlich ist dabei, daß dieser Unfug auch noch durch die EU-Gesetzgebung protegiert wird.
Bis zu diesem Punkt werden wahrscheinlich auch die Anbieter von "echtem" Ökostrom beipflichten. Dabei handelt es sich um die Inhaber von sogenannen Ökostrom-Labels, bei denen die zertifizierte Strommenge nicht isoliert gehandelt wird, sondern mit entsprechenden Stromlieferungen verbunden ist. Die RECS-Zertifikate sind für sie seit langem eine Schmutzkonkurrenz, ein Dumping-Angebot von höchst fragwürdiger Art, das ihnen das eigene Geschäftskonzept vermasselt. Sie verweisen gern darauf, daß bei ihnen der Ökostrom nicht auf einem Etikettenschwindel beruhe, sondern tatsächlich ins Netz eingespeist werde.
Aber ändert das wirklich viel? Wird durch die "echten" Ökostrom-Anbieter tatsächlich ein nennenswerter Beitrag zur Umstellung der Stromwirtschaft auf erneuerbare Energien geleistet? Oder ganz ketzerisch gefragt: Gibt es für Stromverbraucher einen vernünftigen Grund, bestimmte Geschäftsmodelle zu subventionieren, weil sie angeblich zum Klimaschutz beitragen? Hat das überhaupt einen nennenswerten Effekt? Und falls dem so wäre: Würde damit nicht der Staat aus seiner Verantwortung für die Energiepolitik entlassen? Wohin würde es denn führen, wenn man in derselben Weise die Sozialpolitik der privaten Mildtätigkeit überließe?
Auch die Anbieter von "echtem" Ökostrom leben letzten Endes von den ziemlich nebulösen Vorstellungen darüber, wie Strom eigentlich erzeugt wird und wie er in die Steckdose gelangt. Sogar Menschen mit Abitur und anderen Insignien höherer Bildung – die also gewisse Grundkenntnisse in Physik haben müßten – huldigen oft dem Köhlerglauben, sie würden eine besondere Art von Strom beziehen, wenn sie oder ihr Energieversorger "auf Ökostrom umstellen". Allein schon der Begriff suggeriert das. Tatsächlich verändert sich aber überhaupt nichts. Den Elektronen in einem elektrischen Leiter läßt sich nicht ansehen, auf welche Weise sie in Marsch gesetzt wurden. Außerdem kann man sie sowieso nicht sehen. Man kann allenfalls feststellen, von welchen Kraftwerken die Strommengen erzeugt werden, die ein bestimmtes Netz den Verbrauchern zur Verfügung stellt.
Die "echten" Ökostrom-Anbieter zehren ferner von der Vorstellung, daß der von ihnen erzeugte Strom zeitgleich mit dem Verbrauch des Kunden eingespeist wird. Das ist aber technisch gar nicht möglich. Die Einspeisung erfolgt allenfalls mengengleich innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Der Ökostrom wird also vielleicht gerade dann eingespeist, wenn der Verbraucher in Urlaub ist und keinerlei Stromverbrauch stattfindet. Dieser kleine Schönheitsfehler wird gern verschwiegen, um die holde Illusion nicht zu trüben, daß ein direkter Stromfluß vom Erzeuger zum Verbraucher stattfinde.
In der Realität ist dieser Schönheitsfehler allerdings völlig unerheblich, weil es einen solchen direkten Stromfluß sowieso nicht geben kann. Der Kunde zapft immer denselben Strom aus der Steckdose, ob er einen speziellen Öko-Tarif hat oder nicht. Er erhält keinerlei Veränderung oder gar Verbesserung des Produkts. Was seinen Strom von dem des Nachbarn unterscheidet, ist nur der höhere Preis, den er dafür zahlt. Der "echte" Ökostrom bietet dem Bezieher also keinen realen Vorteil wie ihn etwa das Öko-Gemüse verspricht, das ohne Pestizide angebaut wurde.
Der Strom der allgemeinen Versorgung in Deutschland stammte 2012 zu knapp 23 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen. In diesem Jahr dürften es um die 25 Prozent sein. Diesen Anteil an Ökostrom erhält jeder – durchaus real und ganz ohne Aufpreis. Und er dürfte weiterhin stark zunehmen. Das ist aber nicht auf Lieferverträge für Öko-Strom zurückzuführen, sondern auf die EEG-Förderung. Die hat in den vergangenen Jahren nicht nur einen stürmischen Ausbau der erneuerbaren Energiequellen bewirkt, sondern auch eine enorme Senkung der Erzeugungskosten pro Kilowattstunde. Das läßt sich schon an der Höhe der Einspeisungsvergütungen ablesen. Zum Beispiel wurde beim Inkrafttreten des EEG im Jahr 2000 der Solarstrom noch mit mindestens 50,62 Cent/kWh subventioniert. Im Januar 2014 sind es gerade noch 9,47 Cent/kWh.
Dennoch glauben viele, sie müßten zusätzlich etwas tun, indem sie auf den ohnehin schon sehr hohen Strompreis noch ein paar Cent drauflegen. Das ist zwar sehr ehrenwert, verkennt aber die Kosten, die eine parallel zur EEG-Förderung vorgenommene Subventionierung von Strom aus erneuerbaren Quellen erfordern würde. Der Aufpreis verändert deshalb auch nicht die Struktur des vorhandenen Kraftwerksparks, sondern lediglich die Art seiner Vermarktung. Er löst Rechenkunststücke aus, die auf den ersten Blick etwas solider anmuten mögen als die Augenwischerei mit RECS- und EECS-Zertifikaten, aber genausowenig bewirken.
Zum Beispiel wird auf diese Weise bewirkt, daß Stromversorger das sogenannte Grünstromprivileg nach § 39 EEG in Anspruch nehmen. Es beschert ihnen eine Verringerung der EEG-Umlage um 2 Cent/kWh, sofern mindestens die Hälfte ihres Stromabsatzes aus Anlagen stammt, die nach dem EEG vergütungsfähig wären. Sie müssen dann zwar auf die EEG-Vergütung verzichten, sind aber zugleich vom "Doppelvermarktungsverbot" in § 56 EEG befreit. Sie dürfen also den Erneuerbaren-Anteil ihres Strom direkt als "Ökostrom" vermarkten. Wenn sie es geschickt anstellen, erzielen sie auf diese Weise mehr als mit der EEG-Vergütung, denn der Nachlaß um 2 Cent/kWh wird ihnen ja auch auf die andere Hälfte an konventionellem Strom gewährt. Hinzu kommt als Sahnehäubchen der freiwillig entrichtete Aufpreis für "Ökostrom", der sowieso erzeugt worden wäre, aber als EEG-Strom gegolten hätte.
Das Grünstromprivileg war früher besonders attraktiv, da die EEG-Umlage sogar ganz entfiel und es keinerlei Auflagen für die Art des Grünstroms gab. Das begünstigte vor allem die Vermarktung von EEG-fähiger Wasserkraft. Inzwischen muß der hälftige Anteil am Strom-Mix des Versorgers zu mindestens zwanzig Prozent aus fluktuierender Einspeisung (Wind- und Solarstrom) bestehen (110603). Das Grünstromprivileg spielt deshalb bei der sogenannten Direktvermarktung von EEG-Strom kaum noch eine Rolle (131006). Die neue Bundesregierung will es laut Koalitionsvertrag sogar ganz abschaffen (131101).
Es gibt indessen weiterhin große Mengen an Strom aus erneuerbaren Quellen, die sehr billig erzeugt werden und sowieso keine Förderung nach dem EEG beanspruchen können. Im Inland stammen sie aus den alten Wasserkraftwerken der Energiekonzerne, die zum Teil seit hundert Jahren produzieren und längst abgeschrieben sind. Die speisen zwar nach wie vor an derselben Stelle ins Netz ein und versorgen dieselben Verbraucher. Auf dem Papier des Lieferantenvertrags versorgen sie aber nun Ökostrom-Kunden. Und außerhalb Deutschlands gibt es vor allem in Österreich, der Schweiz und Norwegen noch soviel Wasserkraft, daß das Angebot die Nachfrage bei weitem übersteigt.
Früher hätte kein Mensch daran gedacht, den Wasserkraft-Anteil der allgemeinen Stromversorgung als "Ökostrom" zu deklarieren und gesondert zu verkaufen. Das begann erst mit der sogenannten Liberalisierung des Strommarktes. Zum Beispiel vermarktete nun das Bayernwerk seine historische Wasserkraft als "Aquapower" (990917). Als das Bayernwerk im E.ON-Konzern aufging, wurde daraus "E.ON Aqua Power". Schon die englischsprachige Bezeichnung ließ allerdings vermuten, daß es sich um Bauernfängerei handelte. Ein anderer Betreiber eines uralten Wasserkraftwerks verfiel auf die Idee, dessen Dach mit ein paar Solarmodulen zu bestücken, damit es sich als "erstes regeneratives Doppelkraftwerk Europas" besser verkaufen ließ (990524).
Und das geht bis heute so. Zum Beispiel wurden die RWE-Wasserkraftwerke über Nacht zum Ökostrom-Lieferanten der Deutschen Bahn, nachdem der Konzern vergebens versucht hatte, einen auf Kernenergie basierenden "Klimaschutz"-Tarif durch die Beimischung von Wasserkraft attraktiver zu machen (110706). Wenig später schloß die Bahn einen ähnlichen Liefervertrag mit E.ON (121114). Technisch änderte sich überhaupt nichts. Es floß deshalb kein bißchen Strom mehr aus Wasserkraft oder weniger aus Braunkohle ins Netz der Deutschen Bahn, als das bei einem ganz normalen Liefervertrag der Fall gewesen wäre. Die Bahn konnte nun aber mit viel Tamtam verkünden, wie umweltfreundlich sie doch sei. Sie schaffte es mit dieser Pseudo-Nachricht sogar bis in die "Tagesschau" des ARD-Fernsehens. Und die beiden Konzerne erzielten einen höheren Preis als bei einem normalen Liefervertrag.
Auch Stadtwerke bieten mit viel PR-Getöse angeblichen "Ökostrom" an, der sich bei näherer Betrachtung als die übliche Augenwischerei mit RECS-Zertifikaten oder als Umdeklarierung von nicht EEG-vergütungsfähigen Stromquellen herausstellt (081117). Selbst Landesregierungen entblöden sich nicht, die angeblich hundertprozentige Umstellung ihres Stromverbrauchs auf erneuerbare Energien zu verkünden (090411). Der Sache, um die es eigentlich geht – nämlich die Umstellung der deutschen Energieversorgung auf erneuerbare Energien – wird damit eher geschadet. Überfällige Reformen können nicht durch eine moderne Form des Ablaßhandels ersetzt werden. Es wäre deshalb an der Zeit, diesen Unfug zu beenden.