Februar 2021 |
210207 |
ENERGIE-CHRONIK |
Beim Schiedsgericht der Weltbank in Washington (ICSID) ist seit 2. Februar eine Klage des RWE-Konzerns gegen die Niederlande anhängig, obwohl 22 EU-Staaten – darunter Deutschland und die Niederlande – derartige Klagen für unzulässig erklärt haben (190107). RWE verlangt von den Niederlanden Schadensersatz, weil diese 2019 gesetzlich die Beendigung der Kohleverstromung bis 2030 beschlossen haben, ohne dies mit Entschädigungszahlungen zu verbinden. RWE muss deshalb sein Steinkohlekraftwerk Eemshaven, das 2015 in Betrieb ging, vor Ablauf der technisch möglichen Betriebsdauer ohne Ausgleichszahlung stilllegen.
Auf Nachfrage von Medien verwies RWE darauf, dass in Deutschland der Kohleausstieg mit Entschädigungsregelungen verbunden wurde. Das niederländische Kohleausstiegsgesetz sehe dagegen "keine adäquate Kompensation" vor. Das halte man nicht für gerecht und habe deshalb diese Klage eingereicht. Angaben zur Höhe der geforderten Entschädigung wollte der Konzern nicht machen. Dem Vernehmen nach sollen es 1,4 bis 2 Milliarden Euro sein. Das wäre das Sechs- bis Neunfache der Summe von 216 Millionen Euro, die er in Deutschland bei der ersten Ausschreibung zur Stilllegung von Kohlekraftwerken für die beiden Kraftwerke Ibbenbüren und Westfalen bekommen hat. Mit knapp 1,6 Gigawatt verfügen diese über dieselbe Leistung wie die beiden Blöcke in Eemshaven. Aber auch diese Zuzahlung wäre eigentlich nicht nötig gewesen, da beide Kraftwerke wegen mangelnder Rentabilität ohnehin Stilllegungs-Kandidaten waren (201204).
Für die EU-Kommission erhöht sich mit der RWE-Klage der Druck, den längst obsolet gewordenen Vertrag über die Energie-Charta zumindest so zu modernisieren, dass er nicht mehr innerhalb der EU von hier ansässigen Konzernen zu Schiedsgerichts-Klagen gegen einen der Mitgliedsstaaten missbraucht werden kann. In den drei Verhandlungsrunden über eine Reform des Vertrags, die seit Juli 2020 stattfanden, gab es bisher allerdings keine Fortschritte. Frankreich verlangte deshalb in einem Schreiben an die EU-Kommission, dass "die Option eines koordinierten Austritts der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten von nun an öffentlich zur Sprache gebracht sollte, während gleichzeitig die rechtlichen, institutionellen und haushaltspolitischen Modalitäten geprüft werden". Der Energiecharta-Vertrag bedürfe "dringend einer grundlegenden Reform, um den ökologischen Wandel der Europäischen Union nicht zu behindern". Nach dem derzeitigen Stand seien "die Voraussetzungen für einen kurz- oder mittelfristig befriedigenden Abschluss der Verhandlungen eindeutig nicht gegeben".
Dem Vertrag sind vor rund 25 Jahren sowohl die damalige "Europäische Gemeinschaft" als auch die einzelnen Mitgliedsstaaten beigetreten. Bisher hat nur Italien im Jahr 2015 von der Kündigungsmöglichkeit Gebrauch gemacht und dies offiziell mit der jährlichen Einsparung von 370.000 Euro Gebühren für die Mitgliedschaft begründet. Gemäß Artikel 47 des Vertrags wird der Rücktritt nach einem Jahr wirksam. Die Klagemöglichkeit endet allerdings erst zwanzig Jahre später. Wenn ein internationaler Konzern in Italien bis 2016 investiert hat und sich benachteiligt fühlt, kann er somit den italienischen Staat noch bis 2036 beim Schiedsgericht der Weltbank in Washington auf Schadenersatz verklagen.
Insofern könnte es sinnvoller und effektiver sein, zunächst mal einzelne Bestimmungen wie die über die Schiedsgerichtsbarkeit so zu ändern, dass bei Klagen gegen EU-Staaten kein Zweifel mehr am Vorrang der nationalen Gerichte und des europäischen Rechts besteht. Allerdings bedürfen Vertragsänderungen nach Artikel 36 eines einstimmigen Votums der Chartakonferenz, zu deren 54 Mitgliedern sogar Staaten wie Russland und Belarus gehören, die den Vertrag lediglich paraphiert, aber nie ratifiziert haben. In ihrem Brief an die EU-Kommission bedauert die französische Regierung "die Abwesenheit einer großen Anzahl von Vertragsparteien während der Verhandlungssitzungen und den anhaltenden Mangel an Beteiligung und Engagement der meisten teilnehmenden Delegationen". Außerdem habe die von der EU eingesetzte Verhandlungskommission "bisher viel mehr Zeit darauf verwendet, über verfahrenstechnische und organisatorische Fragen zu beraten, als über die Änderungen zu verhandeln, die zwingend an dem Abkommen vorgenommen werden müssen".
Mit der RWE-Klage auf Grundlage der "Energie-Charta" spitzt sich der Konflikt zwischen der EU und dem Schiedsgericht in Washington weiter zu. Noch immer ist dort die Klage des schwedischen Vattenfall-Konzerns anhängig, der von Deutschland eine Milliarden-Entschädigung verlangt, weil er bei der Neufassung des Atomgesetzes benachteiligt wurde (141001). Inzwischen wurde diese Benachteiligung durch zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts korrigiert (161201, 201101). Ein Urteil des Schiedsgerichts würde deshalb mit der Zuständigkeit der nationalen Gerichtsbarkeit bzw. des Europäischen Gerichtshofs kollidieren. Es wäre gegen den Widerstand der EU wohl auch nicht durchsetzbar.
Dies ist der Grund, weshalb das Washingtoner Schiedsgericht auch zehn Jahre
nach Einleitung des Verfahrens noch immer mit der Verkündung seines Urteils
zögert. Um die Kritik an einer derartigen Privatjustiz hinter verschlossenen
Türen zu entkräften, hatten die ICSID-Schiedsrichter 2016 eine Anhörung
zu der Vattenfall-Klage ausnahmsweise öffentlich durchgeführt (161007).
Zu der ab Anfang 2018 erwarteten Urteilsverkündung kam es dann aber nicht,
weil der Europäische Gerichtshof am 6. März 2018 mit dem sogenannten
Achmea-Urteil den Vorrang des Unionsrechts vor Schiedsklauseln unterstrich und
ein paar Monate später die große Mehrheit der EU-Staaten derartige
internationale Schiedsgerichte im Binnenmarkt für unzulässig erklärte
(190107). Der von der Bundesrepublik beantragten Absetzung
der Klage wollten die Washingtoner Schiedsrichter jedoch nicht stattgeben (181110).
Die jetzt erfolgte Annahme der RWE-Klage gegen die Niederlande lässt sich
sogar als Signal deuten, dass sie weiterhin auf ihrer grundsätzlichen Zuständigkeit
beharren.