November 2018 |
181110 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die Bundesregierung hat am 12. November die Absetzung des ICSID-Schiedsgerichts in Washington beantragt, das seit 2012 über eine Klage des schwedischen Staatskonzerns Vattenfall verhandelt, der 4,7 Milliarden Euro Schadenersatz wegen der Stillegung der Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel verlangt (141001). Sie hält alle drei Mitglieder des Schiedsgerichts für befangen. Den Regularien zufolge hat deshalb nun der Präsident der Weltbank, der Koreaner Jim Yong Kim, innerhalb von 30 Tagen über den Antrag zu entscheiden. Wenn er ihm stattgibt, muss das Schiedsgericht neu besetzt werden. Dadurch würden weitere Jahre bis zum Abschluss des Verfahrens vergehen.
Seit Anfang dieses Jahres war immer wieder von einer kurz bevorstehenden Verkündung des Schiedsgerichts-Urteils die Rede. Anscheinend wäre damit den Milliarden-Forderungen des Klägers mehr oder weniger stattgegeben worden, obwohl Vattenfall bereits durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 2016 (161201) eine Entschädigung für die entfallenen Reststrommengen zugesprochen wurde, die seit Juni dieses Jahres auch gesetzlich festgeschrieben ist (180601). Mit ihrem Befangenheitsantrag hätte die Bundesregierung demnach die Notbremse gezogen, um eine sonst unausweichliche Kollision der nationalen Rechtsprechung mit der ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit zu verhindern, die beide Seiten beschädigen würde.
Hinzu kommen grundsätzliche Bedenken gegen solche Schiedsverfahren zwischen Investoren und Regierungen innerhalb der Europäischen Union. Am 6. März dieses Jahres erklärte der Europäische Gerichtshof eine Schiedsklausel für ungültig, die der niederländische Versicherungskonzern Achmea 1991 mit der Tschechoslowakei bzw. der Slowakei als Nachfolgestaat vereinbart hatte. Aus Sicht der Luxemburger Richter beeinträchtigt ein solches Schiedsverfahren die Autonomie des Unionsrechts und ist deshalb nicht mit ihm vereinbar. Das gilt auch mit Blick auf die Vattenfall-Klage, bei der sogar zwei EU-Regierungen faktisch die Prozessparteien sind, da Vattenfall dem schwedischen Staat gehört. Die Bundesregierung hat deshalb im April dieses Jahres die EuGH-Entscheidung in das Washingtoner Schiedsverfahren eingebracht, und zwar mit Unterstützung der EU, die dem Verfahren 2015 als "Streifhelfer" beigetreten ist. Das erklärt auch die Verzögerung des Urteils, das ursprünglich schon im Frühjahr erwartet wurde. Anfang September wurde indessen bekannt, dass das Schiedsgericht dieses Urteil nicht berücksichtigen will. Der vom EuGH entschiedene Fall betreffe nämlich nur ein bilaterales Investitionsschutzabkommen zwischen zwei EU-Staaten. Dagegen könne Vattenfall sich auf die Verletzung der "Energie-Charta" berufen, die 1991 nicht nur von Deutschland und Schweden unterzeichnet wurde, sondern auch von der "Europäischen Gemeinschaft" (EG) als Vorläuferin der heutigen Europäischen Union (EU).
In der Tat müssen sich Deutschland und die gesamte EU vorhalten lassen, dass
sie bis heute dieses Vertragswerk nicht gekündigt haben, obwohl die "Energie-Charta"
die staatlichen Rechtsordnungen auf nationaler wie europäischer Ebene untergräbt
und lediglich fragwürdigen Profitinteressen dient. Ursprünglich diente dieses
Abkommen einzig und allein dem Zweck, den westlichen Energiekonzernen den Zugriff
auf die riesigen Gas- und Ölvorkommen in Russland zu ermöglichen. Da Russland
noch nie ein Rechtsstaat war und es auch nach dem Ende der Sowjetherrschaft
nicht wurde, wollte man so den Kreml schadenersatzpflichtig machen, wenn ausländische
Investoren durch die im Lande herrschende Willkür ihr Geld verloren anstatt
die erhofften Gewinne zu machen. Aber ausgerechnet Russland hat das fertige
Vertragswerk nie ratifiziert. Es kam deshalb als Totgeburt auf die Welt und
versank viele Jahre lang in der Bedeutungslosigkeit. Das änderte sich erst,
als der alte Vertragstext eine neue Stoßrichtung bekam: Die global agierenden
Großkonzerne der neoliberal entfesselten Wirtschaft entdeckten die "Energie-Charta"
als Instrument, mit dem sie ihre eigenen Staaten wechselseitig in Haftung nehmen
konnten, falls es eine Regierung wagen sollte, ihre Profiterwartungen zu durchkreuzen
(siehe Hintergrund Oktober 2016).