März 2016

160302

ENERGIE-CHRONIK


 

 

Die KKW-Betreiber behaupten vor dem Bundesverfassungsgericht, daß die seit 2011 geltenden Schlußtermine für den KKW-Betrieb es nicht zulassen würden, die noch vorhandenen Reststrommengen abzuarbeiten. Dieses Argument sticht aber nicht, wie diese Grafik zeigt: Bei E.ON und EnBW sind die Reststrommengen (blau) offensichtlich geringer als die Strommengen, die bei einer durchschnittlichen Jahresproduktion bis zur endgültigen Stillegung erzeugt werden könnten (rot). E.ON bekam überdies genug Spielraum eingeräumt, um fast alle Reststrommengen seines Geschäftspartners Vattenfall zu übernehmen, der mit der Stillegung der Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel aus dem Kreis der Atomstromerzeuger ausgeschieden ist. Die EnBW kommt ebenfalls gut zurecht. Lediglich RWE muß sich etwas anstrengen, um seine Reststrommenge bis zur letzten Gigawattstunde ausschöpfen zu können. Diese Reststrommenge besteht allerdings zu 30 Prozent aus einem rein fiktiven Kontingent für das 1988 stillgelegte KKW Mülheim-Kärlich (030906), das RWE vor 16 Jahren bei den Verhandlungen über den Atomkompromiß zugestanden bekam (000601).

Diese Grafik wurde bereits für die ENERGIE-CHRONIK vom Juni 2011 erstellt. Sie basiert auf den Reststrommengen, die das Bundesamt für Strahlenschutz zum 31.12.2010 ermittelte. Für die neun Kernkraftwerke, die nach § 7 Abs. 1a AtG vorläufig weiter in Betrieb blieben, wurde die durchschnittliche Jahresproduktion zugrunde gelegt, die sie im Zeitraum von 2000 bis 2007 erreichten.

Verfassungsgericht verhandelt Klagen gegen Änderung des Atomgesetzes

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelte am 15. und 16. März erstmals über die Verfassungsbeschwerden, mit denen die KKW-Betreiber E.ON, RWE und Vattenfall die Änderung des Atomgesetzes anzufechten versuchen, die der Bundestag am 30. Juni 2011 beschlossen hat (110601). Mit ihrer Klage verfolgen die drei Konzerne erklärtermaßen keine Rückgängigmachung oder Änderung der seitdem geltenden Gesetzeslage. Es geht ihnen vielmehr darum, bei einem für sie positiven Urteil Schadenersatzansprüche in Milliardenhöhe anmelden zu können. Aber auch das dürfte letztendlich nicht das eigentliche Ziel sein: Einen Verzicht auf diese Schadenersatzklagen könnten sie sich dann mit politischen Gegenleistungen honorieren lassen – etwa bei den gegenwärtigen Verhandlungen über die Haftung für die radioaktiven Hinterlassenschaften der Atomstromerzeugung.

Die vom Bundestag beschlossene Regelung bietet kaum juristische Angriffsflächen

Im Unterschied zum vorangegangenen "Moratorium", das die schwarz-gelbe Bundesregierung nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima durchsetzte, bietet die später vom Bundestag beschlossene Neufassung des Atomgesetzes kaum juristische Angriffsflächen (110601). Für die sofortige, auf drei Monate befristete Abschaltung der ältesten Kernkraftwerke gab es von Anfang an weder einen vernünftigen Grund noch eine ausreichende gesetzliche Grundlage (110302). Sie hielt deshalb einer gerichtlichen Überprüfung auch nicht stand (siehe Hintergrund). Die später vom Bundestag beschlossene Re-Revision des Atomgesetzes hat dagegen im wesentlichen nur den alten Rechtszustand wiederhergestellt, wie er bis Ende 2010 galt, bevor die schwarz-gelbe Koalition den KKW-Betreibern eine enorme Aufstockung ihrer Reststrommengen und damit Laufzeiten-Verlängerungen bis zu 14 Jahre bescherte (100901).

Eine Verletzung des Grundrechts auf Eigentum ist nicht erkennbar

Bei der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe zeigte sich, daß die Richter die paar Monate zwischen der Verlängerung der KKW-Laufzeiten und der Re-Revision des Atomgesetzes kaum als Grundlage für eventuelle Ansprüche der KKW-Betreiber ansehen oder zumindest an sehr enge Voraussetzungen binden werden. Außerdem wurde deutlich, daß sie eine Verletzung des Grundrechts auf Eigentum – ein Argument, auf daß sich die Anwälte der Konzerne von Anfang an konzentrieren wollten (110601) – schwerlich zu erkennen vermögen. Schließlich behielten die KKW-Betreiber nicht nur ihre Reaktoren, sondern auch alle Reststrommengen, wie sie im ersten Ausstiegsgesetz mit ihrem Einverständnis festgeschrieben wurden. Die Grundentscheidung für oder gegen die Kernenergie obliegt aber allein dem Gesetzgeber. Dies hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1978 festgestellt, als die nordrhein-westfälische Atomaufsicht dem "Schnellen Brüter" in Kalkar die Betriebsgenehmigung verweigerte. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) zitierte bei der Anhörung in Karlsruhe genüßlich aus diesem Beschluß.

Trotz der Schlußtermine könnten die Reststrommengen abgearbeitet werden

Im wesentlichen werden die KKW-Betreiber deshalb wohl das Argument strapazieren, daß sie die zugestandenen Reststrommengen nicht rechtzeitig abarbeiten könnten. Mit der Re-Revision des Atomgesetzes wurden nämlich zusätzlich Schlußtermine eingeführt, bis zu denen die noch in Betrieb befindlichen KKW in jedem Fall vom Netz gehen müssen. Das damit festgelegte Zeitfenster sei zu knapp bemessen worden, behaupten die Konzerne. Indessen stimmt das so nicht, wenn man die durchschnittliche Jahresproduktion zugrundelegt, die von den jeweiligen Reaktoren im Zeitraum von 2000 bis 2007 erreicht wurde. Lediglich der RWE-Konzern müßte sich etwas anstrengen, um auch die Reststrommenge für Mülheim-Kärlich restlos abarbeiten zu können (siehe Grafik). Das KKW Mülheim-Kärlich war kurz nach seiner Inbetriebnahme schon 1988 stillgelegt worden – also zwölf Jahre vor dem politischen Kuhhandel zwischen KKW-Betreibern und rot-grüner Bundesregierung, bei dem RWE eine fiktive Reststrommenge für den längst nicht mehr am Netz befindlichen Reaktor zugestanden wurde (000601). Von diesen 107.250 Gigawattstunden waren 2011 noch 99.150 GWh übrig, da RWE im Juni 2010 die Übertragung von 8.100 GWh auf den Reaktor Biblis B vorgenommen hat (130607).

Bei Vattenfall und EnBW hapert es mit der Befugnis zu einer Verfassungsbeschwerde

Bei der Verhandlung in Karlsruhe wurde E.ON durch den Vorstandsvorsitzenden Johannes Teyssen persönlich vertreten. RWE begnügte sich mit Matthias Hartung, dem Chef der RWE Power AG, die auch für die Kernkraftwerke zuständig ist. Sozusagen am Katzentisch war außerdem Vattenfall vertreten. Der schwedische Staatskonzern ist als ausländisches Unternehmen wahrscheinlich nicht zu einer Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe berechtigt. Er hat ersatzweise von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Bundesrepublik wegen Verletzung der "Europäischen Energie-Charta" beim ICSID-Schiedsgericht der Weltbank in Washington zu verklagen (141001). Die Energie Baden-Württemberg (EnBW) hat auf eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe schon 2012 verzichtet, weil sie als hundertprozentiges Unternehmen der öffentlichen Hand zu einem solchen Schritt nicht befugt wäre (120714).

 

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