September 2019 |
190905 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die russische Gazprom zieht alle Register, um die derzeit noch im Bau befindliche zweite Ostsee-Pipeline bis zu deren Anlandepunkt bei Greifswald unter unbeschränkte Kontrolle zu bekommen. Sie klagt deshalb jetzt gleich zweigleisig gegen die neugefaßte Erdgas-Richtlinie vom 15. April, mit der die Europäische Union den Geltungsbereich der Gasrichtlinie auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten vor den Meeresküsten ausgedehnt hat (190201). Als Kläger tritt in beiden Fällen die Pipeline-Gesellschaft Nord Stream 2 AG auf, die ihr hundertprozentig gehört und die im Handelsregister des schweizerischen Kantons Zug eintragen ist (160804). Schon am 25. Juli beantragte diese Gesellschaft beim Gericht der Europäischen Union in Luxemburg die Nichtigkeitserklärung der Richtlinie, weil sie die EU-Grundsätze der Gleichbehandlung und Verhältnismäßigkeit verletze. Jetzt legte sie noch nach und ließ am 26. September wissen, dass sie außerdem eine Investorenschutzklage bei einem Schiedsgericht eingereicht habe, weil die EU gegen gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 10 und 13 der sogenannten Energie-Charta verstoßen habe.
Auf Nachfrage der ENERGIE-CHRONIK teilte die Nordstream 2 AG am 30. September ergänzend mit, dass es am 25. Juni ein Treffen mit der EU-Kommission gab. Dabei habe das Unternehmen die Verletzung der Energie-Charta geltend gemacht. Es sei jedoch zu keiner gütlichen Einigung gekommen. Deshalb habe man jetzt der Kommission die Erhebung der Schiedsgerichtsklage mitgeteilt. Unbeantwortet blieb die Frage, um welches Schiedsgericht es sich handelt (der Internet-Seite des ICSID-Schiedsgerichts in Washington ließ sich bis Monatsende keine derartige Klage entnehmen).
Das vertrauliche Papier, mit dem die Nordstream 2 AG gegenüber der EU-Kommission argumentierte, sowie ein weiteres Schreiben an die Kommission vom 8. Juli sind inzwischen auf der Internetseite des Unternehmens einsehbar (siehe PDF). Daraus geht hervor, dass man in Brüssel eine Klageberechtigung der Pipeline-Gesellschaft aufgrund der Energie-Charta von vornherein bezweifelt, weil sie in der Schweiz lediglich ihren Sitz, aber keine nennenswerte Geschäftstätigkeit hat. Auch sonst könne sie keine Ansprüche auf der Grundlage dieses Abkommens geltend machen, weil sie entgegen ihrer Darstellung nicht diskriminiert werde. Vielmehr habe sie vernünftigerweise von vornherein damit rechnen müssen, dass die Regeln der Gasrichtlinie auch auf sie angewendet würden. Die EU-Kommission lehnte es ferner ab, sich zu der Frage zu äußern, ob die zweite Ostsee-Pipeline als "vor dem 23. Mai 2019 abgeschlossen" angesehen werden könne (Inkrafttreten der geänderten Gasrichtlinie) und deshalb für eine Ausnahmeregelung nach § 49a in Frage kommt. Eine solche Entscheidung falle in die Zuständigkeit der deutschen Regierung, sofern dieser ein derartiger Antrag vorgelegt werde.
Die geänderte Gasrichtlinie behindert die Vollendung der zweiten Ostee-Pipeline nicht. Sie enthält sogar ein spezielles Schlupfloch, indem weiterhin die deutsche Regierung für das Projekt zuständig bleibt. Die Gazprom braucht somit nicht zu befürchten, dass ihr die Kommission mit dem verschärften Instrumentarium in die Quere kommt und eventuell sogar das ganze Projekt stoppt, wie das von etlichen Mitgliedsstaaten verlangt wurde. Allerdings wird das Vorhaben nicht von den EU-weit geltenden Regulierungsbestimmungen befreit, wie das noch bei der ersten Ostsee-Pipeline mit der Anschlussleitung "Opal" der Fall war (190904). Und hier will die Nord Stream 2 AG bei ihrer Klage vor dem Luxemburger Gerichtshof ansetzen. Sie pocht auf den "Vertrauensschutz", den sie angeblich beanspruchen kann, weil sie mit dem Bau schon vor dem Inkrafttreten der geänderten Gasrichtlinie begonnen hatte. Die Änderung habe ohnehin nur dem Zweck gedient, die Pipeline zu benachteiligen und zu behindern. Auch für die EU sei diese Änderung schädlich: "Eine so offensichtliche Diskriminierung einer einzelnen kommerziellen Investition untergräbt die Fähigkeit des EU-Binnenmarktes, die für die Energiewende nötigen Investitionen zu mobilisieren", barmte der Vorstandsvorsitzende Matthias Warnig, der einst dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR als Spezialist für "Wirtschaftsaufklärung" diente (051202).
In ähnlicher Weise beruft sich die Nord Stream 2 AG auf Artikel 10 der Energie-Charta, wonach Investoren Anspruch auf "eine faire und gerechte Behandlung" haben. Sie sieht sogar den Artikel 13 verletzt, der die Verstaatlichung oder Enteignung von Investitionen untersagt. Dabei könnte sich die Gazprom nicht selber auf die "Energie-Charta" berufen, da Russland diesem Vertrag nicht beigetreten ist. Die Nord Stream 2 AG wurde aber – wie schon die Nord Stream AG als Eigentümerin der ersten Pipeline - in der Schweiz angesiedelt, die zu den Unterzeichnern gehört. Der Hauptgrund für diese Konstruktion war wohl, dass in beiden Fällen westeuropäische Energiekonzerne 49 Prozent der Aktien übernahmen bzw. übernehmen sollten (150905). Um dem von Gazprom dominierten Unternehmen ein möglichst westeuropäisches Aussehen zu geben, diente auch bei Nord Stream 2 der deutsche Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der bereits bei der ersten Ostsee-Pipeline den Vorsitz des Aktionärsausschusses übernahm, als Galionsfigur des Verwaltungsrats (170706). Wegen des hartnäckigen Widerstands Polens und anderer osteuropäischer EU-Mitglieder verzichteten die fünf westlichen Energiekonzerne dann aber auf den Direkteinstieg als Minderheitsaktionäre (160804) und übernahmen stattdessen die Hälfte der Baukosten (170406). So blieb die Nord Stream 2 AG eine hundertprozentige Tochter des russischen Staatskonzerns, die nun aber im Gewand eines schweizerischen Unternehmens ein Klagerecht aufgrund der "Energie-Charta" geltend machen will.
Die Missbrauchsmöglichkeiten, die dieses Abkommen bietet (siehe Hintergrund, Oktober 2016) haben inzwischen auch die Politiker aufgeschreckt: Zu Anfang dieses Jahres unterzeichneten 22 EU-Staaten eine gemeinsame Erklärung, in der sie sich verpflichteten, ihre wechselseiten bilateralen Investitionsschutzverträge bis zum 6. Dezember 2019 zu beenden. Zugleich unterstrichen sie, dass auch internationale Abkommen wie der Energiechartavertrag, die von der Europäischen Union selber unterzeichnet wurden, als "integraler Bestandteil der EU-Rechtsordnung" auf diese verpflichtet seien. Schiedsgerichte dürften deshalb den Energiechartavertrag nicht so auslegen, als ob er eine zwischen den EU-Mitgliedstaaten anwendbare Schiedsklausel für Investoren und Staaten enthalte. Eine solche Auslegung sei mit dem Unionsrecht unvereinbar und müsse außer Kraft gesetzt werden (190107). Der Gazprom ist dies natürlich bekannt. Sie scheint aber darauf zu vertrauen, dass die Schweiz formal nicht der EU angehört, obwohl sie faktisch in diese integriert ist und alle wesentlichen Normen des EU-Rechts in ihre nationale Gesetzgebung umsetzt. Das größere Hindernis scheint indessen das Nichtvorhandensein einer nennenswerten Geschäftstätigkeit in der Schweiz zu sein, mit dem die EU-Kommission eine Klageberechtigung aufgrund der Energie-Charta von vornherein bezweifelt.
Die Energie-Charta kam Anfang der neunziger Jahre nach dem Ende der Sowjetunion zustande. Sie war letztendlich nur dazu gedacht, die Investitionen westlicher Energiekonzerne in die russische Öl-, Gas- und Stromwirtschaft vor der überall im Lande herrschenden Rechtsunsicherheit zu schützen. Ausgerechnet Russland hat das Abkommen jedoch nie ratifiziert, so daß es lange Zeit als Totgeburt galt. Mehr als ein Jahrzehnt später entdeckten dann internationale Konzerne diesen Vertragstext als wirksames Instrument, um Staaten mit intakter Rechtsordnung zu verklagen und unter Druck zu setzen, wenn diese ihren Profiterwartungen in die Quere kommen. Zum Beispiel klagte der schwedische Staatskonzern Vattenfall schon 2009 vor dem Schiedsgericht in Washington gegen die Bundesrepublik, weil er beim Bau des Kraftwerks Moorburg in Hamburg einen Kühlturm errichten mußte, anstatt das Kraftwerk nur mit Flußwasser zu kühlen (100812). Und gegenwärtig hofft er noch immer, dass ihm dieses Schiedsgericht Milliarden an Schadenersatz für die 2011 erfolgte Stillegung der Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel zuspricht (181110), obwohl es auf nationaler Ebene durchaus eine Entschädigungsregelung gibt (180601).
Nun will auch noch Gazprom auf diese Weise absahnen oder zumindest politischen Druck ausüben – ausgerechnet Russland also, vor dessen Rechtsunsicherheit die "Energie-Charta" ursprünglich schützen sollte. Zum ersten Mal wird dabei keine nationale Regierung verklagt, sondern die Europäische Union, die es seinerzeit in dieser Form noch gar nicht gab, sondern als "Europäische Gemeinschaft" mitunterzeichnet hat.
Für die EU und ihre Mitgliedsstaaten sollte dies der Anlass sein, endlich reinen Tisch zu machen. Eine "Reform des internationalen Vertrags für eine Anbindung an die Pariser Klimaziele und einen Ausschluss von Schiedsgerichtsverfahren", wie dies jetzt die grüne Europa-Abgeordnete Anna Cavazzini gefordert hat, wäre dabei keine empfehlenswerte Vorgehensweise. Die Schiedsgerichte sind nämlich keine bloße Zutat, sondern bilden das Herzstück des Vertrags. Es wäre deshalb unsinnig, wenn sich die Unterzeichnerstaaten erst in jahrelangen Verhandlungen über die faktische Entleibung des missbrauchten Abkommens durch Abschaffung der Schiedsgerichte einigen würden, um dann die verbliebene Mumie mit irgendwelchen anderen Texten zu füllen und scheinbar fortleben zu lassen. Der einfachste Weg ist die fristgemäße Kündigung der "Energie-Charta". Darüber kann jeder Unterzeichner allein entscheiden. Ein Jahr später wäre dann zumindest er den Ärger los.
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