September 2019 |
190904 |
ENERGIE-CHRONIK |
Das Gericht der Europäischen Union in Luxemburg erklärte am 10. September den Beschluss für ungültig, mit dem die EU-Kommission vor drei Jahren der russischen Gazprom eine noch weitergehende Nutzung der Ostsee-Pipeline-Anschlussleitung "Opal" erlaubt hatte, als es die ursprüngliche Ausnahmeregelung vorsah (161017). Es gab damit einer Klage der polnischen Regierung statt, die einen Verstoß gegen Artikel 194 des "Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union" geltend machte. Dieser Artikel schreibt vor, dass die EU ihre Energiepolitik "im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten" zu gestalten habe. Nach Feststellung des Gerichts hat die Kommission gegen diesen Grundsatz der Solidarität im Energiesektor verstoßen, indem sie es unterließ, die Auswirkungen ihrer Genehmigung auf die Versorgungssicherheit des Mitgliedsstaates Polen zu prüfen. Sie habe lediglich die Versorgungssicherheit der EU im allgemeinen geprüft.
Bei der parallel zur Opal geplanten Eugal verzichteten BASF und Gazprom von vornherein darauf, einen Antrag auf Befreiung von der Regulierung zu stellen. Sie hätten damit sicher auch keine Chancen mehr gehabt. Grafik: Gascade
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Die Bundesnetzagentur verfügte am 13. September die sofortige Umsetzung des Urteils und untersagte der Betreibergesellschaft Opal Gastransport, weitere Versteigerungen der betroffenen Verbindungskapazitäten durchzuführen, die bisher ein Volumen von stündlich bis zu 15,86 Millionen Kilowattstunden erreichen durften. Das galt insbesondere für die nächste Monatsauktion, die am 16. September stattfinden sollte. Darüber hinaus stoppte sie alle Gastransporte auf Basis der betroffenen Verbindungskapazitäten. Den beteiligten Unternehmen wurden Zwangsgelder angedroht, falls sie gegen die neuen Regeln verstoßen.
Dabei war es ebenfalls die Bundesnetzagentur, die 2009 die Ostsee-Anschlussleitung "Opal" für 22 Jahre nach der Inbetriebnahme von der Regulierung freistellte (090306) und sieben Jahre später diese Ausnahmeregelung um die nochmaligen Zugeständnisse erweiterte, die jetzt von den Luxemburger Richtern annulliert wurden. Die Behörde begründete 2009 ihr Entscheidung mit § 28a des Energiewirtschaftsgesetzes, der die Befreiung von der Regulierung bei grenzüberschreitende Gasleitungen erlaubte, wenn die Investition dem Wettbewerb und der Versorgungssicherheit dienlich sei.
Auch die EU-Kommission folgte damals dieser Sichtweise. Sie verband ihre Genehmigung aber mit der Auflage, dass die Gazprom nur über die Hälfte der Transportkapazität verfügen dürfe. Die Inanspruchnahme der anderen Hälfte wurde nur gestattet, wenn entsprechende Gasmengen in einem "Release-Programm" anderen Marktteilnehmern kostengünstig zur Verfügung gestellt würden (141206). Die Russen zogen es freilich vor, die Pipeline exklusiv zu nutzen, weshalb die Hälfte der Kapazität jahrelang brach lag. Hinter den Kulissen betrieben die westlichen Energiekonzerne, die mit der Gazprom und der Ostsee-Pipeline geschäftlich verbandelt sind, unterdessen erfolgreiche Lobbyarbeit. So kam es dann 2016 zu einer Änderung der seit 2009 geltenden Ausnahmeregelung, die den Russen doch eine weitergehende Nutzung der Opal-Kapazität ermöglichte, ohne andere Marktteilnehmer davon profitieren zu lassen.
Die Bundesnetzagentur war in allen Fällen letztendlich nur ausführende Behörde. Sie traf also beide Entscheidungen nicht aus eigenem Antrieb, sondern folgte der Politik der Bundesregierung, die das russische Projekt der Ostsee-Pipeline einschließlich der nach Süden führenden Anschlussleitung Opal in besonderer Weise begünstigen wollte. Die Privilegierung der Gazprom wurde - nur unterbrochen von den 2014 verfügten zeitweiligen Abstrichen – in beiden Fällen auch von der EU-Kommission gebilligt. Sowohl in Berlin als auch in Brüssel diente dabei der § 28a EnWG als fadenscheiniger Vorwand, denn bei der Opal handelt es sich nur formal um eine Verbindungsleitung zwischen zwei Staaten. Letztendlich fließen die damit transportierten Gasmengen gar nicht in einen anderen EU-Staat. Der Ausspeisepunkt in Tschechien ist nämlich zugleich der Einspeisepunkt in die ebenfalls neu gebaute Pipeline "Gazelle", die das Gas über die Grenze bei Waidhaus nach Deutschland zurücktransportiert (130103).
Bei dem Rechtsstreit vor dem Luxemburger Gerichtshof wurde Polen von Lettland und Litauen unterstützt, die EU-Kommission von Deutschland. Die Kläger sahen ihre Versorgungssicherheit und die anderer EU-Länder insbesondere dadurch bedroht, dass die vermehrte Nutzung der Pipeline Opal eine entsprechend geringere Nutzung der Jamal-Pipeline durch Polen sowie der Transgas-Leitungen durch die Ukraine zur Folge habe. Das erschwere es den betroffenen Ländern, ihre eigene Gasversorgung zu diversifizieren.
Tatsächlich würden die seit Jahrzehnten vorhandenen Gas-Pipelines auch heute noch ausreichen, um Westeuropa mit Gas aus Russland zu versorgen. Wenn Gazprom dennoch Milliarden in vier neue Röhren durch die Ostsee sowie die dazugehörigen Anschlussleitungen steckt, dient dies hauptsächlich dem Zweck, die vorhandenen Leitungen zumindest soweit überflüssig zu machen, dass sie nicht mehr für Gaslieferungen nach Westeuropa benötigt werden. Mit dem Direktzugang über die Ostsee sparen die Russen hohe Transitgebühren, die auf der anderen Seite den bisherigen Transitländern verloren gehen. Aber nicht nur das setzt diese Staaten unter Druck. Sie werden auch abhängiger und erpressbarer, was ihre eigene Gasversorgung betrifft. Und das gilt praktisch für alle EU-Staaten im Osten, die einst zum sowjetischen Imperium gehörten.
Dieses Argument ist also berechtigt und zudem alles andere als neu. Die deutsche Regierung hat es jedoch in der Vergangenheit ignoriert, indem sie beispielsweise den Bau der zweiten Ostsee-Pipeline, der die Kapazität verdoppeln wird, als angeblich rein "kommerzielles Projekt" deklarierte (160512). Dass rund ein Drittel der EU-Staaten das Projekt ablehnte, ignorierte sie ebenfalls souverän (170406), bis diese Sturheit den Franzosen dann doch zu weit ging und sie ihr einen Dämpfer versetzten (190201). Auch in Brüssel setzte sich im Zweifelsfall die Bundesregierung durch, wie der Schlingerkurs der Kommission bei der Privilegierung der Opal zeigt. Das Bemerkenswerteste an der Luxemburger Gerichtsentscheidung dürfte deshalb sein, dass hier auf höchstinstanzlicher Ebene die Besorgnisse der osteuropäischen Staaten wegen der Ostsee-Pipeline für berechtigt erklärt werden – zumindest insoweit, als die EU-Kommission verpflichtet gewesen wäre, sich "im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten" damit auseinanderzusetzen.
An der ursprünglichen, auf 22 Jahre befristeten Freistellung der Opal von der Regulierung ändert das Urteil nichts. Es korrigiert lediglich die Ansicht der Kläger, die 2016 erfolgte Änderung dieser Ausnahmegenehmigung habe juristisch die Qualität einer neuen Ausnahmegenehmigung gehabt. Da die Opal 2011 in Betrieb genommen wurde, wird die Gazprom also noch bis 2033 dieses Privileg behalten. Sie wird sich aber nun überlegen müssen, ob sie wirklich die Hälfte der Kapazität ungenutzt lassen will.
Wieweit das Urteil sonst praktische Folgen hat und ob es nach Inbetriebnahme der zweiten Ostsee-Pipeline tatsächlich den restlichen Gasfluss durch die alten Leitungsverbindungen via Polen und Ukraine erhöht, bleibt abzuwarten. Der Ferngasleitungsnetzbetreiber Gascade, der bis 2012 Wingas Transport hieß und ein Gemeinschaftunternehmen von BASF und Gazprom ist (121101), plant bereits den Bau der Europäischen Gasanbindungsleitung "Eugal". Mit einer jährlichen Transportkapazität von 55 Milliarden Kubikmeter wird die Eugal die über die zweite Trasse ankommenden Gasmengen komplett aufnehmen können. Sie verläuft dabei mit zwei Strängen parallel zur Opal. Der erste Strang endet nach 329 Kilometer bei Weißack (Brandenburg), der zweite nach 480 Kilometer bei Deutschneudorf (Sachsen) kurz vor der tschechischen Grenze. Dort übernimmt der Netzbetreiber Net4Gas bis zu 21 Milliarden Kubikmeter jährlich, um sie dann weiter nach Tschechien, die Slowakei oder auch nach Deutschland zu transportieren. Dabei wird von vornherein akzeptiert, dass die Leitung der üblichen Regulierung unterliegt, wie das von Anfang an auch bei der Nordeuropäischen Erdgasleitung "NEL" der Fall war, die das aus Russland ankommende Gas vom Anlandungspunkt bei Lubmin nach Westen transportiert (131011). Auf die Augenwischerei mit der Verlagerung des Ausspeisepunktes hinter die tschechische Grenze wird deshalb bei der Eugal-Pipeline verzichtet.