Mai 2011 |
110501 |
ENERGIE-CHRONIK |
Union und FDP haben sich in der Nacht zum 30. Mai darauf verständigt, bis Ende 2022 vollständig aus der Kernenergie auszusteigen. Die vom "Moratorium" betroffenen sieben ältesten Kernkraftwerke (110302) sowie das Kernkraftwerk Krümmel sollen nicht mehr ans Netz gehen. Die Koalition zieht damit den abrupten Kurswechsel in der Atompolitik, den die Bundeskanzlerin nach der Katastrophe von Fukushima verkündete (110303), konsequent durch. Sie will so glaubwürdig den Eindruck vermitteln, daß ihr Kursschwenk nicht nur ein wahltaktisches Manöver ist und daß sie den Ausstieg aus der Kernenergie sogar noch nachdrücklicher betreibt als einst die rot-grüne Koalition. Faktisch ist der jetzt vereinbarte Ausstieg aber keineswegs radikaler als die von 2002 bis 2010 geltende Fassung des Atomgesetzes. Je nachdem, wie die noch offenen Punkte in dem nun folgenden Gesetzgebungsverfahren präzisiert werden, dürfte der schwarz-gelbe Ausstieg für die Kernkraftwerksbetreiber sogar günstiger sein.
Formal stützt die Koalition ihre Entscheidung auf die Berichte, die am 17. Mai von der Reaktorsicherheitskommission (RSK) und am 30. Mai von der sogenannten Ethik-Kommission vorgelegt wurden. Die RSK gelangte als Ergebnis ihrer Sicherheitsüberprüfung aller 17 deutschen Kernkraftwerke zu dem Schluß, daß es keinen Grund für ein überstürztes Abschalten von Kernkraftwerken gebe (110506). Die Ethik-Kommission empfahl in ihrem Abschlußbericht den Ausstieg aus der Kernenergie "innerhalb eines Jahrzehnts". Die Erstellung der beiden Berichte war von der Bundesregierung zusammen mit dem Moratorium beschlossen worden. Indessen sind sie nur von untergeordneter Bedeutung und haben vor allem legitimierenden Charakter.
Die dauerhafte Abschaltung der sieben ältesten Kernkraftwerke ist den Betreibern insofern zumutbar, als damit lediglich die soeben gewährte Laufzeitenverlängerung um acht Jahre wieder rückgängig gemacht wird. Aufgrund der alten Ausstiegs-Regelung aus dem Jahr 2002, der die KKW-Betreiber zugestimmt haben, wären diese Anlagen sowieso in diesem oder im nächsten Jahr vom Netz gegangen. Zum Teil hätten sie sogar schon längst abgeschaltet werden müssen, wenn die Betreiber nicht die Abarbeitung der zugestandenen Reststrommengen mit Blick auf die geplante Revision des Atomgesetzes durch die schwarz-gelbe Koalition absichtlich verzögert hätten. Generell befristete die alte Ausstiegs-Regelung die Regellaufzeit der bestehenden Kernkraftwerke auf 32 Jahre ab Inbetriebnahme. Da die sieben alten Anlagen zwischen 1975 und 1980 in Betrieb gingen, haben alle bis spätestens 2012 diese Betriebsdauer erreicht. Die Bundesregierung braucht deshalb auch Klagen der Betreiber wegen Verletzung von Eigentumsrechten nicht sonderlich zu fürchten.
Anders verhält es sich beim Kernkraftwerk Krümmel, das die schwarz-gelbe Koalition ebenfalls abschalten will, obwohl sie ihm wie den anderen neun neueren Reaktoren eben erst eine Laufzeitverlängerung um 14 Jahre spendiert hat. Nach der alten Ausstiegs-Regelung hätte Krümmel seine Reststrommenge bei Normalbetrieb erst 2019 abgearbeitet gehabt. Das Koalitionspapier sieht deshalb vor, daß Vattenfall diese Reststrommenge "aus eigentumsrechtlichen Gründen" auf andere KKW übertragen darf. Dasselbe gilt für die Reststrommenge, die einst RWE für den Verzicht auf Mülheim-Kärlich zugestanden wurde. Im Sommer 2010 wurden von dieser Reststrommenge 8100 Gigawattstunden auf Biblis B übertragen. Dennoch sind noch immer 99150 Gigawattstunden unverbraucht.
Wie mit den neun anderen Reaktoren verfahren werden soll, die in den achtziger Jahren in Betrieb gingen, ergibt sich aus dem Papier des Koalitionsausschusses nicht eindeutig. "Wir werden schrittweise bis Ende 2022 vollständig auf die Kernenergie verzichten", heißt es dazu lediglich (siehe Wortlaut). Mündlichen Erläuterungen aus Koalitionskreisen zufolge ist das so zu verstehen, daß die sechs älteren Anlagen bis 2021 vom Netz gehen und die drei jüngsten noch ein Jahr länger produzieren dürfen. Die Kernkraftwerke Grafenrheinfeld (1982), Gundremmingen B und C (1984/1985), Philippsburg 2 (1985), Grohnde (1985), Brokdorf (1986) würden somit bis 2021 abgeschaltet. Gegenüber der alten Ausstiegsregelung wäre das eine Verlängerung der Laufzeiten bis zu sieben Jahren. Neckarwestheim 2 (1989), Isar 2 (1988) und Emsland (1988) dürften bis 2022 am Netz bleiben. Für Neckarwestheim 2 entspräche dies der alten Regelung, für die beiden anderen würde es eine Laufzeiten-Verlängerung um zwei Jahre bedeuten.
Die Konkretisierung des "schrittweisen" Verzichts auf die neun neueren Reaktoren gehört wohl zur Verhandlungsmasse bei den Gesprächen, die jetzt mit den KKW-Betreibern und anderen Beteiligten stattfinden. Das schlimmste, was den KKW-Betreibern dabei passieren könnte, würde ungefähr der alten Ausstiegsregelung entsprechen. Wahrscheinlich wird ihnen aber ein deutlich bessere Lösung geboten – auch mit Blick auf die neu eingeführte Brennelementesteuer (101002), die eigentlich zu den Gegenleistungen für die Laufzeiten-Verlängerung gehörte, aber nicht rückgängig gemacht werden soll. Naturgemäß wird diese Steuer jetzt aber weit weniger einbringen als geplant.
Die Zahlungen in den neu geschaffenen "Energie- und Klimafonds", die ebenfalls zu den Gegenleistungen gehören sollten und von den KKW-Betreiber inzwischen eingestellt wurden (110403), lassen sich dagegen nicht erzwingen. Die Koalition will deshalb diesen Fonds nun dadurch füllen, daß sie ihm sämtliche Erlöse aus der Auktionierung von Emissionshandels-Zertifikaten zukommen läßt. Mit bis zu 500 Millionen Euro aus diesem Fonds soll eine "Strompreiskompensation für energieintensive Industrien" finanziert werden, da als Folge der gegenwärtig betriebenen Energiepolitik die Strompreise noch weit stärker steigen werden. Ferner will die Bundesregierung daraus 1,5 Milliarden für die "Gebäudesanierung" abzweigen und "Ausgaben für Elektromobilität" bestreiten.
Daß die erst vor fünf Monaten beschlossene Verlängerung der Laufzeiten für alle Kernkraftwerke ein Fehler war, will die schwarz-gelbe Koalition nicht eingestehen. Sie distanziert sich auch keineswegs von diesem Punkt ihres "Energiekonzeptes" (100902). Sie beruft sich vielmehr darauf, daß in diesem Papier die Kernenergie als "Brückentechnologie" bezeichnet worden sei. Wegen der "bis dahin unvorstellbaren Havarie von Fukushima" sei man nun gewissermaßen gezwungen, diese Brücke zu verkürzen. Man werde das Energiekonzept "fortentwickeln" und "den im Herbst beschlossenen Weg noch schneller und konsequenter gehen".
Der einfachste und sachdienlichste Weg wäre sicher gewesen, die alte Ausstiegs-Regelung wieder in Kraft zu setzen. Dies kam aber aus rein taktischen, propagandistischen Gründen nicht in Betracht. Schließlich wollte die schwarz-gelbe Koalition nicht im Büßergewand daherkommen, sondern als forscher Beschleuniger des Atomausstiegs, der seinen Vorgänger noch übertrumpft. So kam das "Moratorium" zustande, das hauptsächlich einen politischen Show-Effekt bezweckte. Der nunmehr vorliegende Bericht der Reaktorsicherheitskommission macht außerdem klar, daß es eine Milchmädchenrechnung wäre, die Sicherheit der Kernkraftwerke am Jahr ihrer Inbetriebnahme festzumachen (110506). Auch sonst war das Moratorium unsinnig, da es die ohnehin schon teilweise prekäre Lage in den Netzen verschärfte und den Netzbetreibern große Anstrengungen abverlangte, um die Versorgungssicherheit aufrechtzuerhalten.
Die Koalition will sich nun aber nicht ganz den Bedenken der Bundesnetzagentur und anderer Fachleute verschließen, daß die Versorgungssicherheit durch den schlagartigen Wegfall von acht Kernkraftwerken mit einer Kapazität von 8,4 Gigawatt gefährdet sein könnte (110401). Sie drängt deshalb auf eine schnelle Fertigstellung der derzeit im Bau befindlichen fossil befeuerten Kraftwerke. Ferner will sie bis 2020 den Zubau von weiteren 10 Gigawatt an gesicherter Kraftwerksleistung ermöglichen, die Kraft-Wärme-Kopplung ausbauen und den Netzausbau vorantreiben. Falls dennoch Versorgungsengpässe auftreten, sollen zunächst fossil befeuerte Kraftwerke aus der Reserve geholt werden. Auf besonderen Wunsch der FDP wird außerdem bis zum Frühjahr 2013 eines der acht abgeschalteten Kernkraftwerke in einem Zustand verbleiben, der die Wiederinbetriebnahme erlaubt. Die Auswahl trifft die Bundesnetzagentur. Da hauptsächlich im Süden mit Problemen zu rechnen ist, gelten Philippsburg 1 oder Biblis B als Kandidaten.
Dieser Reaktor im Bereitschaftszustand ist eine weitere Abstrusität im Ausstiegs-Szenario der Bundesregierung, die sich schon mit ihrem "Moratorium" souverän über technische Gegebenheiten hinwegsetzte. Praktisch müßte es sich um ein Kernkraftwerk handeln, das lediglich mit verminderter Leistung gefahren wird, denn sonst würde die Inbetriebnahme tage- oder wochenlang dauern. Auch bei völliger Abschaltung würde das Kernkraftwerk hohe Kosten verursachen, die als Systemdienstleistung die Netzentgelte belasten.