Mai 2011 |
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ENERGIE-CHRONIK |
Nach stundenlangen Verhandlungen einigte sich der Koalitionsausschuß von CDU/CSU und FDP am 29. Mai auf das folgende Konzept für den Ausstieg aus der Kernenergie. Es trägt im Original den Titel "Der Weg zur Energie der Zukunft - sicher, bezahlbar und umweltfreundlich".
Deutschland ist eines der leistungsfähigsten und wirtschaftlich erfolgreichsten Länder der Welt. Eine wettbewerbsfähige Energieversorgung unserer Unternehmen ist die Voraussetzung dafür. Dabei muss und wird es bleiben. Unsere Bürger vertrauen darauf, dass Strom zu jeder Tages- und Nachtzeit, in jeder Menge und zu bezahlbarem Preis vorhanden ist. Darauf können sie sich weiter verlassen. Wir wollen, dass unser Energiesystem die natürlichen Lebensgrundlagen bewahren und unser Klima schützen hilft. Zu diesen Zielen stehen wir. Wir wollen in Deutschland nicht von Stromimporten abhängig sein, sondern unseren Nettobedarf eigenständig erzeugen können. Das ist auch weiterhin unser Anspruch.
Deutschland hat die gesellschaftliche Grundentscheidung getroffen, unsere Energieversorgung in Zukunft aus erneuerbaren Quellen zu decken. Im Herbst 2010 hat die Bundesregierung in ihrem Energiekonzept den Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien festgelegt. Die Kernenergie hat darin nur solange eine Brückenfunktion, bis die erneuerbaren Energien ihre Rolle übernehmen können und das dafür notwendige Energienetz errichtet ist. Dieser präzise Bauplan einer sicheren, umweltschonenden und wettbewerbsfähigen Energieversorgung bleibt gültig und ist die Grundlage der heutigen Entscheidungen.
Nach der bis dahin unvorstellbaren Havarie von Fukushima müssen wir die Rolle der Kernkraft allerdings überdenken. Diese Katastrophe mit ihren immer noch nicht ganz abzusehenden Folgen macht es notwendig, die Restrisiken der Kernkraft neu zu bewerten. Wir werden deshalb unser Energiekonzept fortentwickeln und den im Herbst beschlossenen Weg noch schneller und konsequenter gehen. Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien so schnell wie möglich erreichen, um so früh wie möglich aus der Kernenergie aussteigen zu können. Dabei bleibt es bei den Bedingungen, die wir für diesen Weg zugrunde legen: Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit, Umwelt- und Klimafreundlichkeit.
Deutschland steht vor einem tiefgreifenden Umbau seiner Energieversorgung - dies ist eine Aufgabe für die nächsten Jahrzehnte. Sie kann nur gelingen, wenn es eine möglichst breite gesellschaftliche Unterstützung für diesen Umbau und die damit verbundenen Anforderungen an uns alle gibt. Die Bundesregierung hat deshalb eine unabhängige Ethikkommission berufen, die zu allen Fragen der zukünftigen Energieversorgung Stellung genommen hat. Die Ergebnisse ihrer Beratungen sind unsere Richtschnur bei den notwendigen energiepolitischen Entscheidungen.
Wir werden schrittweise bis Ende 2022 vollständig auf die Kernenergie verzichten. Die während des Moratoriums abgeschalteten sieben ältesten Kernkraftwerke werden nicht wieder ans Netz gehen. Das gilt ebenso für das KKW Krümmel. Reststrommengen von Krümmel sollen aus eigentumsrechtlichen Gründen auf andere KKW übertragbar sein, ebenso die Reststrommenge von Mühlheim-Kärlich.
Dieser Weg ist für Deutschland eine große Herausforderung. Er bedeutet aber vor allem eine Chance, gerade auch für kommende Generationen. Unser Land ist Vorreiter auf dem Weg in die Energieversorgung der Zukunft. Wir können als erste große Industrienation die Wende zu einem hocheffizienten, erneuerbaren Energiesystem schaffen. In der besten Tradition deutscher Ingenieure werden dabei neue Technologien und Produkte, neue Exportmöglichkeiten und damit Beschäftigung und Wachstum entstehen.
Um den Umbau unseres Energiesystems unter den Kriterien von Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltfreundlichkeit zu ermöglichen, trifft die christlich-liberale Koalition deshalb folgende Entscheidungen:
• Deutschland verfügt gegenwärtig über rund 90 GW gesicherter Leistung, davon entfallen rund 20 GW auf die Kernenergie.
• Die Spitzennachfrage in Deutschland liegt etwa an kalten Wintertagen bei rund 80 GW.
• Die durch das Moratorium abgeschaltete Leistung und die vorher bereits vom Netz genommenen KKW umfassen 8,5 GW.
• Auch wenn die 7 ältesten KKW und das KKW Krümmel nicht wieder ans Netz gehen, können wir die Spitzenlast noch abdecken. Allerdings haben wir dann keinen Puffer mehr.
• Die Bundesregierung nimmt den jüngsten Bericht der Bundesnetzagentur zu den Auswirkungen des Kernkraftwerks-Moratoriums auf die Übertragungsnetze und die Versorgungssicherheit ernst. Danach sind insbesondere zur Frage der Netzstabilität in Süddeutschland weitere Faktenerhebungen und Untersuchungen erforderlich. Die Versorgungssicherheit muss jederzeit und überall, auch unter extremen Bedingungen, gewährleistet sein. Wenn über die bestehende Leistung hinaus zusätzliche Kapazitäten erforderlich werden sollten, sind zunächst fossile Reservekraftwerke in Betrieb zu nehmen. Sollten diese nicht ausreichend vorhanden sein, muss die Reservefunktion von voraussichtlich einem der 7 Kernkraftwerke, deren Berechtigung zum kommerziellen Leistungsbetrieb ausläuft, übernommen werden. Das hierfür geeignete Kernkraftwerk, das zur Reserveleistung öffentlich in Anspruch genommen wird, ist durch die Bundesnetzagentur zu bestimmen. Diese Möglichkeit ist nur für die nächsten beiden Winterhalbjahre bis zum Frühjahr 2013 vorgesehen.
• Eine schnelle Fertigstellung der im Bau befindlichen fossil befeuerten Kraftwerke, die eine Leistung von rund 10 GW haben, ist bis 2013 unabdingbar.
• Außerdem brauchen wir bis 2020 einen Zubau von weiteren 10 GW an gesicherter Kraftwerksleistung. Wir wollen durch ein Planungsbeschleunigungsgesetz einen zügigen Aufbau dieser Kapazität sicherstellen.
• Ein neues Kraftwerksförderprogramm der Bundesregierung wird mit Blick auf kleine und mittelständische Energieversorger aufgelegt. Auch dies trägt zu mehr Versorgungssicherheit bei.
• Die Bundesregierung wird die Mittel für die KWK-Förderung effizienter einsetzen, um die Energieerzeugung aus KWK-Anlagen deutlich zu stärken, und über 2016 hinaus fortsetzen.
• Zwingend notwendig sind schnellere Fortschritte beim Netzausbau. Sowohl bei den Übertragungsnetzen als auch bei den Verteilnetzen müssen zahlreiche zusätzliche Leitungen gebaut werden. Hinzu kommen umfassende Erweiterungen in den Verteilnetzen. In den letzten Jahren konnte nur ein Bruchteil der erforderlichen Leitungen fertig gestellt werden.
- Deswegen legen wir das Netzausbaubeschleunigungsgesetz (NABEG) vor, mit dem zentrale länderübergreifende Projekte schneller fertig gestellt werden.
- Die Novelle des EnWG stärkt u.a. die Grundlagen für intelligente Netze und Speicher.
• Unser Ziel ist es, erneuerbare Energien schnell zur Marktkonformität zu führen und effizienter zu gestalten. Je rascher dies gelingt, desto stärker wird der Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energie auch die Wachstumsdynamik stärken.
• Es gilt, bestehende Kostensenkungspotenziale auszuschöpfen, so dass die Größenordnung der EEG-Umlage von derzeit 3,5 ct/kWh nicht überschritten wird und die Umlage langfristig Senkungspotentiale hat.
• Die rund eine Million Beschäftigten in der energieintensiven Industrie leisten einen wichtigen Beitrag für die Wertschöpfung in unserem Land. Die Bundesregierung wird für energieintensive Unternehmen daher umfassende Kompensationsregeln im Energie- und Klimafonds in Höhe von bis zu 500 Mio. € sowie ggfls. auch darüber hinaus aus dem Bundeshaushalt vorsehen. Dies werden wir auch auf europäischer Ebene konsequent flankieren. Darüber hinaus werden wir auch die Härtefallklausel im EEG flexibler und großzügiger ausgestalten.
• Die Wettbewerbsintensität auf dem deutschen Strommarkt bleibt weiterhin im Fokus. Die Bundesregierung wird u.a. eine Markttransparenzstelle einrichten.
III. Klima- und Umweltverträglichkeit
• Das anspruchsvolle Ziel einer 40%-Verringerung der Treibhausgasemissionen bis 2020 gegenüber 1990 hat unverändert Bestand.
• Den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung werden wir von heute gut 17 % bis 2020 auf 35 % verdoppeln.
• Das neue Offshore-Wind Programm der KfW sichert die Finanzierung der ersten 10 Offshore-Parks in Nord- und Ostsee. Nach der Zustimmung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages ist dieses Programm finanziell gesichert.
• Die Möglichkeiten für das Repowering von Windanlagen werden wir durch verschiedene Änderungen im Bauplanungsrecht ausweiten.
• Die Entwicklung und Anwendung neuer Speichertechnologien werden wir im Rahmen der Forschungsförderung (Energieforschungsprogramm) unterstützen, um die fluktuierende Energieerzeugung aus erneuerbaren Energien zu verstetigen.
• Mit weiteren Maßnahmen für eine höhere Energieeffizienz, etwa ambitio-nierte europäische Standards für energieverbrauchende Geräte ("Top-Runner-Ansatz"), werden wir den Stromverbrauch bis 2020 um 10 % senken.
• Wir stellen den Energie- und Klimafonds auf ein solides Fundament, indem wir alle Erlöse aus der Auktionierung der Emissionszertifikate dem Fonds zur Verfügung stellen. Ausgaben für Elektromobilität werden ebenso wie bis zu 500 Mio. € Strompreiskompensation für energieintensive Industrien vom Energie- und Klimafonds getragen. Damit können wir das KfW-Gebäudesanierungsprogramm mit einem Programmvolumen von 1,5 Mrd. € p.a. ausstatten.
• Die energetische Sanierung von Gebäuden spart CO2 und Energie. Wir werden daher außerdem
- zusätzliche Abschreibungsmöglichkeiten im Gebäudesektor einrichten auf Basis des § 82 a a.F. EStDV (Abschreibemöglichkeit 10%) und
- langfristig Finanzierungsmöglichkeiten der Gebäudesanierung auf marktorientierter Basis einrichten (Prüfauftrag weiße Zertifikate).
• Den eingeleiteten Prozess für eine klimafreundliche Mobilität durch Elektrofahrzeuge werden wir in Zusammenarbeit mit der Nationalen Plattform Elektromobilität (NPE) weiterentwickeln.
• Die Generationen, die die Kernenergie nutzen, müssen sich auch um die Lagerung der anfallenden radioaktiven Abfälle sorgen. Dies schließt die ergebnisoffene Weitererkundung von Gorleben ebenso ein wie ein Verfahren zur Ermittlung allgemeiner geologischer Eignungskriterien und möglicher alternativer Entsorgungsoptionen.
• Die Einnahmen aus der Brennelementesteuer dienen u.a. dem Zweck, die aus der notwendigen Sanierung der Schachtanlage Asse II entstehenden Haushaltsbelastungen zu reduzieren.
Diese energiepolitischen Weichenstellungen setzen Rahmenbedingungen für eine Neuausrichtung unserer Energieversorgung. Die Bundesregierung wird dies in einem Monitoringprozess begleiten, um die Erreichung der energiewirtschaftlichen Ziele Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit zu gewährleisten, ohne die Entscheidung zum Ausstieg aus der Kernenergie noch einmal in Frage zu stellen. Die Bundesregierung wird daher die Umsetzung des Maßnahmenprogramms regelmäßig überprüfen. Sie wird dazu einen Kreis unabhängiger Behörden (insbesondere Statistisches Bundesamt, Bundesnetzagentur, Umweltbundesamt, Bundeskartellamt) beauftragen, gemeinsam zu zentralen energiepolitischen Fragen jährlich zu berichten. Dabei wird der Bundeswirtschaftsminister über den Netzausbau, den Kraftwerksausbau und Ersatzinvestitionen sowie zur Energieeffizienz berichten. Der Bundesumweltminister wird über den Ausbau der erneuerbaren Energien berichten. Auf dieser Grundlage wird die Bundesregierung den Deutschen Bundestag unterrichten und ggf. Empfehlungen aussprechen. Der Deutsche Bundestag wird auf dieser Grundlage dann ebenfalls eingehend beraten und debattieren.
Zu den längerfristigen Zukunftsaufgaben, die wir bereits heute in den Blick nehmen müssen, gehören:
• die Verbesserung der Sicherheit von Kernkraftwerken in Europa und weltweit. Die Bundesregierung hat diesen Prozess in der Europäischen Union und im Kreis der führenden Wirtschaftsnationen bereits erfolgreich begonnen;
• die Weiterentwickelung des europäischen Energiebinnenmarktes, der zusätzliche Effizienzreserven mobilisiert und Unternehmen wie Haushalten einen bestmöglichen Service bei hoher Transparenz bietet;
• der marktgetriebene Aufbau intelligenter Netze national und grenzüber-schreitend mit dem Ziel eines hocheffizienten Netzverbundes;
• die Entwicklung und Anwendung neuer Speichertechnologien, um die fluktuierende Energieerzeugung aus erneuerbaren Energien zu verstetigen;
• weitere Fortschritte beim Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland und Europa und ihr effizientes Zusammenwirken;
• neue marktorientierte Strategien für mehr Energieeffizienz, mit denen die Potenziale sowohl bei Gebäuden als auch beim Stromverbrauch konsequent genutzt werden (z.B. weiße Zertifikate);
• neues Marktdesign für den Strommarkt, damit flexible und sichere Kapazitäten auch bei einer weitgehend auf erneuerbaren Energien basierenden Versorgung jederzeit verfügbar sind.
Leitbild bei diesen Herausforderungen sollte es sein, die Ziele des Energiekonzepts konsequent umzusetzen und dabei den Wettbewerb in Energiewirtschaft und Industrie in Europa nachhaltig zu stärken. Für diesen Weg werden wir uns auch auf europäischer und internationaler Ebene einsetzen.
Berlin, den 29. Mai 2011