Oktober 2023 |
231006 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die Energieminister der EU einigten sich am 17. Oktober auf eine gemeinsame Position zu den Vorschlägen, die von der Kommission im März dieses Jahres zur Reform des Strommarktes vorgelegt wurden. Der strittigste Punkt waren dabei die "zweiseitigen Differenzverträge" für neue Investitionen in die Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien und Kernenergie, die in Deutschland die Befürchtung auslösten, sie könnten von Frankreich für hoch subventionierte Industriestrompreise mißbraucht werden (230905). Diese Befürchtung scheint nun aufgrund von französischen Zugeständnissen ausgeräumt zu sein, wobei auch die deutsche Regierung Zugeständnisse machte. Die vom Bundeswirtschaftsministerium am 17. Oktober veröffentlichte Mitteilung zur "Einigung" enthält allerdings keinerlei Details, und auch das vom Rat am 19. Oktober veröffentlichte Ergebnispapier ist wenig aussagekräftig.
Als zentralen Bestandteil der geplanten Strommarkt-Reform hat die Kommission vorgeschlagen , die Preisbildung für Strom aus neuen EE-Anlagen und Kernkraftwerken auf "Contracts for Differences" (CFD) umzustellen. Bei diesem Konzept schließen Staat und Unternehmen langfristige Verträge, die einen bestimmten Preis pro Kilowattstunde garantieren. Wenn dann der Marktpreis niedriger ist, bekommen die Unternehmen die Differenz zum Garantiepreis vom Staat bezahlt. Im umgekehrten Fall, wenn also der Marktpreis über dem Garantiepreis liegt, hat der Staat Anspruch auf den Überschuss. Bei konsequenter Anwendung auf alle neuen EE-Anlagen hätte eine solche vertragliche Konstruktion sicher eine preisstabilisierende Wirkung. Wenn sich dann eine Situation wie im Vorjahr wiederholen würde, müssten die Betreiber von Windparks und anderen EE-Anlagen sämtliche "Windfall-profits", die durch die explodierenden Großhandelspreise entstehen und naturgemäß den vereinbarten Garantiepreis übersteigen, umgehend an den Staat abführen, der sie wiederum zur Entlastung der Verbraucher verwenden könnte.
In Deutschland hätte man wenig Probleme mit diesem Vorschlag, wenn er sich jeweils nur auf neue Erneuerbaren-Anlagen oder Kernkraftwerken beziehen würde. Frankreich tut sich aber bekanntlich sehr schwer mit der Errichtung neuer Kernkraftwerke – bisher ging kein einziges in Betrieb – und möchte deshalb die Regelung vor allem auf seine 56 Bestandsanlagen anwenden können. Inoffiziellen Verlautbarungen zufolge sieht die Einigung so aus, dass dies prinzipiell erlaubt wird, soweit es sich um notwendige und erhebliche Neuinvestitionen handelt. Deren Höhe wird von der EU-Kommission kontrolliert und muss sich in den vom Staat garantierten Preisen pro Megawattstunde widerspiegeln. Damit soll verhindert werden, dass die französische Regierung mit dem staatlichen Strommonopolisten EDF sehr niedrige Garantiepreise vereinbart, die stark unter den realen Kosten der modernisierten Kernkraftwerke liegen. Andernfalls würde der französischen Industrie zu einem Wettbewerbsvorteil verholfen, der über die anfallenden Ausgleichszahlungen an die EDF insgeheim vom Staat finanziert wird. Dass diese Befürchtung keineswegs unbegründet ist, zeigt auch ein bemerkenswerter Meinungsunterschied bei der Frage, wie ein angemessener Garantiepreis aussehen soll: Während die Energieregulierungsbehörde CRE von etwa 60 Euro pro Megawattstunde ausgeht – das ist immerhin ungefähr die Hälfte mehr als der bisherige "Prix ARENH" für Atomstrom – , verblüffte der neue EDF-Vorstandsvorsitzende Luc Rémont mit der Feststellung, dass aus Sicht des Kernkraftwerkbetreibers ein doppelt so hoher Preis erforderlich wäre.
Schon bisher widerspiegeln die Preise für den französischen Strom nicht die tatsächlichen Kosten, sondern sind staatlich reglementiert. Das gegenüber Deutschland günstigere Strompreisniveau liegt nicht etwa daran, dass der französische Atomstrom grundsätzlich billiger erzeugt werden könnte als anderenorts, wo er ohne massive Staatshilfen nicht mehr wirtschaftlich ist (und bei genauer Betrachtung aller Gesamtkosten es auch in der Vergangenheit noch nie war). Es liegt vielmehr an der Historie und Struktur des französischen Nuklearkomplexes, der von Anfang an ein siamesischer Zwilling war, bei dem sich die militärische und die zivile Seite kaum voneinander trennen lassen. Ähnlich wie die "Force de frappe" im militärischen Bereich hatte auch der KKW-Betreiber EDF im zivilen Bereich primär eine politische Dienstleistung zu erfüllen, nämlich jenen "service public", auf den sich die Pariser Regierung in ihrem Abwehrkampf gegen die Liberalisierung des europäischen Strommarkts jahrelang berief (010613, 030707). Zu dieser Dienstleistung im öffentlichen Interesse gehörten vor allem Strompreise, die nicht auf Gewinn abzielten und selbst unter dem engen Aspekt der reinen Betriebskosten nicht rentabel sein mussten, weil die KKW-Reaktoren ebenso wie der militärische Teil des Nuklearkomplexes mit Steuergeldern errichtet wurden und der Staat sowieso sämtliche Risiken abdeckte.
Als Privatunternehmen hätte die EDF deshalb schon längst Insolvenz anmelden müssen. So wurde sie aber immer wieder vom Staat gerettet, der als Eigentümer dazu auch verpflichtet war und sich eine derartige Pleite keinesfalls leisten könnte. Es war auch eher eine abgestimmte PR-Aktion als echtes Aufbegehren, als die EDF vor einem Jahr die Regierung beim Staatsrat auf eine hohe Milliardenentschädigung verklagte (220813): Beide wollten so die Öffentlichkeit darauf einstimmen, dass es wie bisher nicht weitergehen kann und neue Lösungen für Frankreichs Sonderrolle in der europäischen Stromwirtschaft gefunden werden müssen, denen auch die EU-Kommission zustimmen kann.
Ende 2025 läuft nämlich das "Loi Nome" aus ("Nouvelle organisation du marché de I'électricité"), das 2011 unter dem Druck der EU-Kommission beschlossen wurde, um den von Brüssel für unabdingbar gehaltenen Mindestbeitrag zur Liberalisierung des Strommarktes zu leisten. Dieses Gesetz beseitigte zwar nicht das landesweite Monopol der Electricité de France (EDF), kratzte es aber doch ein bißchen an, indem nun auch die GDF Suez (heute Engie) und eine Reihe anderer Stromanbieter von den relativ günstigen Betriebskosten der Kernkraftwerke profitieren durften, die in den siebziger und achtziger Jahren mit Steuergeldern errichtet wurden (110203). Dafür sorgte der "Prix ARENH" (Accès Régulé au Nucléaire Historique), der ab 1. Juli 2012 den seit 2007 geltenden Übergangstarif für Industriekunden ersetzte und 40 Euro pro Megawattstunde betrug (110406).
Der "Prix ARENH" verpflichtet die EDF bis heute, einen Teil des von ihr mittels "historischer Kernenergie" erzeugten Stroms zu moderaten Preisen anderen akkreditierten Stromanbietern zu überlassen (220205). Mit der historischen Kernenergie sind alle Reaktoren gemeint, die bis 1999 errichtet wurden und sich noch am Netz befinden. Weitere sind bisher allerdings nicht hinzugekommen, denn das einzige neue KKW, das am Standort Flamanville in Angriff genommen wurde und bis 2012 vollendet sein sollte (041006), ist auch ein Jahrzehnt später noch nicht am Netz. Durch die vor zwei Jahren erfolgte Stilllegung des KKW Fessenheim sind es sogar zwei Reaktoren weniger geworden (200616). Der französische Atomstrom stammt also bis heute komplett aus "historischer Kernenergie".
Die Pariser Regierung durfte nicht erwarten, dass die EU-Kommission einer Verlängerung des "Loi Nome" und des "Prix ARENH" zustimmen würde. Das hätte auch gar nicht zur Reform des EU-Strommarkts gepasst, die gerade von ihr sehr nachdrücklich gefordert wurde. Die zweckmäßige Gestaltung und ausgiebige Nutzung des neuen Instruments zweiseitiger Differenzverträge, um durch besonders günstige Garantie-Strompreise die französische Industrie wettbewerbsfähiger zu machen, wäre aber sicher ein mehr als vollwertiger Ersatz gewesen. Ob es jetzt tatsächlich anders kommt, bleibt abzuwarten.
Den Hintergrund der Bemühungen um eine Strommarktreform bildet letztendlich, dass die EU-Kommission weiterhin nicht an den Börsenmechanismus zu rühren wagt, der im vergangenen Jahr die absurd hohen Großhandelspreise für Strom verursachte, die um ein Vielfaches über den tatsächlichen Erzeugungskosten lagen (siehe Hintergrund, Januar 2023). Der wunde Punkt ist dabei die Verkoppelung der "Merit Order" – eines an sich vernünftigen Prinzips zur Preisbestimmung – mit dem betriebwirtschaftlichen Theorem der "Grenzkosten". Infolge der stark gestiegenen Gaspreise ergeben sich daraus weit höhere Großhandelspreise, als dem tatsächlichen Kostenanteil von Erdgas an der Stromerzeugung entspricht, weil sämtliche Anbieter in den Genuss der vom Gas gesetzten Grenzkosten kommen. Angemessen und vernünftig wäre dagegen der "Grenzpreis", der sich aus den Durchschnittskosten sämtlicher zur Bedarfsdeckung nötigen Stromquellen ergibt (siehe Hintergrund, Oktober 2021).
Genau genommen ist es deshalb nicht die Merit Order, an der die Kommission unbedingt festhalten will (wie es oft dargestellt wird), sondern deren Koppelung mit dem Grenzkosten-Theorem. Dieser Mechanismus war schon immer sehr fragwürdig und willkürlich. Durch die Explosion der Gaspreise hatte er aber katastrophale Folgen für die Großhandelspreise, die weit entfernt von den tatsächlichen Kosten der Stromerzeugung in die Höhe schossen. Durch diese Verzerrung liegt der Großhandelspreis, der früher im langjährigen Mittel bei etwa 38 Euro pro Megawattstunde lag, noch immer über 100 Euro und kann jederzeit wieder steigen. Es fand nicht einmal eine Diskussion darüber statt, wie das Übel an seiner Börsen-Wurzel gepackt werden könnte. Zumindest hat man davon nichts gehört. Falls es tatsächlich Gründe geben sollte, nicht an diesen vertrackten Mechanismus zu rühren, wäre die EU-Kommission zumindest eine überzeugende Erklärung schuldig. Mit ihrem Schweigen untergräbt sie das ohnehin nicht sonderlich große Vertrauen in ihre Kompetenz noch mehr, als dies schon der Fall ist.
Auch im aktuellen Papier zur Ministerratssitzung vom 19. Oktober spricht die Kommission nur sehr vage davon, dass die Energiekrise "eine Reihe wichtiger Mängel bei der Gestaltung des Strommarkts aufgedeckt" habe, "die mit den Auswirkungen hoher und volatiler Preise für fossile Brennstoffe auf die kurzfristigen Strommärkte zusammenhängen" und "erhebliche Preissteigerungen" für Haushalte und Unternehmen bewirken. Immer mehr Haushalte gerieten so in eine "Energiearmutsfalle". Durch die Änderungen an der Gestaltung des Strommarkts wolle sie "sicherstellen, dass die Vorteile des zunehmenden Einsatzes erneuerbarer Energien und der Energiewende insgesamt den Verbrauchern zugute kommen, auch den Schwächsten, und sie letztendlich vor Energiekrisen geschützt und diese vermieden werden".
Das klingt sehr fürsorglich. Anscheinend sieht die Kommission auch ein, dass nachträgliche Reparaturmaßnahmen wie die Teil-Abschöpfung der Übergewinne von Stromerzeugern oder die Einführung von Energiepreisbremsen zum Schutz der Verbraucher vor übermäßiger Abzocke keine dauerhaft praktikable Lösung sein können (und es schon bisher nicht waren). Da sie aber an den fatalen Börsenmechanismus nicht rühren möchte und ihn als den eigentlichen wunden Punkt am liebsten erst gar nicht offen anspricht, sucht sie jetzt den Ausweg aus diesem Dilemma in vorbeugenden Maßnahmen zur Preisstabilisierung.
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