Oktober 2012 |
121006 |
ENERGIE-CHRONIK |
Bei einem Referendum in Litauen hat am 15. Oktober die Mehrheit der Bürger gegen den Neubau eines Kernkraftwerks gestimmt. Das Referendum war mit der ersten Runde der Parlamentswahl gekoppelt worden. Die Aussage "Ich unterstütze den Bau eines neuen Kernkraftwerks in der Litauischen Republik" wurde von 63 Prozent der Wähler verworfen. Die regierende Koalition der Konservativen, die sich für das KKW-Projekt stark gemacht hat, erlitt auch bei den Wahlen eine schwere Niederlage – allerdings nicht wegen der KKW-Frage, sondern wegen ihrer rigiden Sparpolitik.
Das Ergebnis des Referendums ist nach Ansicht von politischen Beobachtern nicht unbedingt als grundsätzliche Ablehnung eines KKW-Neubaues zu werten. Es richtet sich eher gegen die Auftragsvergabe an das japanische Unternehmen Hitachi-GE Nuclear Energy, das neben dem stillgelegten Kernkraftwerk Ignalina einen Siedewasser-Reaktor mit einer Leistung von 1300 MW errichten soll. Die alte Anlage deckte einst mit zwei Reaktoren des Tschernobyl-Typs RBMK vier Fünftel des litauischen Stromverbrauchs. Wegen der gravierenden Sicherheitsmängel mußte sie auf Verlangen der EU abgeschaltet werden (100102). Zur Vermeidung unerwünschter Assoziationen hat man das neue Projekt nach der benachbarten Stadt Visaginas benannt, obwohl es praktisch am selben Standort geplant wird und die dort bereits vorhandene Infrastruktur nutzen soll. Zur Ablehnung des Referendums hat sicher beigetragen, daß nach der Katastrophe von Fukushima, deren Ausmaß mit Tschernobyl verglichen werden kann, nun ausgerechnet ein japanischer Reaktorbauer beauftragt wurde.
Es fiel von Anfang an schwer, für das "Kernkraftwerk Visaginas" einen Auftragnehmer zu finden, der technisch wie finanziell die erforderlichen Voraussetzungen mitbrachte. Auf die im Dezember 2009 erfolgte Ausschreibung im Amtsblatt der EU kamen bis November 2010 lediglich zwei Angebote. Das eine erfüllte die Voraussetzungen nicht. Das andere stammte von der Korea Electric Power Corporation (KEPCO). Die Koreaner wären bereit gewesen, sowohl das Kernkraftwerk zu bauen als auch gut die Hälfte der auf fünf Milliarden Euro veranschlagten Investitionssumme zu tragen. Kurz nach der Zusage zogen sie aber ihr Angebot zurück. Eine Begründung wurde nicht mitgeteilt. Inoffiziell verwies man in Litauen darauf, daß Kremlchef Putin dem Staat Südkorea zuvor einen Regierungsbesuch abgestattet habe...
Bis Juni 2011 lagen zwei neue Angebote vor: Das eine kam vom US-Konzern Westinghouse, das andere von Hitachi GE Nuclear Energy. Die Japaner waren offenbar wesentlich günstiger, da sie nach der Katastrophe von Fukushima unter einem lädierten Image litten und gern einen Referenz-Reaktor in der EU gebaut hätten, um dem abzuhelfen. Jedenfalls bekamen sie den Auftrag. "Fukushima war die Folge eines Tsunami, den wir hier im Baltikum nicht erwarten", begründete Litauens Ministerpräsident Andrius Kubilius die Entscheidung am 9. Oktober gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen". Seine Landsleute sahen das aber offenbar etwas anders, wie eine Woche später das Referendum zeigte.
Litauen hatte den Bau des Kernkraftwerk Visaginas Ende 2010 mit Lettland und Estland als gemeinsames Projekt vereinbart. Vierter im Bunde war zeitweilig Polen, das sich aber Ende 2011wieder zurückzog, weil es selber neue Kernkraftwerke bauen will (120306). Für Polen würde das KKW Visaginas sogar zum Konkurrenten, wenn die baltischen Staaten – die derzeit technisch noch immer am russischen Stromsystem hängen – in absehbarer Zeit in den westeuropäischen Verbund eingegliedert werden (090207). Die osteuropäischen EU-Mitglieder denken bei ihren KKW-Planungen nämlich auch an den Stromexport. Noch mehr gilt das für Rußland, das derzeit in seiner ostpreußischen Exklave um Kaliningrad (Königsberg) ein neues Kernkraftwerk baut. Sinnvoll ist dieser Aufwand nur, wenn sich der damit erzeugte Strom in den baltischen Staaten oder im westeuropäischen Verbund absetzen läßt. Keineswegs nur für den Eigenbedarf gedacht ist auch ein weiteres Kernkraftwerk, das dicht an der Grenze zu Litauen im weißrussischen Ostrowjez entstehen soll. Als Bauherr tritt hier der weißrussische Vasallenstaat des Diktators Lukaschenko auf. Die gesamte Bauausführung und Finanzierung besorgt jedoch der russische Atomkonzern Rosatom. Die Unterzeichnung eines entsprechenden Regierungsabkommens zwischen Moskau und Minsk erfolgte im März 2011 – vier Tage nach der Katastrophe von Fukushima.