September 1992 |
920902 |
ENERGIE-CHRONIK |
Auf der 15. Konferenz des Weltenergierats in Madrid machten die Vertreter der ehemaligen Ostblock-Staaten deutlich, daß ihnen westliche Hilfe für die Nachrüstung ihrer Kernkraftwerke zwar willkommen ist, daß sie aber alle Anlagen weiterbetreiben wollen und das damit verbundene Sicherheitsrisiko weit geringer einschätzen als westliche Experten. Vertreter Rußlands meinten sogar, daß die meisten Kernkraftwerke sowjetischer Bauart nicht wesentlich unsicherer seien als die Reaktoren im Westen. Als Beleg führten sie die geringere Zahl an Störfällen und Notabschaltungen an. Von westlicher Seite wurde dieser Argumentation unter Hinweis auf unterschiedliche Sicherheitsstandards und Definitionen von Störfällen widersprochen. Auch der Reaktor von Tschernobyl sei nach russischen Maßstäben vor der Katastrophe immer zuverlässig gelaufen, stellte ein deutscher Reaktor-Experte fest (Handelsblatt, 25.9.; Welt, 28. 9.).
Die Blöcke 1 und 3 des Kernkraftwerks Tschernobyl, die seit Frühjahr 1992 abgeschaltet sind, sollen schon in der zweiten Oktoberhälfte wieder ans Netz gehen. Der Vorsitzende des staatlichen Komitees für Reaktorsicherheit und Strahlenschutz der Ukraine, Nikolai Steinberg, begründete dies in Madrid mit Engpässen bei der Stromversorgung im Winter. Derzeit ist ungewiß, ob die Ukraine die ursprünglich für 1994 angekündigte Stillegung sämtlicher Blöcke in Tschernobyl realisieren wird (Handelsblatt, 28.9.; siehe auch 920511).
Die Welt (28.9.) schreibt dazu: "Der östliche Sinneswandel mindert die Erfolgsaussichten der international zu koordinierenden Bemühungen der Industrieländer um rasche Sanierung der Kernkraftwerke sowjetischer Provenienz noch mehr. ... Offenbar hat sich Moskau entschlossen, angesichts seiner wirtschaftlichen Misere das Erpressungspotential der unsicheren Reaktoren gegenüber dem Westen voll auszuspielen."
"Mit Tschernobyl leben - Warten auf den nächsten Gau" überschreibt dpa am 24.9. einen Hintergrundartikel zum merklich rauheren Klima zwischen West und Ost, was die Sicherheitsanforderungen für Bau, Betrieb und Verkauf von Kernkraftwerken betrifft: "Die zunehmenden Irritationen sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Atomindustrie der Russen auf die Weltmärkte zurück will. Die Katastrophe von Tschernobyl wird verdrängt, und der Sicherheitsstandard der neuen Generation von Atomkraftwerken wird gerühmt."
In einem Kernkraftwerk der nordrussischen Stadt Murmansk ist nach einer Meldung der Moskauer Nachrichtenagentur Interfax am 12.9. radioaktives Wasser aus einem undichten Tank ausgetreten. Die Betriebsleitung habe dem Unfall keine Bedeutung für die Sicherheit beigemessen. Nur eine geringe Menge des kontaminierten Wassers sei in bewohntes Gebiet geflossen (VWD, 13.9.; FR, 14.9.).
Das KKW Ignalina in Litauen ist am 6.9. wegen eines Rohrbruchs abgeschaltet worden. Nach Angaben der Kraftwerksleitung handelte es sich um ein Röhrensystem mit "schwach radioaktivem Wasser". Radioaktive Strahlung sei nicht freigeworden. Die beiden Reaktoren des KKW Ignalina sind vom gleichen Typ (RBMK) wie der Unglücksreaktor in Tschernobyl (VWD, 7.9.).
Im bulgarischen KKW Kosloduj ist am 22./23.9.
innerhalb von zwölf Stunden in zwei verschiedenen Reaktorblöcken
Feuer ausgebrochen. Beide Brände entstanden durch Kurzschlüsse
an den Generatoren. Nach Angaben der bulgarischen Nachrichtenagentur
BTA wurde das Feuer gelöscht, ohne daß es zur Freisetzung
von Radioaktivität kam (dpa/VWD, 23.9.).