März 2012

120306

ENERGIE-CHRONIK


 

Auferstanden aus Ruinen: Schon von 1982 bis 1989 wurde in Polen an einem Kernkraftwerk gebaut. Mit seinen vier WWER-Reaktoren hätte es den See Zarnowiec, der zur Kühlung dienen sollte, um schätzungsweise zehn Grad aufgeheizt. Jetzt gilt Zarnowiec erneut als aussichtsreichster Standort für das erste polnische Kernkraftwerk, das nach dem Willen der Regierung bis 2020 ans Netz gehen soll. Im Unterschied zum alten Projekt, dessen Beton-Ruine bis heute in der Landschaft steht, soll der Neubau einen geschlossenen Kühlkreislauf (Kühlturm) erhalten.

Foto: Jan Jerszynski

Polen treibt Einstieg in die Kernenergie voran

Die konservative polnische Regierung unter Donald Tusk treibt den Einstieg in die Kernenergie voran. Prinzipiell hat sie bereits vor über drei Jahren beschlossen, zumindest zwei Kernkraftwerke zu bauen, von denen eines bis 2020 in Betrieb geht. Mit Blick auf die mangelnde Akzeptanz der Kernenergie in der Bevölkerung und die Katastrophe von Fukushima wurden die Planungen aber vorerst eher diskret betrieben. Erst nach Tusks Wahlsieg im Oktober 2011 hat der mit der Ausführung der Pläne beauftragte staatliche Stromkonzern PGE Polska Grupa Energetyczna bzw. dessen neu gegründete Nukleartochter PGE Energia Jadrowa drei potentielle KKW-Standorte benannt. Zugleich zog sich PGE definitiv aus dem Kreis der Interessenten zurück, die am litauischen Standort Ignalina gemeinsam ein neues Kernkraftwerk errichten wollen (060307) und beendete die Verhandlungen mit Rußland über einen eventuellen Strombezug aus dem geplanten Atomkraftwerk im früheren Ostpreußen (080508, 100102).

Der Bau von eigenen Kernkraftwerken wird mit der notwendigen Auffächerung des polnischen Strom-Mixes begründet, der bisher zu über neunzig Prozent auf Kohle gründet (siehe Grafik). In der ersten und zweiten Periode des Emissionshandels wurden die polnischen Stromerzeuger zwar reichlich mit Gratis-Zertifikaten versorgt (090903). Das könnte sich aber ändern und wegen der Kohle-Lastigkeit der der polnischen Stromerzeugung zu einer spürbaren Belastung werden.

Sicher nicht minder wichtig ist die Absicht, die Kapazitäten für Stromexporte zu erhöhen: Vor allem Deutschland gilt als lukrativer Absatzmarkt für Atomstrom, der künftig in Polen, Litauen oder im russischen Teil Ostpreußens erzeugt wird. Aufgrund der Erzeugungslücke, die im März 2011 durch die Abschaltung von fünf am Netz befindlichen KKW in Deutschland entstand, liefen die polnischen Kohlekraftwerke auf Hochtouren und der Stromexport nach Deutschland stieg um das Sechsfache. Wegen der begrenzten Kapazitäten blieb der polnische Beitrag zur Deckung der deutschen Erzeugungslücke aber dennoch insgesamt recht bescheiden (110905).

Von 28 vorgeschlagenen Standorten lagen neun nah an der deutschen Grenze

Eine vom polnischen Wirtschaftsministerium vorgelegte Liste möglicher KKW-Standorte umfaßte insgesamt 28 Vorschläge. Neun dieser Standorte waren nur 1 bis 61 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. In die engere Wahl kamen zunächst vier Hauptstandorte (Zarnowiec, Kopan, Warta-Klempicz, Nowe Miasto) sowie zwei Reservestandorte (Choczewo, Lubiatowo-Kopalino). Am 25. November 2011 teilte PGE mit, daß das erste polnische Kernkraftwerk entweder in Zarnowiec, in Choczewo oder an dem nachträglich vorgeschlagenen Standort Gaski errichtet werde. Eine endgültige Entscheidung werde nach weiteren Untersuchungen bis 2013 getroffen. Gaski läge mit 115 Kilometer der deutschen Grenze am nächsten. Bei Zarnowiec beträgt die Entfernung 267 Kilometer und bei Choczewo 258 Kilometer (siehe Karte).

Favorit ist Zarnowiec, wo schon einmal an einem KKW gebaut wurde

Als bevorzugter Standort für das erste polnische Kernkraftwerk gilt weiterhin der See Zarnowiec in der Nähe des gleichnamigen Städtchens (deutsch Zarnowitz), das rund fünfzig Kilometer nordwestlich von Danzig liegt. Hier wurde schon 1982 mit dem Bau eines Kernkraftwerks begonnen, das mit vier Blöcken des sowjetischen Typs WWER-440/213 eine Leistung von insgesamt 1860 MW erbringen sollte. Nach der Katastrophe von Tschernobyl regte sich indessen auch in Polen der Widerstand gegen Reaktoren. Im Zuge der politischen Wende in Osteuropa wurde das Projekt 1989 gestoppt und ein Jahr später endgültig aufgegeben. Zuvor hatten sich bei einer Bürgerbefragung 86 Prozent der Teilnehmer gegen den Weiterbau ausgesprochen.

Regierung plant Propagandakampagne mit Unterstützung von Nuklearwirtschaft und EU

Auch heute lehnt eine Mehrheit der Bevölkerung den Einstieg in die Kernenergie ab. In ihrem "Programm für die polnische Kernenergie", das sie im Januar 2011 vorlegte, rechnet die Regierung selber nur mit der Zustimmung von 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung. Der Beschluß zum Bau von mindestens zwei Reaktoren ist für sie deshalb politisch riskant. Sie rechnet sich aber gute Chancen aus, durch entsprechende Propaganda einen Stimmungswandel herbeiführen zu können: Die "Aufklärung über die Kernenergie" sei zwanzig Jahre lang vernachlässigt worden, schreibt sie in ihrem Papier. Um den unzulänglichen Wissensstand der Bevölkerung zum Thema Kernenergie beseitigen zu können, seien umfassende "Bildungs- und Aufklärungsmaßnahmen" erforderlich, die bereits in der Volksschule beginnen und von der Nuklearwirtschaft unterstützt werden. Um den Staatshaushalt von den Kosten dieser "Bildungs-, Aufklärungs- und Informationsveranstaltungen" zu entlasten, müsse man außerdem "insbesondere die Fonds der Europäischen Union in Betracht ziehen".

Parallel zur Atompropaganda will die Regierung für die Heranbildung des benötigten kerntechnischen Personals sorgen. "Leider fehlt es in Polen aktuell an Spezialisten auf dem Gebiet der Kernenergie", stellt sie in ihrem Papier fest. Jene Fachleute, die bereits am Bau des ersten Kernkraftwerks in Zarnowiec beteiligt waren, befänden sich nun bereits im Pensionsalter oder würden dies bald erreichen.

PGE gab zwei neue Steinkohle-Blöcke in Auftrag

Vorerst wird Polen seinen Strom aber weiterhin zu über neunzig Prozent aus Steinkohle (54 Prozent) und Braunkohle (37 Prozent) erzeugen. Am 15. Februar gab der staatliche Stromkonzern PGE bekannt, daß er den Auftrag für zwei weitere Steinkohleblöcke mit einer Leistung von insgesamt 1800 MW und einem Nettowirkungsgrad von 45,5 Prozent erteilt habe. Wegen der gestiegenen Kosten soll inzwischen das erste Atomkraftwerk ohnehin erst 2025 statt 2020 in Betrieb gehen.

 

 

"Angstreaktionen bei der Bevölkerung benachbarter Länder möglich"

Im Rahmen der grenzüberschreitenden Umweltprüfung wurden der Entwurf des polnischen Kernenergieprogramms und weitere Unterlagen auch ins Deutsche übersetzt und auf den Internetseiten des Bundesumweltministeriums veröffentlicht. Die untenstehende Karte entstammt dem aktuellsten Papier, das als "Nachtrag zur Umweltverträglichkeitsstudie des polnischen Kernenergieprogramms" im Januar dem Bundesumweltministerium übermittelt wurde. In grüner Schrift sind die drei favorisierten Standorte für den Bau des ersten polnischen Kernkraftwerks bezeichnet (Zarnowiec, Choczewo, Gaski). Rote Sterne markieren vorgeschlagene KKW-Standorte, die direkt an der Grenze zu Deutschland liegen und deshalb die "Vereinbarung von Eingriffsmaßnahmen" erfordern würden (Debogora, Krzymow, Pniewo und Pniewo-Krajnik). Gelbe Sterne stehen für Standorte, bei denen nach Ansicht der polnischen Regierung zumindest "Angstreaktionen bei der Bevölkerung benachbarter Länder möglich" wären. Grüne Sterne markieren Standorte, die mehr als 92 Kilometer von den Grenzen mit Deutschland, Tschechien, der Slowakei, Weißrußland, Litauen und dem russischen Teil des früheren Ostpreußen entfernt sind.