Udo Leuschner / Geschichte der FDP (8) |
5. Bundestag 1965 - 1969 |
Bei den Bundestagswahlen am 19. September 1965 sank der Stimmenanteil der FDP von 12,8 Prozent - dem 1961 erreichten historischen Höchststand - auf 9,5 Prozent. Die Partei geriet nun in einen andauernden Abwärtstrend, den sie erst Anfang der siebziger Jahre beenden konnte. Hauptursache dafür war die Neuorientierung der SPD, die sich nicht mehr als linke Alternative zur CDU/CSU präsentierte, sondern ebenfalls eine "Volkspartei" sein wollte, die im Prinzip nichts anders, aber alles besser macht. Zur programmatischen Annäherung der SPD an die Union gehörte auch, daß sie sich als die liberalere der beiden "Volksparteien" präsentierte. Zugleich verlor die Union an konservativen Konturen. Die FDP sah sich so von beiden Seiten in die Zange genommen.
Die deutlichen Verluste der FDP korrespondierten mit einem erneuten Stimmengewinn der SPD und einem leichten Zuwachs der Union. Im Bundestag verfügte die FDP jetzt noch über 49 Mandate, gegenüber 245 der CDU/CSU und 202 der SPD. Bei den Koalitionsverhandlungen erhielt sie nur noch vier anstelle von fünf Ministerposten: Mende wurde wieder Vizekanzler und Minister für Gesamtdeutsche Fragen. Rolf Dahlgrün blieb für Finanzen und Walter Scheel für Entwicklungshilfe zuständig. Der frühere Justizminister Ewald Bucher, der im ersten Kabinett Erhard wegen der Verlängerung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen zurückgetreten war, übernahm nun das Wohnungswesen.
Nach Ansicht von Unionspolitikern war Mende zu weit gegangen, als er die erstarrte Ostpolitik aufzulockern versuchte und etwa die automatische Anwendung der "Hallstein-Doktrin" in Frage stellte. Erhard hatte deshalb diesen Kritikern versprochen, das Gesamtdeutsche Ministerium wieder einem Politiker aus den eigenen Reihen zu überlassen. Mende bestand jedoch auf seinem alten Ressort und wollte sich allenfalls mit dem Außenministerium zufriedengeben. Dort gab es ähnlichen Zwist um Gerhard Schröder (CDU), dessen Außenpolitik zwischen den "Atlantikern" und den "Europäern" innerhalb der Union umstritten war. Am Ende behielten sowohl Mende als auch Schröder ihre bisherige Zuständigkeit.
Ein weiterer Streitpunkt war die Person des früheren Verteidigungsministers Franz Josef Strauß, den die FDP während der "Spiegel"-Affäre zum Ausscheiden aus dem Kabinett gezwungen hatte. Auch vor den jetzigen Wahlen hatte die FDP versprochen, sich nicht mit Strauß an einen Kabinettstisch zu setzen. Der einflußreiche CSU-Vorsitzende brauchte sich also keine Hoffnungen auf einen Ministerposten zu machen. Er bestand jedoch auf einer Art Ehrenerklärung der FDP und bekam sie auch: Zum Abschluß der Koalitionsverhandlungen am 19. Oktober 1965 erklärten beide Seiten, man wolle nun einen Schlußstrich unter die Streitigkeiten der Vergangenheit ziehen und künftig alles unterlassen, was das Ansehen der anderen Seite beeinträchtigen könnte. Insbesondere wollten beide Koalitionspartner ihre Vorbehalte gegenüber der Ministerfähigkeit führender Politiker des anderen Partners als beendet ansehen.
Der umstrittenste Politiker der Nachkriegszeit, an dessen Charakter und demokratischer Gesinnung nicht nur Liberale zweifelten, war damit soweit rehabilitiert, daß er schon nach den nächsten Wahlen wieder mit einem Ministeramt rechnen konnte. Zum Ausgleich für die andauernde Strauß-Quarantäne sowie für die Duldung von Schröder und Mende in ihren alten Ämtern bewilligte Erhard der CSU einen fünften Ministerposten.
Das zweite Kabinett Erhard bestand indessen nicht länger als ein Jahr. Ausgerechnet dem "Vater des Wirtschaftswunders" wurde nun als Kanzler die lahmende Konjunktur zum Verhängnis, die bald in die erste Rezession der Nachkriegsgeschichte überging. "Unsere wirtschaftliche Situation und die Lage der Staatsfinanzen kann nicht ohne Sorge betrachtet werden", stellte Erhard schon in seiner Regierungserklärung fest. "Wir haben uns vielleicht allzu selbstverständlich der Täuschung hingegeben, daß in einer expansiven, dynamischen Volkswirtschaft der Ausweitung des privaten Verbrauchs, der Investitionstätigkeit und der Ausgabensteigerung der öffentlichen Hand überhaupt keine Grenzen mehr gesetzt seien." Und schon die erste Sitzung des neuen Kabinetts war fast ausschließlich der Haushaltslage des Bundes gewidmet.
Die schwierige wirtschaftliche Lage sowie persönliches Ungeschick zehrten am Nimbus Erhards und ermutigten seine innerparteilichen Gegner, die anstelle des Bündnisses mit der FDP eine Große Koalition mit der SPD favorisierten. Zum Sprecher dieser Fronde machte sich Bundespräsident Heinrich Lübke, als er zum Jahresende 1965 in einem Interview unverhohlen für eine Große Koalition eintrat.
Damit hatte Lübke die ihm als Bundespräsident auferlegte parteipolitische Zurückhaltung verletzt, wie der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Hans Dietrich Genscher, feststellte. Der FDP-Ehrenvorsitzende Reinhold Maier formulierte es auf dem Dreikönigstreffen seiner Partei am 6. Januar noch schärfer: Lübke bewege sich nicht nur am Rande der Legalität, sondern sitze "mitten in der Inkorrekheit, im Verstoß gegen seine Amtspflichten".
Am 3. Januar 1966 sprach sich auch Adenauer per Zeitungsinterview für "eine Große Koalition auf Zeit mit begrenzten Zielen" aus, um die finanziellen Probleme zu lösen und die noch ausstehende Notstandsverfassung verabschieden zu können. Zugleich äußerte er "brennendes" Interesse an der Einführung des Mehrheitswahlrechts, das nach Sachlage die FDP aus dem Bundestag verschwinden lassen würde.
Erhard nutzte Lübkes Neujahrsempfang am 4. Januar 1966 zu einer öffentlichen Erwiderung: Er stehe für die Regierungskoalition in ihrer jetzigen Zusammensetzung. Er könne es nicht zulassen, daß in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehe, als sei diese Koalition bereits zusammengebrochen und als sei es wünschenswert, sie abzulösen.
Am 11. Januar 1966 wurde der Konflikt vorerst beigelegt: Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU billigte eine Beschlußempfehlung ihres Vorstandes, wonach sie weiterhin alles tun werde, um die von Erhard gebildete Regierung zu unterstützen. Es gebe keinen Anlaß, die Koalition von Union und FDP aufzulösen. Zugleich erneuerte die Union "ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit aller in den großen Fragen der deutschen Politik".
Am 27. Oktober 1966 zerbrach die Koalition dann aber doch an der Frage des Haushaltsausgleichs: Im Gegensatz zur CDU/CSU wollte die FDP keine Steuererhöhungen oder die Einschränkung der Sparförderung akzeptieren. In die vierwöchigen Verhandlungen platzte dann auch noch die Nachricht aus dem Bundesfinanzministerium, daß für das Haushaltsjahr 1967 mit rund einer Milliarde weniger an Steuereinnahmen zu rechnen sei.
Noch am 26. Oktober hatten sich die Koalitionspartner nach zehnstündigen Verhandlungen auf eine Kompromißformel geeinigt, wonach Steuererhöhungen erst dann in Betracht kämen, wenn der Etat durch Kürzungen und Abbau von Steuervergünstigungen nicht auszugleichen sei. Mit ihrer hartnäckigen Ablehnung von Steuererhöhungen hatten sich die FDP-Politiker aber inzwischen selber ein Bein gestellt, wie sie am folgenden Tag feststellen mußten, als Zeitungen von einem erneuten "Umfallen" der FDP schrieben. - Eine Anspielung auf das vorangegangene "Umfallen" im Oktober 1961, als die FDP entgegen ihrem Wahlversprechen doch wieder in eine Regierung unter Adenauer eingetreten war.
Die FDP scheint daraufhin von Panik gepackt worden zu sein, das Odium des "Umfalls" nicht mehr loszuwerden. Jedenfalls beschloß die Bundestagsfraktion noch am 27. Oktober, ihre Minister aus dem Kabinett zurückzuziehen und sich fortan als in der Opposition zu betrachten.
Erhard wollte zunächst weiterregieren. Er erlitt aber sofort eine weitere Schlappe, indem der Bundesrat den eingebrachten Haushaltsentwurf einstimmig ablehnte. Auf allen Seiten wurden die Messer gewetzt, um den Kanzler zu Fall zu bringen. Am 8. November setzte die SPD im Bundestag mit Hilfe der FDP die Annahme eines Antrags durch, der Erhard aufforderte, dem Parlament gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes die Vertrauensfrage zu stellen. Erhard wies dieses indirekte Mißtrauensvotum zurück, weil es gegen Geist und Sinn der Verfassung verstoße, und sprach von einem "Schauprozeß", bei dem er nicht mitwirken werde. Er klebe jedoch nicht an seinem Sessel, versicherte er, falls es zu einer regierungsfähigen Mehrheit komme. Darauf nominierte die Bundestagsfraktion CDU/CSU am 10. November den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger zu ihrem Kanzlerkandidaten und bildete eine Kommission für Koalitionsverhandlungen.
Die SPD beschloß ihrerseits am 11. November ein Sieben-Punkte-Programm für Koalitionsverhandlungen. Darin bestritt sie den Anspruch der Union, allein über die Benennung des neuen Bundeskanzlers befinden zu wollen, und bot beiden anderen Fraktionen im Bundestag Gespräche an. Die FDP nahm dieses Gesprächsangebot an und sicherte der SPD zu, eine Kandidatur ihres Vorsitzenden Willy Brandt mit allen Stimmen zu unterstützen. Aber auch dann hätten SPD und FDP zusammen nur über 251 Mandate verfügt, gegenüber 245 der Union. Um diese hauchdünne Mehrheit wenigstens um zehn Stimmen zu verbessern, wurde vorübergehend erwogen, den Berliner Bundestagstagsabgeordneten volles Stimmrecht einzuräumen, wie dies bereits bei der letzten Bundespräsidentenwahl geschehen war. Es konnte allerdings nicht als sicher gelten, ob den Sowjets so viel an einer SPD/FDP-Regierung gelegen war, daß sie diese weitere Aufweichung des Sonderstatus von Westberlin hinnehmen würden. Das letzte Wort in dieser Angelegenheit hatten ohnehin die westlichen Alliierten.
Am 28. November begründete die SPD das Scheitern der Koalitionsverhandlungen mit der FDP: Abgesehen von der beinahe bis zuletzt anhaltenden Unsicherheit, ob die FDP einem Kanzlerkandidaten Willy Brandt geschlossen ihre Stimmen geben würde, hätten sich auch in der Wirtschafts- und Finanzpolitik unterschiedliche Auffassungen herauskristallisiert, die nach Ansicht der sozialdemokratischen Unterhändler nicht restlos befriedigend geklärt werden konnten.
Die FDP war damit endgültig aus dem Rennen. Ihr Pressesprecher Wolfgang Schollwer warf nun Wehner vor, nur Scheinverhandlungen geführt zu haben: Brandt und andere SPD-Politiker hätten wenigstens zeitweilig eine kleine Koalition für politisch wünschenswert angesehen. Wehner habe sich dagegen über die Verhandlungen mit der FDP nur ein Alibi für das Zusammengehen mit der CDU/CSU verschaffen wollen. Mit der bevorstehenden Bildung einer schwarz-roten Koalition sähen nun er und seinesgleichen sich "dem seit mehr als sechs Jahren unverdrossen verfolgten Ziele greifbar nahe, mit Hilfe der konservativen CDU/CSU in Deutschland auch beim rechtsorientierten deutschen Wählerpublikum endlich politisch voll gesellschaftsfähig zu werden".
Es kostete Wehner noch einige Mühe, die Partei hinter sich zu bringen, zumal die SPD bereit war, Franz Josef Strauß als Minister zu akzeptieren. Außerdem gab es Vorbehalte wegen Kiesingers brauner Vergangenheit. Die Partei trug der verbreiteten internen Opposition Rechnung, indem sie den "Vorwärts" einen Protestbrief des Schriftstellers Günter Grass und die Antwort Willy Brandts veröffentlichen ließ: "Das Gewissen der Sozialdemokratischen Partei schlägt nicht außerhalb dieser Partei", schrieb Brandt dem SPD-Sympathisanten Grass. "Niemand sollte den Stab brechen, solange wir nicht die Chance gehabt haben zu beweisen, was jetzt möglich ist."
Am 30. November 1966 reichte Erhard seinen Rücktritt ein. Am folgenden Tag wählte die neue schwarz-rote Mehrheit des Bundestags Kurt Georg Kiesinger zum dritten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Kiesinger erhielt 340 von 473 abgegebenen Stimmen. Da die FDP nur über 49 Mandate verfügte, müssen die 109 Nein-Stimmen und 23 Enthaltungen größtenteils aus den Reihen der neuen Koalitionspartner gekommen sein - in der Hauptsache vermutlich von SPD-Abgeordneten, die Wehners Kurs nur zähneknirschend folgten.