Udo Leuschner / Geschichte der FDP (9)

5. Bundestag 1965 - 1969


Allein gegen die Große Koalition

Die FDP modernisiert ihre Deutschlandpolitik und bekundet Verständnis für die APO

Als Folge der Großen Koalition mußte die FDP die restlichen drei Jahre bis zu den Bundestagswahlen im September 1969 in der Opposition verbringen. Sie hatte bereits von 1957 bis 1961 eine volle Legislaturperiode auf der Oppositionsbank gesessen. Zum erstenmal war sie nun aber dabei allein im Parlament. Den 468 Bundestagsabgeordneten der Großen Koalition saßen nur 50 FDP-Abgeordnete gegenüber (einschließlich Berliner Abgeordnete). Das reichte nicht einmal, um seitens der Opposition die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, die Anberaumung einer Parlamentssitzung oder die Erhebung einer Verfassungsklage zu erzwingen.

Man hätte vielleicht erwarten können, daß die FDP in dieser Rolle die Stimmen all jener auf sich ziehen würde, die mit den politischen Verhältnissen im allgemeinen und der Großen Koalition im besonderen unzufrieden waren. Dem war aber nicht so. Bei den folgenden Landtagswahlen, die bedingt auch als Stimmungsbarometer für die Bundestagswahlen gelten konnten, büßte die FDP fortlaufend Stimmen ein. Ausnahmen bildeten nur die Wahlen im Oktober 1967 in Bremen sowie im April 1968 in Baden-Württemberg.

Die NPD zieht in sieben Länderparlamente ein

Stattdessen erlebte die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) einen rasanten Aufstieg. Diese neonazistische Partei war Ende 1964 aus dem Zusammenschluß der Vorläuferparteien DRP und GDP entstanden. Bei den Bundestagswahlen 1965 hatte sie nur 2 Prozent erreicht. Ihr Siegeszug begann im November 1966, als sie in die Landtage von Hessen (7,9 Prozent) und Bayern (7,4 Prozent) einziehen konnte. In den beiden folgenden Jahren schaffte sie auch den Sprung in die Landtage von Niedersachsen (7,0 Prozent), Bremen (8,9 Prozent), Rheinland-Pfalz (6,9 Prozent), Schleswig-Holstein (5,8 Prozent) und Baden-Württemberg (9,8 Prozent).

Diese Erfolge der NPD gingen in erster Linie zu Lasten der Union, zehrten aber auch an den Stimmenanteilen von FDP und SPD. So stand der NPD-Triumph in Bayern in ursächlichem Zusammenhang mit dem Ausscheiden der FDP (5,1 Prozent) aus dem Parlament, denn nach dem bayerischen Wahlgesetz mußte eine Partei in mindestens einem der sieben Regierungsbezirke zehn Prozent aller Wählerstimmen erhalten, um in den Landtag einziehen zu dürfen. Dieses Hindernis hatte die FDP bislang im Bezirk Mittelfranken überwunden. Nun aber scheiterte sie dort mit 9 Prozent, während die NPD in der ehemaligen FDP-Hochburg 12,2 Prozent erhielt und sich so den Einzug in den Landtag sichern konnte.

Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis die NPD auch in den Bundestag einziehen würde. Da die Neonazis den Platz rechts von der Union besetzten, blieb der FDP kaum eine andere Wahl, als sich links von den beiden Regierungsparteien zu profilieren und langfristig eine Koalition mit der SPD anzustreben - der Vorwurf an die SPD, sie wolle "mit Hilfe der konservativen CDU/CSU in Deutschland auch beim rechtsorientierten deutschen Wählerpublikum endlich politisch voll gesellschaftsfähig werden", deutete bereits in diese Richtung.

In Düsseldorf gerät die Große Koalition zum Rohrkrepierer

Auch die SPD neigte eher zur FDP als Koalitionspartner. Das zeigte sich schon wenige Tage nach Bildung der Großen Koalition in Bonn in Nordrhein-Westfalen: Dort regierte bisher Franz Meyers (CDU) mit Unterstützung der FDP und einer hauchdünnen Mehrheit von zwei Stimmen im Landtag. Nach Bildung der Großen Koalition in Bonn wollten die Spitzen von CDU und SPD in Düsseldorf ebenfalls eine Große Koalition herbeiführen. Bei einer ersten, geheimen Probeabstimmung lehnte die SPD-Fraktion aber mit 78 gegen 16 Stimmen (bei 5 Abwesenheiten) den Vorschlag des Fraktionsvorsitzenden Heinz Kühn ab. Daraufhin nahm die SPD Verhandlungen mit der FDP auf. Es kam zu einer Koalitionsabsprache, und am 8. Dezember 1966 stürzten SPD und FDP gemeinsam den Ministerpräsidenten Meyers.

Damit war zum zweitenmal in der Geschichte der Bundesrepublik ein Ministerpräsident durch ein konstruktives Mißtrauensvotum gestürzt worden (der eben erst erfolgte Abgang Erhards in Bonn war formal freiwillig und zählte deshalb nicht). Und wie beim Coup der "Jungtürken" im Jahre 1956 war es wieder eine Düsseldorfer CDU-Landesregierung, die durch ein Bündnis von FDP und SPD zu Fall gebracht wurde. Nur der Anlaß hatte sich verändert: War es damals das von Adenauer geplante "Grabenwahlsystem", das die FDP aus der Koalition mit der CDU hinaus an die Seite der SPD trieb, so war es dieses Mal die Gefahr einer Großen Koalition auch auf Landesebene.

In Stuttgart zögert die FDP zu lange

In Baden-Württemberg dagegen versäumte die FDP die Chance, sich rechtzeitig mit der SPD zu verbünden. Die CDU hatte hier den bisherigen Innenminister Hans Filbinger zum Nachfolger von Kurt Georg Kiesinger nominiert, der als Kanzler der Großen Koalition nach Bonn wechselte. Bei den anschließenden Verhandlungen über die Regierungsneubildung bestand die CDU auf der Einführung von Konfessionssschulen in allen Landesteilen. Außerdem war sie nicht bereit, im Bundesrat gegen ein eventuell drohendes Mehrheitswahlrecht zu stimmen. Während in der FDP noch eine Auseinandersetzung darüber tobte, wie man sich gegenüber dieser Zumutung verhalten solle, nahm die CDU Kontakt zur SPD auf, die vergebens auf ein Zeichen der FDP zur Koalitionsbereitschaft gewartet hatte. Sie erklärte sich nun sogar zu Abstrichen in der Frage der Konfessionsschulen bereit. Am 16. Dezember 1966 wurde Filbinger mit den Stimmen von CDU und SPD zum neuen Ministerpräsidenten gewählt.

Mit Blick auf die beiden schwarz-roten Koalitionen in Bonn und Stuttgart erklärte der FDP-Vorsitzende Erich Mende am 5. Januar 1967 auf dem traditionellen Dreikönigstreffen der baden-württembergischen FDP: "Die Großkoalition bringt - das ist unsere Überzeugung - die parlamentarische Demokratie in Gefahr, daß sie wie ein Stück Seife zwischen zwei Händen verwaschen wird. Die liberale Opposition wird dafür Sorge tragen müssen, daß das nicht geschehen kann. Wir sind überzeugt, daß wir im Lande Verbündete haben, denen das Schicksal der parlamentarischen Demokratie und die Zukunft eines wiedervereinigten Deutschland höher stehen als das gegenwärtige Großkartell aus Schwarz und Rot."

Für Abrüstungs- und Entspannungspolitik

Am leichtesten konnte sich die FDP auf dem Gebiet der Ost- und Deutschlandpolitik profilieren. In seiner Rede auf dem Dreikönigstreffen bekräftigte Mende die diesbezüglichen Positionen der Partei. So kritisierte er erneut die sogenannte Hallstein-Doktrin: "Wir sollten endlich Schluß machen mit dem Bemühen, der Anerkennungsmanie der anderen Seite ein ungerechtfertigtes Anerkennungstrauma gegenüberzustellen." Eine Wiedervereinigung könne es nur geben, wenn die gegenwärtigen Militärpakte, die Europa teilten, in ein neues Sicherheitssystem unter Einschluß der USA und der Sowjetunion integriert würden. Dies setze aber eine fortschrittliche Abrüstungs- und Entspannungspolitik voraus, wobei die Reduzierung der auf deutschem Boden stationierten Truppen den ersten Schritt darstelle.

In diesem Zusammenhang wandte sich Mende auch gegen eine deutsche Mitverfügung über Atomwaffen, die von der CDU noch immer angestrebt wurde, indem sie das militärisch sinnlose Projekt einer "multilateralen Flotte" aus Frachtern mit Atomraketen im Rahmen der NATO propagierte: "Hören wir damit auf, multilateralen Atomkonstruktionen nachzulaufen und nehmen wir endlich zur Kenntnis, daß weder unsere Freunde im Atlantischen Bündnissystem noch unsere Nachbarn im Warschauer Pakt uns jemals in den Besitz oder Mitbesitz nuklearer Waffensysteme kommen lassen."

Bereits im Frühjahr 1966 war es zu Kontakten zwischen der FDP und der Liberaldemokratischen Partei (LDP) der DDR gekommen, parallel zu einem entsprechenden Briefwechsel zwischen SPD und SED. Der LDP-Generalsekretär Manfred Gerlach hatte dabei Besprechungen zwischen den Führungsspitzen beider Parteien vorgeschlagen, die abwechselnd in der Bundesrepublik und in der DDR stattfinden sollten. Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Mischnick griff dieses Angebot nun in einem Brief an die LDP wieder auf, indem er eine öffentliche Diskussionsveranstaltung in einer Stadt Thüringens oder Sachsens vorschlug. Der Antwortbrief der LDP vom 14. Februar 1967 war aber eine glatte Absage, gespickt mit propagandistischen Phrasen. Das SED-Regime schien die oppositionelle FDP nicht mehr als interessanten Gesprächspartner zu betrachten.

Schollwer und Rubin fordern Abkehr von Illusionen

Eine grundsätzliche Neuorientierung der FDP in der Deutschland- und Ostpolitik deutete sich an, als am 3. März 1967 die Illustrierte "stern" ein internes Papier veröffentlichte, das der Pressesprecher Wolfgang Schollwer zusammengestellt hatte. Das Papier ging von der faktischen Existenz zweier deutscher Staaten und dem unwiderruflichen Verlust der ehemaligen deutschen Ostgebiete aus. Die Wiedervereinigung, die bisher im Zentrum aller deutschlandpolitischen Vorschläge der FDP stand, wurde als nicht realisierbar und nicht wünschenswert bezeichnet, weil es dadurch zu einer "totalen Verschiebung der Kräfte in Europa" käme und alle europäischen Völker einen deutschen Nationalstaat mit 75 Millionen Einwohnern und der stärksten Wirtschaftskraft des Kontinents grundsätzlich fürchten und zu verhindern trachten würden. Statt das illusionäre Ziel einer Wiedervereinigung zu verfolgen, müsse ein partnerschaftliches Nebeneinander der beiden deutschen Staaten erstrebt werden, mit einer schrittweisen Wiederherstellung des freien Personenverkehrs und einer Intensivierung des Austauschs auf wirtschaftlichem, wissenschaftlich-technischem und kulturellem Gebiet. Dies setze aber die Aufgabe des Alleinvertretungsanspruchs der Bundesrepublik und sonstige Maßnahmen zur "Entkrampfung der Beziehungen" voraus. Bundesrepublik und DDR dürften nicht mehr die "Speerspitzen des Westens und Ostens im Kalten Krieg" sein, sondern müßten zum "Modell für die Verständigung zwischen Ost und West" werden.

Ganz ähnlich äußerte sich FDP-Schatzmeister Hans Wolfgang Rubin, als er am 12. März 1967 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "liberal" schrieb: "Wahr ist, daß sich Freund und Feind darüber einig sind, daß die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 weder möglich noch wünschenswert ist. (...) Wer die Wiedervereinigung will, muß die Oder-Neiße-Linie anerkennen und die Existenz des anderen, kommunistischen Staates auf deutschem Boden mit allen unvermeidlichen Konsequenzen zur Kenntnis nehmen."

Offizielle Mißbilligung - aber keine Sanktionen

Besonders der Artikel Rubins empörte Teile der Partei, da er für die Veröffentlichung gedacht war und von einem Mitglied des Parteivorstandes stammte. Der Landesvorstand von Nordrhein-Westfalen mißbilligte die Ausführungen Rubins mit 16 gegen 2 Stimmen und forderte Rubin zum Rücktritt als stellvertretender Landesvorsitzender auf, was dieser jedoch ablehnte. Der Bundesvorstand mißbilligte den Artikel mit Zweidrittelmehrheit ebenfalls, verzichtete aber auf weitergehende Forderungen.

Die Schollwer-Studie, die noch radikaler als der Artikel Rubins mit der bisherigen Deutschlandpolitik der FDP brach, zog dagegen keine disziplinarischen Maßnahmen für den Verfasser nach sich. Mende bezeichnete sie als theoretische Zusammenstellung aller Möglichkeiten der Deutschlandpolitik, die durch eine gezielte Indiskretion in den "stern" gelangt sei. Sie sei zwar im Auftrag der Partei ausgearbeitet worden, trage aber keinen parteiamtlichen Charakter. Schollwer ziehe in diesem Papier Konsequenzen, die von der Partei abgelehnt würden.

Indessen war klar, daß sich hier eine Kurskorrektur der FDP abzeichnete - weg vom alten Pathos der nationalen Einheit und hin zu einem geregelten Nebeneinander der beiden deutschen Staaten. In den 107 Thesen des Aktionsprogramms "Ziele des Fortschritts", die der 18. Bundesparteitag im April 1967 in Hannover verabschiedete, klang diese Neuorientierung bereits zaghaft an. So empfahl These 89 die Aufnahme von Verhandlungen, "die ein zeitlich begrenztes geregeltes Nebeneinander beider deutscher Teilgebiete zum Gegenstand haben".

Die FDP mausert sich zum Gegner der Notstandsgesetze

Bemerkenswert war, daß der Hannoveraner Parteitag sich in These 2 gegen eine "ungerechtfertigte Einschränkung der Grundrechte im Rahmen der Notstandsgesetzgebung" wandte und eine "erneute Beratung der bereits verabschiedeten Notstandsgesetze" verlangte. Die FDP hatte inzwischen offenbar gemerkt, daß ihre Zustimmung zu den Notstandsgesetzen kein Ruhmesblatt gewesen war und daß sie damit große Teile der von ihr angepeilten Wählerschaft vor den Kopf gestoßen hatte.

Am 30. Mai 1968 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen der Großen Koalition endgültig die sogenannte Notstandsverfassung und die sogenannten einfachen Notstandsgesetze. Obwohl etliche SPD-Abgeordneten ihre Zustimmung verweigerten, wurde die verfassungsändernde Mehrheit mühelos erreicht. Unter den hundert Nein-Stimmen befanden sich dieses Mal - mit einer Ausnahme - sämtliche FDP-Abgeordneten.

Die außerparlamentarische Opposition nimmt zu

Die Bewegung gegen die Notstandsgesetze war inzwischen wie die Anti-Atomwaffen-Bewegung in eine noch umfassendere Strömung eingemündet, die als "außerparlamentarische Opposition" (APO) wie eine Naturgewalt die knapp 20jährige Bundesrepublik erschütterte: Die junge Generation rebellierte gegen den Staat der Väter, der nie ernsthaft mit seiner braunen Vergangenheit ins Gericht gegangen war und nun an der Seite der USA den Völkermord in Vietnam guthieß. Sie hegte den Argwohn, daß die von den Besatzern verordnete Nachkriegsdemokratie nur eine Scheindemokratie sei, die wie die Republik von Weimar auf pseudo-legale Weise in ein faschistisches System überführt würde, sobald die wirklich Herrschenden - das Großkapital - dies für erforderlich halten würden. Neben der "Spiegel"-Affäre des Jahres 1962 hatten vor allem die Notstandsgesetze diesen Argwohn bestärkt. Und nun kamen, ganz aktuell, noch die obrigkeitsstaatlichen Methoden hinzu, mit denen Politiker und Polizei der jugendlichen Demonstranten auf den Straßen Herr zu werden versuchten. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die bundesweite Erregung, als am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg in Berlin von einem Polizisten erschossen wurde. Der Täter behauptete, in Notwehr gehandelt zu haben, was eindeutig nicht der Wahrheit entsprach.

Dahrendorf beklagt den Immobilismus auf allen Gebieten

Von allen drei Bundestagsparteien bekundete die FDP noch am ehesten Verständnis für die rebellierende junge Generation. Auf dem Freiburger Bundesparteitag Ende Januar 1968 beklagte der Soziologe Ralf Dahrendorf den Immobilismus auf allen gesellschaftlichen Gebieten und forderte eine "Politik der Offenheit". Dahrendorf kritisierte die "Verwechslung von Sicherheit mit Unbeweglichkeit, von Stabilität und Stagnation". Die Ursachen der Unruhen lägen in der "Erstarrung der Verhältnisse im Lande und in vielen seiner Institutionen".

Zum Sinnbild der neuen Offenheit der FDP wurde die Diskussion, die Dahrendorf bei dieser Gelegenheit mit Rudi Dutschke führte, der mit anderen Demonstranten vor den Türen des Freiburger Parteitags erschienen war: Auf dem Dach eines Fernsehwagens tauschten der APO-Führer und der neue Vordenker der FDP ihre Argumente aus. Im wesentlichen drehte sich ihre Diskussion darum, ob die Verkrustungen des bestehenden Systems auf revolutionärem, außerparlamentarischem Wege aufgebrochen werden müßten, oder ob eine Veränderung auch auf parlamentarischem Wege zu erreichen sei.

Die auf dem Freiburger Parteitag neugefaßte Parteisatzung räumte den parteinahen "Jungdemokraten" und dem "Liberalen Studentenbund" eine breitere Repräsentation und weitergehende Rechte ein. Die FDP öffnete sich damit bewußt den gemäßigteren Richtungen der außerparlamentarischen Protestbewegung, um sie in die Partei einzubinden und irgendwann die Früchte durch den Zustrom junger Wähler zu ernten. Diese Rechnung war jedoch allzu kurzfristig angelegt und konnte in dieser Form nicht aufgehen, wie sich bald zeigen würde.

Walter Scheel ersetzt den umstrittenen Erich Mende

Die Neuorientierung der FDP wurde durch personelle Veränderungen erleichtert: Im September 1967 teilte Mende mit, daß er nicht mehr als Bundesvorsitzender kandidieren werde. Der Freiburger Bundesparteitag wählte deshalb den ehemaligen "Jungtürken" Walter Scheel zum neuen Parteivorsitzenden. Weitere Mitglieder des Parteipräsidiums wurden Hans Dietrich Genscher, Wolfgang Mischnick, Hermann Müller, Wolfgang Rubin, Liselotte Funcke, Karl Moersch und Hans-Guenther Hoppe. Der Fraktionsvorsitzende Knut von Kühlmann-Stumm, der kraft Amt dem Präsidium angehörte, wurde vier Wochen später von Wolfgang Mischnick abgelöst.

Der Abtritt Mendes kam nicht von ungefähr: Als treibende Kraft beim Rückzug der FDP aus dem Kabinett Erhard hatte er sich in großen Teilen der Partei unbeliebt gemacht. Er galt als der Hauptschuldige dafür, daß die Partei ohne Not - nur eines wirtschaftsideologischen Prinzipienstreits wegen - in die Opposition wechseln mußte. Den Linksliberalen war der Ritterkreuzträger - Mende hatte sich als erster mit dem "entnazifizierten" Ritterkreuz (ohne Hakenkreuz) am Hals gezeigt - seit jeher suspekt. Das Faß des innerparteilichen Unmuts wurde zum Überlaufen gebracht, als Mende 1967 einen Posten als Verwaltungsratsvorsitzender der Investors Overseas Services (IOS) annahm. Innerhalb der Partei kursierte der Spott, Mende würde jeden Morgen von seiner Ehefrau Margot mit dem Ruf "Aufstehen, Erich, Karriere machen!" geweckt. - Gründe genug also, um Mende den Verzicht auf eine weitere Amtszeit als Bundesvorsitzender nahezulegen.

Später stellte sich heraus, daß die Investors Overseas Services (IOS), der Mende bis 1970 als Galionsfigur diente, eine üble Abzocker-Organisation war, die hunderttausende von Anlegern betrogen hatte. Damit hatte Mende jeden Kredit verspielt - auch und vor allem bei FDP-Rechten, die ihm gutgläubig ihr Geld anvertraut hatten.

Die außerparlamentarische Opposition erreicht ihren Höhepunkt

Nach einem Mordanschlag auf den Studentenführer Rudi Dutschke kam es an Ostern 1968 bundesweit zu Unruhen. Schwerpunkt war Berlin, wo Demonstranten das Verlagsgebäude des Springer-Konzerns belagerten und Zeitungsfahrzeuge in Brand steckten. Die anschließende Sondersitzung des Bundestags war wie dazu angetan, die APO-These vom Funktionsverlust des Parlaments zu bestätigen: Innenminister Ernst Benda (CDU) bezeichnete den "Sozialistischen Deutschen Studentenbund" (SDS) als "verfassungsfeindliche Organisation", von deren Verbot die Regierung momentan nur aus Gründen der Opportunität absehen wolle. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt glaubte dem Fernsehen vorwerfen zu müssen, den Demonstrationen zu viel Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, womit es ebenso wie die Springer-Presse zur Eskalation beigetragen habe. Die APO-Forderung, Springer zu enteignen, heiße Leistung bestrafen. - Walter Scheel dagegen nannte die Bildung der Großen Koalition eine der Ursachen der Unruhe und sah die außerparlamentarische Opposition grundsätzlich unter positivem Aspekt: Noch keine junge Generation sei so demokratisch gewesen wie die jetzige. Hier zeige sich - mit radikalen Auswüchsen am Rande - ein starkes demokratisches Potential, während in der NPD ein schlummerndes autoritäres Potential zutage trete.

SPD und FDP wählen Heinemann zum Bundespräsidenten

In Baden-Württemberg bekam die SPD inzwischen ihre erste Quittung für die Große Koalition mit der CDU, indem sie bei den Landtagswahlen am 28. April 1968 von 37,3 auf 29,0 Prozent absackte. Die CDU verschlechterte sich um 2 Prozentpunkte auf 44,2 Prozent. Die NPD dagegen errang aus dem Stand 9,8 Prozent und war nun in sieben Länderparlamenten vertreten. Die FDP konnte sich von 13,1 auf 14,4 Prozent verbessern. Wegen der Schwächung der SPD reichte es nun aber nicht mehr zu einer Koalition, wie sie vor vier Jahren noch möglich gewesen wäre. Nach dem Willen ihrer Landesdelegiertenkonferenz sollte sich die SPD deshalb in der Opposition regenerieren. Die Landtagsfraktion der SPD setzte sich indessen über diesen Beschluß hinweg und wählte am 12. Juni 1968 gemeinsam mit der CDU Hans Filbinger erneut zum Ministerpräsidenten.

Auf Bundesebene kam die Ablösung der Großen Koalition besser voran: Am 5. März 1969 wählten SPD und FDP gemeinsam den Bundesjustizminister Gustav Heinemann (SPD) zum dritten Bundespräsidenten. Heinemanns Gegenkandidat war der Bundesverteidigungsminister Gerhard Schröder (CDU). Da auch die 22 Wahlmänner der NPD für Schröder stimmten, erreichte keiner der Kandidaten in den beiden ersten Wahlgängen die erforderliche absolute Mehrheit. Heinemann machte das Rennen erst im dritten Wahlgang, bei dem die einfache Mehrheit reichte, mit einem Vorsprung von sechs Stimmen. Aufgrund des Ergebnisses einer Testabstimmung unter den FDP-Wahlmännern am Vorabend hätte sein Vorsprung eigentlich größer sein müssen. Aber immerhin: Damit war ein Signal gesetzt. Die endgültige Weichenstellung würde vom Ausgang der bevorstehenden Bundestagswahlen abhängen.

Die FDP wird zur F.D.P.

In dem nun beginnenden Wahlkampf präsentierte sich die FDP erstmals als "Pünktchen-Partei", indem sie ihren Parteinahmen mit F.D.P. abkürzte. Die Pünktchen, die damals eher wie eine kurzlebiger Werbegag wirkten, sollten die Partei bis ins Jahr 2001 begleiten. Sie gingen auf einen Beschluß des Präsidiums vom November 1968 zurück. Der eigentliche Urheber der ebenso modisch-affektiert wie großväterlich-antiquiert wirkenden Pünktchen war eine Werbeagentur, die damit die FDP von den anderen Parteien mit drei Buchstaben abheben wollte - übrigens dieselbe Agentur, die für den Bundestagswahlkampf auch den FDP-Slogan "Wir schaffen die alten Zöpfe ab" erfand...

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