Udo Leuschner / Geschichte der FDP (7) |
4. Bundestag 1961 - 1965 |
Im März 1962 löste Thomas Dehler einen politischen Wirbel aus, als er in einer Fernsehsendung die außenpolitischen Vorstellungen Adenauers kritisierte. Dabei hatte Dehler nur wieder mal gesagt, daß Bonn die Deutschlandpolitik nicht den Alliierten überlassen dürfe, sondern selber mit den Russen verhandeln müsse. In der Bundesrepublik sei Hitler noch nicht überwunden worden, zumindest was das Verhältnis zu Rußland angehe. Es würden beinahe die gleichen Tiraden fortgesetzt: Schon das Argument, daß die Russen Kommunisten seien, reiche aus, um sie als nicht verhandlungsfähig erscheinen zu lassen. - Die CDU schäumte und verlangte sogar den Rücktritt Dehlers vom Amt des Bundestagesvizepräsidenten. Dehlers Ausführungen ließen die Absicht erkennen, die Regierungskoalition zu sprengen, behaupteten der CDU-Fraktionsvorsitzende von Brentano und der Bundestagsvizepräsident Richard Jaeger (CSU). FDP und Union einigten sich schließlich darauf, daß Dehler seine persönliche Meinung geäußert habe und daß dadurch der Bestand der Koalition nicht berührt werde.
Ein echter Sprengsatz für den Bestand der Koalition war dagegen die "Spiegel"-Affäre, die ein gutes halbes Jahr später die Bundesrepublik erschütterte. Dabei liefen ähnliche Mechanismen ab wie bei der erwähnten Reaktion auf Dehlers Äußerungen. Die Hysteriker des Kalten Kriegs, vor deren Tiraden Dehler gewarnt hatte, machten im Falle des "Spiegel" aus einem völlig normalen Pressebericht einen Anschlag auf die Sicherheit der Bundesrepublik und des westlichen Verteidigungssystems.
Das Hamburger Magazin hatte sich den Ruf der einzigen wirklichen Opposition erworben, seitdem Herbert Wehner die SPD auf den Kurs einer "Umarmung" der Unionsparteien geführt hatte, um dem Ziel einer Großen Koalition näherzukommen. Auf dieser Linie lag auch ein Artikel, der im "Spiegel" am 10. Oktober 1962 unter der Überschrift "Bedingt abwehrbereit" erschien. Er beleuchtete die Zwickmühle, die infolge der Politik der atomaren Bewaffnung entstanden war: Die Bundeswehr verfügte nun zwar über Raketen und "Starfighter" als atomare Trägerwaffen. Die dazugehörigen atomaren Sprengköpfe blieben aber bei den Amerikanern unter Verschluß, während die Ausrüstung der Bundeswehr mit konventionellen Waffen vernachlässigt worden war. Der Mangel an konventioneller Ausrüstung wurde in der Bundeswehr selber als ärgerlich empfunden, und es war ein hoher Offizier, der deshalb den Artikel im "Spiegel" lanciert hatte. Außerdem war der Artikel vor der Veröffentlichung von dem Informanten selbst sowie einem Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes auf möglicherweise geheimzuhaltende Fakten überprüft worden.
Politisch bedeutete der Artikel eine Ohrfeige für den amtierenden Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU), der für die Bundeswehr verantwortlich war und am lautesten die atomare Aufrüstung forderte. Die Ohrfeige war umso schmerzhafter, als Strauß zu dieser Zeit auch in der sogenannten Fibag-Affäre unter Beschuß stand, die ebenfalls der "Spiegel" ins Rollen gebracht hatte.
Dennoch wäre vermutlich überhaupt nichts passiert, auch nicht von Seiten des bloßgestellten Strauß, wenn nicht ein rechtskonservatives CSU-Mitglied Anzeige wegen "Landesverrats" erstattet hätte. Nun griffen die Mechanismen des Kalten Kriegs wie am Schnürchen: Die Bundesanwaltschaft forderte beim Verteidigungsministerium des Franz Josef Strauß ein Gutachten an. Das Ministerium nutzte die Chance für ein Horrorgemälde: Angeblich hatten sich sogar schon die Amerikaner beschwert. Zwei Wochen nach Erscheinen des Artikels, am 23. Oktober 1962, unterzeichnete der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof die gewünschten Haft- und Durchsuchungsbefehle. Der Gipfel bei diesem juristischen Amoklauf war, daß alles ohne Wissen des zuständigen Bundesjustizministers Wolfgang Stammberger geschah, den man anscheinend bewußt nicht informierte, weil man ihm rechtsstaatliches Denken zutraute.
Es dauerte dann nochmals drei Tage, ehe am Abend des 26. Oktober ein großes Polizeiaufgebot die Redaktion des "Spiegel" besetzte. So konnte am 25. Oktober die Reinwaschung von Franz Josef Strauß im Fibag-Untersuchungsausschuß des Bundestags, an der sich neben der Union auch die FDP beteiligte, ungestört über die Bühne gehen.
Der "Spiegel"-Herausgeber Rudolf Augstein und etliche Redakteure wurden verhaftet. Der Verfasser des Artikels, Conrad Ahlers, befand sich gerade auf Urlaub in Spanien. Strauß telefonierte deshalb mit dem deutschen Militärattaché in Madrid, der die Verhaftung von Ahlers veranlaßte. Dennoch behauptete Strauß hinterher: "Ich habe mit der Sache nichts zu tun. Im wahrsten Sinn des Wortes nichts zu tun!"
Soweit die Grundzüge dieser Affäre, deren juristische Aufarbeitung sich über vier Jahre hinzog. Am Ende wurden sämtliche Verfahren eingestellt - sowohl diejenigen gegen die "Spiegel"-Redakteure als auch diejenigen, die sich gegen ihre Verfolger richteten. So hielt im Falle von Strauß die Staatsanwaltschaft den Tatbestand der Amtsanmaßung und der Freiheitsberaubung zwar objektiv für erfüllt, stellte das Verfahren aber trotzdem ein, weil die subjektiven Einlassungen von Strauß nicht hätten widerlegt werden können.
Das glimpfliche Ende war vor allem ein Erfolg der Öffentlichkeit bzw. anderer Medien, die sich mit dem "Spiegel" solidarisierten. Hinzu kam, daß im Ausland dieser Rückfall in Polizeistaatsmethoden argwöhnisch beobachtet wurde. Typisch für den Aufschrei in der Öffentlichkeit war der Kommentar, den Karl-Hermann Flach - der spätere FDP-Generalsekretär - damals als Redakteur der "Frankfurter Rundschau" verfaßte:
"Wenn es also morgens in aller Frühe bei uns klingelt, können wir uns nicht weiter mit dem beruhigenden Gefühl strecken, daß es nur der Milchmann oder der Junge mit den Brötchen sein kann; wenn um Mitternacht jemand an unsere Tür schlägt, wissen wir nicht mehr genau, daß es sich schlimmstenfalls um einen Telegrammboten oder einen betrunkenen Weggenossen handeln kann, der sich in der Tür geirrt hat. Wir müssen damit rechnen, daß es die politische Polizei ist, die bei Nacht und Nebel nach Landesverrätern sucht."
In der Abwehrhaltung der Öffentlichkeit gegen das regierungsamtlich verbreitete und auch von der parlamentarischen Opposition nur halbherzig angezweifelte Deutungsmuster vom "Landesverrat" zeigten sich Ansätze jener außerparlamentarischen Opposition, die sechs Jahre später die Bundesrepublik verändern würde. Im Grunde begann die außerparlamentarische Opposition bereits 1960 mit dem Kampf gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr und den "Ostermärschen" gegen den Wahnsinn des nuklearen Wettrüstens. Sie setzte sich dann fort in der Bewegung gegen die Notstandsgesetze, die ihre Ängste vor einer parlamentarisch verbrämten Diktatur durch die "Spiegel"-Affäre in hohem Maße bestätigt fühlen durfte und direkt in die Studentenrebellion des Jahres 1968 mündete.
Die parlamentarische Aufarbeitung der "Spiegel"-Affäre war dagegen kein besonderes Ruhmesblatt und konnte es bei den gegebenen Kräfteverhältnissen im Bundestag auch nicht sein. Die FDP machte noch die beste Figur. Die SPD litt nicht nur deshalb unter Beißhemmungen gegenüber der Regierung, weil sie von Wehner mittlerweile auf die "Umarmung" der CDU/CSU eingeschworen worden war - hinzu kam, daß die Polizei bei der Besetzung der "Spiegel"-Redaktion auch Unterlagen gefunden hatte, die von zwei SPD-Abgeordneten an das Blatt weitergegeben worden waren. Diese Papiere hatten mit dem Vorwurf des Landesverrats nichts zu tun, waren aber als "geheim" gekennzeichnet, so daß die SPD wegen der Weitergabe den Vorwurf des "Geheimnisverrats" befürchten mußte. Und das klang schließlich ganz ähnlich wie "Landesverrat". Adenauer wußte von den Papieren und setzte die SPD damit unverhohlen unter Druck.
Am 7.,8. und 9. November befaßte sich der Bundestag mit einem Katalog von 18 Fragen, den die FDP zur "Spiegel"-Affäre eingereicht hatte. Adenauer verwahrte sich dabei gegen den Vorwurf, nicht rechtsstaatlich gehandelt zu haben. Er behauptete, es handele sich um einen "Abgrund von Landesverrat" und rief indirekt zum Anzeigenboykott gegen das Blatt auf. Speziell über den "Spiegel"-Herausgeber Rudolf Augstein, der selber FDP-Mitglied war und über gute Verbindungen zur FDP verfügte, schwadronierte Adenauer:
"Auf der einen Seite verdient er am Landesverrat, und das finde ich gemein. Und zweitens, meine Damen und Herren, verdient er an allgemeiner Hetze, auch gegen die Koalitionsparteien. (...) Gott, was ist mir schließlich Augstein! Der Mann hat Geld verdient auf seine Weise. Es gibt Kreise, die ihm dabei geholfen haben, indem sie den 'Spiegel' abonniert haben und indem sie Annoncen hineingesetzt haben. Die Leute stehen nicht sehr hoch in meiner Achtung, die ihm soviel Annoncen gegeben haben. Aber er hat viel Geld verdient, sehr viel Geld verdient."
Der FDP-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Döring - einer der "Jungtürken", die 1956 die Düsseldorfer Regierung gestürzt hatten - bekannte sich daraufhin als persönlicher Freund Augsteins: "Ich bin es nicht nur meinem Freunde, sondern auch dem Staatsbürger Augstein und allen anderen schuldig, dagegen zu protestieren, daß Sie hier sagen: Herr Augstein verdient am Landesverrat. Dann haben Sie als erster sich ein Urteil gefällt, das zu fällen nur dem Gericht zusteht". Döring sprach dann von seiner Frau, die er nur mit Mühe zur Rückkehr nach Deutschland habe bewegen können, nachdem 22 von ihren 26 Familienangehörigen in Konzentrationslagern umgekommen waren. Es gehe hier nicht um eine koalitions- oder machtpolitische Frage: "'Wir haben allen gemeinsamen Grund, dafür zu sorgen, daß nicht die Spur eines Verdachts an uns allen hängen bleibt."
Innerhalb des Kabinetts war es für die FDP eine Frage der Selbstachtung, es dem Koalitionspartner nicht durchgehen zu lassen, von der Aktion gegen den "Spiegel" nicht informiert worden zu sein. Justizminister Wolfgang Stammberger verlangte am 31. Oktober seine Entlassung, Die übrigen FDP-Minister erklärten ebenfalls ihren Rücktritt, falls Stammberger keine Genugtuung erhalte. Bei einer Koalitionsbesprechung einigte man sich darauf, die beiden Staatssekretäre Strauß (Justiz) und Hopf (Verteidigung) zu maßregeln - den ersteren, weil er seinen Dienstherrn Stammberger nicht informiert hatte, den anderen quasi als Bauernopfer, damit sein Dienstherr Franz Josef Strauß weiter amtieren konnte. Ansonsten waren die Beteiligten "übereinstimmend der Auffassung, daß insbesondere wegen der jetzigen politischen Situation die bisherige Koalition unverändert fortgesetzt werden soll".
Bald aber erkannte die FDP, daß es mit einem Bauernopfer nicht getan war. Die Protestwelle gegen die noch laufenden Aktionen der Bundesanwaltschaft war einfach zu stark geworden, und inzwischen schälte sich auch deutlich heraus, daß Franz Josef Strauß durchaus in die Angelegenheit verwickelt war. Am 19. November 1962 traten alle fünf FDP-Minister von ihren Ämtern zurück und der FDP-Vorsitzende Erich Mende erklärte, daß Strauß in keinen Regierungsamt mehr tragbar sei. Man sei indessen zur Fortführung der Koalition bereit. Die Entscheidung der FDP richte sich nicht gegen den Bundeskanzler. Die FDP werde sich an die mit Adenauer getroffene Vereinbarung über die Beendigung von dessen Amtszeit in der Mitte der Legislaturperiode halten.
Am nächsten Tag traten auch alle Minister der CDU/CSU zurück, "um die Bildung einer handlungsfähigen Bundesregierung zu ermöglichen". Am 30. November erklärte Strauß auf einer Tagung des CSU-Landesvorstandes, daß er auf das Amt des Verteidigungsministers verzichte und auch kein anderes Ministeramt in einem neu zu bildenden Kabinett Adenauer übernehmen werde.
Die CDU/CSU verzieh es indessen der FDP nicht, sie zur Opferung von Strauß gezwungen zu haben. Am 3. Dezember 1962 beschloß sie, auch mit der SPD Koalitionsverhandlungen aufzunehmen. Für die Kontaktaufnahme zur SPD setzte sich besonders Adenauer ein, wobei er auf den ständigen Ärger mit der FDP verwies. Um den Druck auf die FDP noch zu erhöhen, wollte die Union die SPD für die Einführung eines reinen Mehrheitswahlrechts gewinnen. Die SPD war auch durchaus zu Verhandlungen bereit. Für das geplante "Erpressungsmanöver" gegenüber der FDP, das darauf hinausgelaufen wäre, "den bisherigen Partner der CDU/CSU umzubringen", wollte sie sich aber nicht hergeben. Außerdem wünschte sie sich jemand anderes als Adenauer an der Spitze der geplanten Großen Koalition. Darauf nahmen Adenauer und die Union sehr schnell wieder Verhandlungen mit der FDP auf. Am 11. Dezember einigte man sich auf eine neue Koalitionsregierung, die zum großen Teil mit der alten identisch war. Die wesentlichste Veränderung auf Unionsseite war die Neubesetzung des Verteidigungsministeriums mit Kai-Uwe von Hassel, dem bisherigen Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein. Damit war die Forderung der FDP erfüllt, daß Strauß kein Regierungsamt mehr ausüben dürfe.