Juni 1999 |
990620 |
ENERGIE-CHRONIK |
Bundeswirtschaftsminister Werner Müller (parteilos) hat am 5.6. gemeinsam mit den Vorstandsvorsitzenden von EnBW, RWE, Veba und Viag ein Papier erarbeitet, das eine Verständigung in der strittigen Frage des Ausstiegs aus der Kernenergie ermöglichen soll (siehe auch 990501). Demnach würden sich die Kernkraftwerksbetreiber verpflichten, jede ihrer Anlagen spätestens 35 Kalenderjahre nach der Inbetriebnahme dauerhaft stillzulegen (die Zahl 35 ist in dem Papier in Klammern gesetzt). Als am 22.6. ein erneutes Gespräch zu diesem Papier stattfand, an dem seitens der Bundesregierung auch Bundeskanzler Schröder (SPD) und Umweltminister Trittin (Grüne) teilnahmen, zeigte sich jedoch, daß es in der Frage der Laufzeit noch keine Einigung gibt: Während Trittin auf eine Verkürzung der vorgesehenen 35 Kalenderjahre drängte, wollten die Kernkraftwerksbetreiber die Wartungs- und Stillstandszeiten bei der Berechnung der Reaktorlebensdauer berücksichtigt wissen. Auch die Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW), die nicht an der Gesprächsrunde beteiligt waren, lehnten eine Stillegung ihrer Anlagen nach 35 Kalenderjahren als "wirtschaftlich unvertretbar" ab (Spiegel, 21.6.; taz, 23.6.; Wirtschaftswoche, 24.6.; Welt, 22.6.).
Das erwähnte Papier sieht weiter vor, daß beide Seiten die Begrenzung der Laufzeit in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag festlegen. Der Neubau von Kernkraftwerken wird verboten. Es soll weder Schadenersatzansprüche noch juristische Auseinandersetzungen um entsprechende Änderungen des Atomgesetzes geben. Die Bundesregierung sichert dafür den Betreibern zu, daß sie ihre Restlaufzeiten ohne Störungen durch behördliche Intervention ausnutzen können, sofern Sicherheit und Entsorgungsauflagen befolgt werden. Die Entsorgung wird nach fünf Jahren auf die direkte Endlagerung beschränkt. Radioaktive Abfälle müssen nach einer Übergangszeit von fünf Jahren grundsätzlich am Kraftwerksstandort oder in dessen Nähe zwischengelagert werden, abgesehen von der Rückführung der Abfälle aus ausländischen Wiederaufarbeitungsanlagen und der ab 2030 vorzusehenden Überführung der zwischengelagerten Abfälle in ein Endlager. Die Betreiber verpflichten sich, abgebrannte Brennelemente nur noch bis spätestens Ende 2004 in ausländische Wiederaufarbeitungsanlagen zu verbringen, sofern ihnen bis Ende 1999 solche Transporte wieder möglich sind. Beide Seiten stimmen überein, ein neues Endlager-Konzept zu erarbeiten. Eine definitive Standortentscheidung durch den Bund muß bis etwa 2020/2025 durchgeführt werden. Die Bundesregierung sichert zu, daß bis dahin die Entsorgungsvorsorgenachweise der Betreiber nicht in Gefahr kommen und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Kernenergienutzung nicht durch einseitige, nur die Kernenergie betreffende Steuern oder sonstige Maßnahmen beeinträchtigt werden. Bei Verletzung wesentlicher Bestimmungen des Vertrags steht den Kernkraftwerksbetreibern ein Kündigungsrecht zu.
Die Süddeutsche Zeitung (22.6.) hält es für äußerst problematisch, daß die Bundesregierung derart bedeutungsvolle und weit in die Zukunft reichende Vereinbarungen im Wege eines Vertrags mit der Industrie regeln will: "Beim Ausstieg aus der Kernenergie handelt es sich um eine Leitentscheidung von enormer Bedeutung. Darüber kann nicht die Exekutive mit den Betroffenen verhandeln und entscheiden; darüber muß das Parlament per Gesetz befinden. Und schon gar nicht kann durch einen Vertrag, den die Regierung Schröder mit der Industrie schließt, der Gesetzgeber auf viele Legislaturperioden hinaus gebunden werden."
Im Streit um die Besteuerung der Entsorgungsrückstellungen
(990301 u. 990421)
sind sich Kernkraftwerksbetreiber und Bundesregierung anscheinend
näher gekommen. Laut Spiegel (7.6.) erklärten sich die
Kernkraftwerksbetreiber grundsätzlich bereit, in den nächsten
zehn Jahren 16,7 Milliarden Mark an Steuern zu bezahlen. Allerdings
wollten sie der Steuerzahlung erst dann endgültig zustimmen,
wenn auch die anderen Punkte des angestrebten Energiekonsenses
erfolgreich verhandelt worden sind.