April 2024 |
240403 |
ENERGIE-CHRONIK |
Mit großer Mehrheit gab das Europäische Parlament am 24. April seine erforderliche Zustimmung, damit die Europäische Union endlich ihren Austritt aus dem Vertrag über die "Energie-Charta" erklären kann. Mit 560 Stimmen bei 43 Gegenstimmen und 27 Enthaltungen billigte es eine entsprechende Empfehlung der Ausschüsse für Industrie, Forschung, Energie und internationalen Handel. Die EU kann damit den längst überfälligen Austritt vollziehen, nachdem alle Bemühungen der EU-Kommission gescheitert sind, den Anfang der neunziger Jahre abgeschlossenen Investitionsschutzvertrag zumindest so zu reformieren, dass er nicht mehr innerhalb der EU von hier ansässigen Konzernen zu Schiedsgericht-Klagen gegen einen der Mitgliedsstaaten mißbraucht werden kann und dadurch das europäische Recht unterminiert (210705).
Die EU-Staaten sind seinerzeit sowohl korporativ als auch einzeln der Energie-Charta beigetreten. Nach erfolgtem Austritt der EU bleiben sie deshalb Mitglieder des Investitionsschutzvertrags, solange sie den Austritt nicht individuell erklären. Als erstes EU-Land hat 2016 Italien diesen Schritt vollzogen. Deutschland hat im November 2022 seinen Austritt angekündigt und noch im selben Jahr umgesetzt. Wie das Bundeswirtschaftsministerium auf Nachfrage mitteilte, ist dieser Austritt seit 21. Dezember 2023 völkerrechllich wirksam geworden. Auch Polen und Frankreich seien seit Ende vorigen Jahres keine Vertragsmitglieder mehr. Außerdem hätten inzwischen Slowenien, Luxemburg und Portugal ihren Rücktritt notifziert sowie weitere EU-Staaten Absichtserklärungen abgegeben.
Als der Vertrag 1991 zustande kam (911204), war er ein formal neutrales internationales Investitionsschutzabkommen, das allen Unterzeichnern dieselben Verpflichtungen auferlegte. Faktisch zielte er aber auf die chaotischen Verhältnisse in Russland, wo nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes ein von Korruption und Willkür geprägter Raubtier-Kapitalismus herrschte. Um dennoch die gewaltigen Reserven an Gas und Öl auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion mit Hilfe westlicher Technologie und westlichen Kapitals erschließen zu können, sollte die russische Regierung vor einem unabhängigen Schiedsgericht direkt verantwortlich gemacht werden können, falls infolge der allgegenwärtigen Rechtsunsicherheit das Kapital ausländischer Investoren gefährdet oder ganz verloren gehen sollte. Der Grundgedanke war dabei wohl, dass die jeweiligen Machthaber im Kreml sich auf der internationalen Ebene weiterhin so vertragstreu verhalten würden, wie es ihre sowjetischen Vorgänger trotz des jahrzehntelang andauernden "Kalten Kriegs" getan hatten.
Der Vertrag trat dann 1998 in Kraft, nachdem ihn 36 von insgesamt 49 Unterzeichnerstaaten auch ratifiziert hatten. Aber ausgerechnet Russland zögerte weiterhin mit der Ratifizierung, und nach dem Machtantritt Putins machte der Kreml endgültig klar, dass sie niemals stattfinden werde (siehe Hintergrund, Oktober 2016). Der Vertrag erfüllte deshalb nie seinen eigentlichen Zweck und versank erst mal in Bedeutungslosigkeit. Etliche Jahre später wurde er aber zunehmend von international agierenden Unternehmen als ideales Instrument entdeckt, um auch die Regierungen von Staaten mit intakter demokratischer Rechtsordnung vor dem Schiedsgericht in Washington zu verklagen, wenn sie ihre Gewinnerwartungen durch politische Entscheidungen gemindert sahen. Einzige Voraussetzung war und ist, dass sie in dem betreffenden Staat, der ihre Investitionen beeinträchtigt haben soll, nicht zugleich ihren Sitz haben, denn dann müssten sie den nationalen Rechtsweg beschreiten. Schon mit der Androhung oder Erhebung einer derartigen Klage können so die nationalen Rechtswege ausgeschaltet, Regierungen unter Druck gesetzt und die Steuerzahler der beklagten Staaten um riesige Summen geschröpft werden. Besonders fatal wirkte sich das für Umweltschutz und Energiewende aus. Die "Energie-Charta" lässt es nämlich zu, dass nicht nur erlittene Verluste geltend gemacht werden können, sondern auch die Hochrechnung auf erwartete Gewinne, aus denen wegen Umweltschutzmaßnahmen oder ähnlichen staatlichen Eingriffen nichts geworden ist.
Eine besondere Tücke der "Energie-Charta" besteht darin, dass sie die Beteiligten auch noch zwanzig Jahre nach dem Austritt bindet. Konkret bedeutet dies, dass beispielsweise die Kohlekraftwerksbetreiber RWE und Uniper, welche die niederländische Regierung wegen des von ihr beschlossenen Kohleausstiegs auf Schadensersatz verklagt hatten, diese Klagen noch zwanzig Jahre nach der Kündigung des Vertrags hätten erheben können. In diesem Fall haben sich beide Klagen inzwischen allerdings erledigt, weil sie sowohl von Uniper als auch von RWE zurückgezogen wurden (231112). Bei Uniper wäre es sonst am Ende sogar die Bundesregierung gewesen, welche die niederländische Regierung auf Schadensersatz verklagt hätte, weil sie den Konzern mit vielen Milliarden Euro vor dem Untergang gerettet hatte und dadurch dessen faktischer Alleineigentümer geworden war (221211).
Die erwähnte Klausel zum langfristigen Schutz privater Profitinteressen diente
auch als Begründung, weshalb die EU-Kommission so lange den Versuch machte,
den Vertrag zu reformieren statt ihn einfach zu kündigen. Indessen dürfte diese
sogenannte "Sunset-Klausel" mit dem Unionsrecht ebenso unvereinbar
sein wie dessen Aushebelung durch internationale Schiedsgerichte im Binnenmarkt,
die von den EU-Staaten bereits 2019 in einer gemeinsamen Erklärung als unzulässig
bezeichnet wurde (190107).