Dezember 2021 |
211203 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die Schäden an Block 1 des chinesischen Kernkraftwerks Taishan, die vor einem halben Jahr publik wurden (210604), könnten auf einen generellen Konstruktionsfehler des französischen Reaktors vom Typ EPR zurückzuführen sein. Dies ergibt sich aus Hinweisen, die ein unbekannter Informant aus der Nuklearindusrie, der anonym bleiben möchte, der "Commission de Recherche et d'Information Indépendantes sur la Radioactivité" (CRIIRAD) zukommen ließ. Demnach sind die Schäden auf eine ungleichmäßige Verteilung des Wasserflusses im Reaktor zurückzuführen. Dadurch kommt es zu starken Vibrationen mit Brüchen an den Hüllrohren der Brennstäbe und einer anormalen Abnutzung der Brennelemente-Gitter, welche die Brennstäbe halten. Die so im Primärkreislauf des Druckwasserreaktors freigesetzte Radioaktivität kann nicht mehr im Rahmen der geltenden Grenzwerte an die Umwelt abgegeben werden. Da diese Grenzwerte in Taishan um mehr als das Doppelte überschritten bzw. pseudo-legal angehoben wurden, ergab sich für Beschäftigte und Anwohner des Kernkraftwerks eine schwerwiegende Gefährdung.
Die Strömungsverhältnisse im Reaktordruckbehälter sind eine recht komplizierte Angelegenheit, aber von großer Bedeutung für die Stabilität von Brennelementen und Brennstäben, wie sich jetzt beim ersten funktionierenden EPR in China zeigt. Um sie besser studieren zu können, wurde am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf die Versuchsanlage ROCOM errichtet. Kernstück dieser Anlage ist das aus Plexiglas gefertigte Modell eines Reaktordruckbehälters im Maßstab 1:5, mit dem sich verschiedene Strömungs-Szenarien ohne radioaktive Gefährdung simulieren und erforschen lassen. Foto: HZR
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Die chinesischen Behörden hatten die Hüllrohr-Defekte beim Reaktor 1, die erstmals Im Oktober 2020 festgestellt wurden, zunächst zu verheimlichen versucht. Als Notlösung erhöhten sie die zulässigen Grenzwerte für die Abgabe von Radioaktivität an die Umwelt um mehr als das Doppelte. Weitere Anhebungen waren zu erwarten. Dies alarmierte jedoch die Electricité de France (EDF), die als Konstrukteur und Miteigentümer des Kernkraftwerks nicht hinters Licht geführt werden konnte. Anfang Juni warnte die EDF-Tochter Framatome in einem Schreiben an die US-Regierung vor einer "unmittelbar drohenden radioaktiven Gefährdung".
Angesichts der so entstandenen weltweiten Publizität sahen am Ende auch die Chinesen ein, dass die Mißachtung der geltenden Grenzwerte keine Lösung war. Am 30. Juni 2021 schalteten sie den Reaktor 1 vorzeitig ab. Normalerweise hätte der zweite Betriebszyklus nach der Inbetriebnahme am 29. Juni 2018 erst in ungefähr einem halben Jahr geendet. Vermutlich wird es nun auch nicht zum planmäßigen Austausch von Brennelementen kommen, solange die Ursache für die Schäden, die sich unbemerkt schon im ersten Betriebszyklus angebahnt haben dürften, nicht erforscht und behoben ist.
Die in Valence (Südfrankreich) ansässige Organisation CRIIRAD wurde 1986 nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl gegründet, um über die Risiken von Radioaktivität unabhängig von Behörden und Industrie aufzuklären. Sie hat die erhaltenen Informationen Ende November an die französische Atomaufsichtsbehörde ASN weitergeleitet und um Stellungnahme gebeten, wieweit sich derselbe Fehler auch bei Taishan 2 sowie bei den noch im Bau begriffenen EPR-Reaktoren in Flamanville (Frankreich) und Hinkley Point (Großbritannien) auswirken könnte (siehe PDF). Dasselbe gilt für den EPR am finnischen Standort Olkiluoto, der im Januar ans Netz geht (211204). "Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die nuklearen Sicherheitsbehörden der betroffenen Ländern eine gründliche Analyse der Rückmeldungen zu Taishan 1 und deren Auswirkungen auf die Sicherheit des EPR durchführen können", heißt es in ihrem Schreiben. Die nun vorliegenden neuen Hinweise seien hinreichend solide und kohärent, um ihre Überprüfung und Validierung durch die ASN zu verlangen.
Eine Antwort der ASN steht bisher aus. Sie dürfte wohl eher etwas vage gehalten sein. Der Sachverhalt ist nämlich nicht nur technisch kompliziert. Er ist hinzu politisch brisant, weil das Festhalten an der Kernenergie zu den wichtigsten Programmpunkten gehört, mit denen der amtierende Staatschef Emmanuel Macron bei den bevorstehenden Präsidentenschaftswahlen seine Wiederwahl sichern möchte (211008). Trotz jahrzehntelanger Anstrengungen konnte die französische Nuklearindustrie den EPR-Reaktor bisher nur in China ans Netz bringen. Und nun gibt es ausgerechnet bei diesem einzigen Vorzeigeprojekt ernsthafte Probleme. Außerdem ist damit rechnen, dass beim baugleichen Reaktor Taishan 2, der ein Jahr später am 23. Juni 2019 in Betrieb ging, demnächst dieselben Schäden auftreten. Es ist allerdings keineswegs sicher, dass dies dann auch sogleich bekannt wird.
Unterdessen gibt es in Frankreich neuen Ärger mit den in Betrieb befindlichen 56 Kernkraftwerken, die in den siebziger und achtziger Jahren ans Netz gingen. Betroffen sind die beiden modernsten und leistungsfähigsten Kernkraftwerke Civaux und Chooz, deren insgesamt vier Reaktoren eine elektrische Netto-Leistung von jeweils an die 1500 Megawatt erbringen. Wie die "Electricité de France" (EDF) am 15. Dezember mitteilte, wurden bei "vorbeugenden Wartungsprüfungen", die im Rahmen der Zehnjahresinspektion stattfanden, am Primärkreislauf des Reaktors Civaux 1 "Defekte in der Nähe von Schweißnähten der Rohrleitungen des Sicherungsinjektionskreises (RIS) festgestellt". Der Sicherheitskreislauf soll die Kühlung des Reaktors im Falle eines Unfalls sicherstellen. Er ermöglicht die Einspritzung von boriertem Wasser in den Reaktorkern, um die Kernreaktion zu stoppen und das Wasservolumen im Primärkreislauf bei einem Unfall mit Verlust des Primärkühlmittels aufrechtzuerhalten. Die daraufhin vorgenommene Überprüfung des zweiten Reaktors in Civaux ergab ein ähnliches Schadensbild. Deshalb durften beide Reaktoren nach den durchgeführten Kontrollen nicht mehr ans Netz, sondern bleiben unbefristet abgeschaltet, bis die schadhaften Teile ausgewechselt sind. Außerdem wurden am 16. und 18. Dezember auch die beiden baugleichen Rektoren in Chooz abgeschaltet, um die dort ebenfalls zu erwartenden Schäden zu inspizieren und zu reparieren.
Durch den ungeplanten Stopp der vier Reaktoren wird die EDF nach ihren Angaben bis Jahresende ungefähr eine Terawattstunde an Stromerzeugung verlieren. Sie berichtigte deshalb ihren Jahresgewinn, denn sie bisher ohne Zinsen, Steuern, Abschreibungen und sonstigen Finanzierungsaufwendungen auf mehr als 17,7 Milliarden Euro taxierte, auf möglicherweise nur 17,5 Milliarden Euro. Als Folge rutschte die EDF-Aktie an der Pariser Börse um rund 13 Prozent ab. Je nach Dauer der Reparaturen könnten die Stromverluste im neuen Jahr noch um ein vielfaches höher werden.
Zusammen mit den deutschen Kernkraftwerken Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2, die wegen ihrer Baugleichheit auch als "Konvoi-Reaktoren" bezeichnet werden, bildete die französische Baureihe N4 mit den Reaktoren in Chooz und Civaux einst den Ausgangspunkt für die Entwicklung des "Europäischen Druckwasser-Reaktors" (EPR). Dabei handelte es sich um ein Gemeinschaftsprojekt, mit dem Anfang der neunziger Jahre der Siemens-Konzern und die französische Nuklearindustrie eine Renaissance der Kernenergie herbeizuführen versuchten, die damals zumindest in Deutschland schon stark in Bedrängnis geraten war. Aus dieser Renaissance wurde bekanntlich nichts, weshalb Siemens sukzessive ausstieg und das Projekt schließlich den Franzosen allein überließ. Um den Reaktor international besser vermarkten zu können, unterlegten diese dem Akronym EPR, das ursprünglich für "European Pressurized Reactor" stand, eine neue Deutung im Sinne von "Evolutionary Pressurized Reactor" (siehe Hintergrund, August 2020).