April 2016 |
160407 |
ENERGIE-CHRONIK |
In Belgien gerät die Atomaufsichtsbehörde FANC unter Druck, nachdem sie das Wiederanfahren der beiden Reaktoren Doel 3 und Tihange 2 erlaubte und bedenkenlos auch die Laufzeiten für die Reaktoren Doel 1 und 2 verlängerte (160104). Am 25. April veröffentlichte die führende belgische Zeitung "Le Soir" vorab einen Untersuchungsbericht, der desaströse Zustände bei der Atomaufsicht offenlegt und außerdem Zweifel an deren Unabhängigkeit weckt.
Die Untersuchung war vom Verwaltungsrat der Atomaufsicht beschlossen worden, nachdem "Le Soir" vor einem Jahr ein Porträt des FANC-Direktors Jan Bens veröffentlicht hatte, das ziemlichen Wirbel verursachte. Der gelernte Ingenieur hatte dem Blatt beiläufig von der "unglaublichen Korruption" erzählt, der er in Kasachstan begegnete, als er dort in den neunziger Jahren für das Unternehmen Tractebel tätig war. Auf Nachfrage hatte er arglos eingeräumt, nicht nur mit Bestechungsangeboten konfrontiert worden zu sein, sondern auch selber dafür gesorgt zu haben, daß die Tractebel-Geschäfte wie geschmiert liefen.
Obwohl Belgien sicher nicht Kasachstan ist, vertrug sich diese Eingeständnis schlecht mit Bens' heutiger Position als Direktor der Atomaufsicht. Mit der Untersuchung wurde die Unternehmensberatung "Whyte Corporate Affairs" beauftragt. Sie hat rund vierzig Mitarbeiter der Behörde jeweils mehr als zwei Stunden zu allen möglichen Interna befragt. Außerdem wurden rund zwanzig weitere Personen interviewt, die als Mitarbeiter der Electrabel, des Forschungszentrums Mol oder der Regierung mit der Behörde zu tun hatten. Das Ergebnis sollte am 29. April dem Verwaltungsrat vorgelegt werden. Die belgischen Grünen hielten es aber für so bedenklich, daß sie vorab für die Veröffentlichung durch "Le Soir" sorgten.
Der FANC-Direktor Bens, auf den die Untersuchung hauptsächlich zielte, gab persönlich noch am wenigsten Anlaß zur Kritik. Er wurde von allen Befragten als "menschlich", "warmherzig" und "sehr kenntnisreich" beschrieben. Zugleich sei er aber auch konfliktscheu und führungsschwach. Deshalb habe sich unter seiner Leitung ein "vergiftetes Klima" in der Behörde ausbreiten können, das von Machtkämpfen, mangelnder Kollegialität, fehlender Abstimmung und Verantwortungsscheu geprägt sei. Es gebe zu viele "kleine Chefs", die "wie Hähne auf dem Misthaufen" miteinander rivalisieren würden.
Noch schlimmer: Sowohl Mitarbeiter als auch extern Befragte hatten keine hohe Meinung vom unbestechlichen Urteil der Behörde in Fragen der nuklearen Sicherheit. "Es herrscht der Eindruck, daß die Unabhängigkeit der Behörde gegenüber dem politischen und wirtschaftlichen Bereich immer geringer wird", faßten die Berichterstatter das Ergebnis ihrer Befragung zusammen.
"Die Untersuchung bestätigt schwarz auf weiß, was die Umweltschützer seit Jahren anprangern: Bei jeder heiklen Angelegenheit läßt sich FANC von der Regierung oder Electrabel unter Druck setzen", erklärte der Grünen-Abgeordnete Jean-Marc Nollet. Man müsse deshalb alle umstrittenen Entscheidungen der Behörde neu aufrollen. Insbesondere gelte das für die Erlaubnis zum Wiederanfahren der mängelbehafteten Reaktoren Doel 3 und Tihange 2 sowie die Verlängerung der Laufzeiten von Doel 1 und 2.
Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) forderte die belgische Regierung am 20. April auf, die beiden Reaktoren Doel 3 und Tihange 2 vom Netz zu nehmen, bis die offenen Sicherheitsfragen geklärt sind. Sie stützte sich dabei auf eine Stellungnahme der deutschen Reaktorsicherheitskommission (RSK), die sie angefordert hatte. Laut Hendricks fanden die RSK-Experten zwar keine konkreten Hinweise, daß die Druckbehälter einer extremen Belastung nicht gewachsen sein könnten. Sie hätten aber auch nicht bestätigen können, daß in einem solchen Fall die für erforderlich gehaltenen "Sicherheitsabstände" eingehalten werden.
Am 5. und 6. April tagte zum ersten Mal eine deutsch-belgische Arbeitsgruppe zur nuklearen Sicherheit, die auf Initiative des Bundesumweltministeriums gegründet wurde. Wie das Ministerium mitteilte, befürworteten sowohl deutsche als auch belgische Experten weitergehende Untersuchungen zu den konstruktionsbedingten Mikro-Rissen in den Reaktoren Doel 3 und Tihange 2.
Nordrhein-Westfalen schließt sich dem juristischen Vorgehen gegen das belgische Atomkraftwerk Tihange 2 an. Wie das Umweltministerium am 12. April ankündigte, wird das Land der Klage der Städteregion Aachen gegen die Wiederaufnahme des Reaktorbetriebs (160214) beitreten. "Wir verstehen den Klagebeitritt auch als klares politisches Signal an die besorgte Bevölkerung und die belgische Regierung, dass wir atomare Gefahren aus dem Ausland nicht tatenlos akzeptieren", erklärete NRW-Umweltminister Johannes Remmel (Grüne). Tihange 2 sei ein "Bröckel-Reaktor", der abgeschaltet werden müsse.