Januar 2016 |
160104 |
ENERGIE-CHRONIK |
Mehr als die Hälfte des belgischen Atomstroms kommt aus den vier Reaktoren des Kernkraftwerks Doel an der Schelde. Die Blöcke 1 und 2 (rechts) sind die ältesten der insgesamt sieben belgischen Reaktoren und hätten eigentlich 2015 stillgelegt werden müssen. Die Regierung sorgte aber für eine Gesetzesänderung, die dem Betreiber Electrabel eine Ausweitung der Laufzeiten auf fünfzig Jahre sowie eine starke Ermäßigung der steuerlichen Abschöpfung der KKW-Gewinne beschert. |
Anfang Januar ging in Belgien der Reaktor Doel 1 wieder ans Netz, der am 15. Februar 2015 abgeschaltet werden mußte, weil das 2003 beschlossene Atomausstiegsgesetz (030110) seine Stillegung vorschrieb. Der Reaktor Doel 2 hätte zum 1. Dezember 2015 ebenfalls stillgelegt werden müssen. Dazu kam es aber erst gar nicht, weil die Regierung am 28. Juni vergangenen Jahres ein Gesetz verabschieden ließ, das die Laufzeiten beider Reaktoren bis ins Jahr 2025 verlängert. Die Reaktoren Doel 4, Tihange 1 und Tihange 4 dürfen ebenfalls so lange in Betrieb bleiben. Von den insgesamt sieben Blöcken an den beiden belgischen KKW-Standorten Doel und Tihange (siehe Tabelle) gilt damit nur noch für Doel 3 und Tihange 2 die ursprünglich für sämtliche Reaktoren vorgesehene Befristung der Laufzeit auf vierzig Jahre.
In Doel 3 und Tihange 2 waren 2012 konstruktionsbedingte Risse im Reaktordruckbehälter festgestellt worden. Sie wurden deshalb zweimal vom Netz genommen und untersucht. Am 17. November 2015 erteilte die Atomaufsichtsbehörde FANC dann aber doch die Erlaubnis zum Wiederanfahren, weil die Risse kein Sicherheitsrisiko darstellen würden. Am 22. Dezember gab die Behörde außerdem grünes Licht für Doel 1 und 2. Diese beiden Blöcke sind die ältesten und nach vierzig Jahren Laufzeit besonders abgewirtschaftet. Die Wiederinbetriebnahme bzw. der Weiterbetrieb waren deshalb bei der Revision des Atomausstiegsgesetzes von einer Überprüfung abhängig gemacht worden.
Die Wiederinbetriebnahme von Doel 3 und Doel 1 klappte allerdings erst im zweiten Anlauf: Doel 3 mußte am ersten Weihnachtsfeiertag vom Netz genommen werden, weil an einer Heißwasserleitung im konventionellen Teil der Anlage ein Leck auftrat. Zusätzlich gab es Probleme mit einem Hochspannungsschalter, weshalb sich das erneute Hochfahren bis ins neue Jahr verzögerte. Der Reaktor Doel 1 schaltete sich am 2. Januar automatisch ab, nachdem er am 30. Dezember ans Netz gegangen war. Der Grund war ein Turbinenschaden im konventionellen Teil der Anlage, der aber bis 4. Januar behoben werden konnte.
Drei weitere Reaktoren betreibt Electrabel in Tihange an der Maas. Zwei davon dürfen nun ebenfalls bis 2025 am Netz bleiben. Nur für Block 2 gilt weiterhin eine Laufzeit von vierzig Jahren, weil sein Reaktordruckbehäìter – ebenso wie der von Doel 3 – konstruktionsbedingte Risse aufweist. Fotos (2): Electrabel
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Die belgische Mitte-Rechts-Regierung rechtfertigt die Verschiebung des Atomausstiegs mit Stromengpässen, die sonst drohen würden. Allerdings hatten sie und ihre Vorgänger auch nichts unternommen, um den den seit 2003 gesetzlich verankerten Atomausstieg durch den Ausbau anderer Kraftwerkskapazitäten vorzubereiten und abzusichern. Belgien deckt ungefähr die Hälfte seines Stromverbrauchs mit Kernenergie. Nach der derzeitigen Gesetzeslage würde die installierte Gesamtkapazität von 4.924 MW netto erst im Oktober 2021 und im Februar 2023 um jeweils 1008 MW verringert. Rund sechzig Prozent der KKW-Kapazitäten blieben damit bis 2025 in Betrieb. Es wäre praktisch kaum möglich, eine derart hohe Leistung binnen eines einzigen Jahres abzuschalten und durch andere Stromquellen zu ersetzen. Der neue Zeitplan für den Ausstieg Belgiens aus der Atomenergie bis 2025 bleibt deshalb mit großen Fragezeichen versehen.
Das "Gesetz über den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie" vom 31. Januar 2003 hatte den sieben Reaktoren der GDF Suez-Tochter Electrabel einheitlich eine Laufzeit von vierzig Jahren zugestanden. Für die drei ältesten Reaktoren, die 1975 in Betrieb genommen wurden, hätte dies bis 2015 das Aus bedeutet. Im Oktober 2009 war es dann aber zu einer Art Kuhhandel zwischen der damaligen Regierung von Herman van Rompuy und GDF Suez gekommen: Die Regierung erklärte sich bereit, Doel 1 und 2 sowie Tihange 1 bis 2025 laufen zu lassen, wofür GDF Suez und die Miteigentümerin EDF jährlich einen Betrag zwischen 215 bis 245 Millionen Euro an die Staatskasse abführen sollten (091004).
Mit dieser Vereinbarung wollte man anscheinend auf gütlichem Wege eine juristische Auseinandersetzung um die Atomsteuer beenden, mit der die Regierung seit 2008 die KKW-Gewinne abschöpfte. Es handelte sich aber wohl eher um eine Art Absichtserklärung. Es kam jedenfalls nie zu einem entsprechenden Gesetz. Van Rompuy legte kurz darauf sein Amt nieder, weil er zum Präsidenten des Europäischen Rats gewählt wurde. Die nachfolgende Regierung unter Yves Leterme scheiterte im April 2010. Die ab Dezember 2011 amtierende Koalition des Sozialisten Elio Di Rupo sah sich nicht verpflichtet, die zwischen GDF Suez und van Rompuy vereinbarte Gesetzesänderung zu exekutieren, sondern entschied sich für die Beibehaltung der Atomsteuer. Parallel dazu verkündete sie im Juli 2012 die Absicht, die beiden ältesten Reaktoren Doel 1 und 2 schon 2014 stillzulegen und lediglich die Laufzeit des fast genauso alten Reaktors Tihange 1 um zehn Jahre bis 2025 zu verlängern.
GDF Suez ließ damals die Tochter Electrabel eine Pressemitteilung veröffentlichen, die der Regierung vorwarf, die im Oktober 2009 geschlossene Vereinbarung nicht zu respektieren, obwohl dieses "protocole d'accord" verbindliche wechselseitige Abmachungen enthalte. Wenn die Regierung nun Abstriche an der Verlängerung der Laufzeiten beabsichtige, werde dies in keiner Weise dem Ziel gerecht, die Sicherheit der belgischen Stromversorgung zu garantieren. Außerdem stünden jeweils 500 Millionen Euro an Investitionen auf dem Spiel, die an den Standorten Doel und Tihange vorgesehen seien. Wenn die Regierung nicht für Rechts- und Investitionssicherheit sorge, werde Electrabel die drei Reaktoren bis 2015 stillegen, wie dies im ursprünglichen Ausstiegsgesetz vorgesehen war.
Der Protest blieb vergebens. Das modifizierte Atomausstiegsgesetz vom 18. Dezember 2013 verlängerte lediglich die Laufzeit für Tihange 1 auf fünfzig Jahre bis 2025. Für alle anderen Reaktoren blieb es bei vierzig Jahren. Keinen Erfolg hatte auch eine Klage auf Rückzahlung der für 2008, 2009 und 2010 gezahlten Atomsteuer, die Electrabel nun damit begründete, daß die Regierung verbindliche Vereinbarungen nicht eingehalten habe. Die grundsätzliche Zulässigkeit der Steuer war bereits 2010 vom Verfassungsgericht bestätigt wurden. Und auch an der Höhe, die mittlerweile bis zu 550 Millionen Euro im Jahr betrug, fanden die Richter nichts auszusetzen, als Electrabel 2014 zum drittenmal den Verfassungsgerichtshof bemühte.
Dafür verbesserten sich für GDF Suez die Chancen auf politischer Ebene, nachdem im Oktober 2014 die Mitte-Rechts-Regierung unter dem Ministerpräsidenten Charles Michel ins Amt gekommen war. Ende Juni 2015 bescherte diese der Electrabel mit dem zweiten Gesetz zur Änderung des Atomausstiegsgesetzes von 2003 eine Laufzeiten-Verlängerung, die noch deutlich über die 2009 getroffenen und dann nicht eingelösten Abmachungen hinausging: Doel 1 darf nun bis zum 15. Februar 2025 in Betrieb bleiben, Doel 2 bis zum 1. Dezember 2025, Doel 3 bis 1. Oktober 2022 und Doel 4 bis zum 1. Juli 2025. Am zweiten KKW-Standort darf Tihange 1 bis 1. Oktober 2025 Strom erzeugen, Tihange 2 bis 1. Februar 2023 und Tihange 3 bis 1. September 2025. Fünf der sieben belgischen Reaktoren haben damit eine Restlaufzeit von fünfzig Jahren bekommen. Die ursprünglich vorgesehenen vierzig Jahre gelten nur noch für Doel 3 und Tihange 2.
Und nicht nur das: Bei den Verhandlungen zeigte die Regierung viel Verständnis für das Argument, daß Electrabel angesichts der nun erforderlich werdenden Investitionen in die bestehenden Anlagen bei der Atomsteuer entlastet werden müsse: Für 2015 beließ es der Staat bei einer pauschalen Gewinnabschöpfung von 200 Millionen Euro. Für 2016 wurden 130 Millionen vereinbart. Ab 2017 soll die Atomsteuer variabel mit einer Formel ermittelt werden, welche die Veränderungen von Kosten, Erzeugungsmenge und Strompreisen berücksichtigt. Electrabel soll aber mindestens 150 Millionen Euro zahlen und hinzu jährlich 20 Millionen einem neugeschaffenen Energiewende-Fonds zukommen lassen.
Der KKW-Betreiber stellte dafür in Aussicht, in den kommenden zehn Jahren 4,3 Milliarden Euro in Belgien zu investieren. Davon seien 1,3 Milliarden Euro für die Ertüchtigung der drei ältesten Reaktoren gedacht. Die restlichen drei Milliarden Euro würden außerhalb des nuklearen Sektors investiert.