Mai 2014 |
140501 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die Betreiber der deutschen Kernkraftwerke wollen aus dem unrentabel gewordenen Geschäft aussteigen und alle damit verbundenen Lasten auf den Staat abwälzen. Wie der "Spiegel" (12.5.) berichtete, dringen E.ON, RWE und EnBW auf die Gründung einer öffentlich-rechtlichen Stiftung, die mit den derzeit noch neun Atomkraftwerken auch die Beseitigung aller stillgelegten Anlagen und radioaktiven Abfälle übernimmt. Die Konzerne hätten die Bundesregierung bereits in groben Zügen über ihr Vorhaben informiert. Auf Nachfrage des Grünen-Abgeordneten Oliver Krischer bestätigte der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Rainer Baake, daß die Vorstandsvorsitzenden Terium (RWE) und Teyssen (E.ON) derartige Überlegungen bei jeweils zwei Gesprächen vortrugen, die sie im Februar mit Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) und Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) führten. Sie hätten jedoch keine konkreten Pläne vorgelegt. Es habe zu diesem Punkt weder Verhandlungen noch irgendwelche Beschlüsse der Bundesregierung gegeben.
Für die vier Atomkonzerne – zu denen außerdem Vattenfall gehört – wäre das ein lukratives Geschäft. Das Atomgesetz verpflichtet sie zur gefahrlosen Entsorgung aller radioaktiven Abfälle, wozu auch der Abriß von stillgelegten Kernkraftwerken gehört. Ihre Entsorgungs-Rückstellungen, die sich Ende 2013 auf 36 Milliarden Euro beliefen, reichen aber mit Sicherheit nicht aus, um den gefahrlosen "Rückbau" sämtlicher Kernkraftwerke zu ermöglichen, die bereits abgeschaltet sind oder bis 2022 vom Netz gehen. Allenfalls wäre ein sogenannter "sicherer Einschluß" möglich, bei dem die Reaktoren als radioaktiv verseuchte Ruinen in der Landschaft stehen bleiben.
Dem Bericht zufolge wollen die Konzerne neben dem Kernenergiegeschäft auch ihre Entsorgungs-Rückstellungen in die neu zu gründende "Bad Bank der Energiewirtschaft" einbringen. Da sie zur Bildung dieser Rücklagen gesetzlich verpflichtet sind, wäre das allerdings nur eine Selbstverständlichkeit. Es handelt sich allenfalls insofern um ein Opfer, als es den Konzernen bisher möglich war, mit diesen steuerfreien Rückstellungen ihre geschäftliche Expansion zu finanzieren (071115). Ein großer Teil der Gelder steckt deshalb in irgendwelchen Kraftwerken, deren Wert eher ab- als zunimmt. Zumindest RWE soll deshalb gar nicht in der Lage sein, die ausgewiesenen Rückstellungen in Höhe von zehn Milliarden Euro in die vorgeschlagene Stiftung einzuzahlen, sondern müßte erst eine Kapitalerhöhung durchführen.
Um der Bundesregierung den unvorteilhaften Handel schmackhaft zu machen, bieten die Konzerne außerdem den Verzicht auf Schadenersatzforderungen an. In erster Linie geht es dabei um die Klagen gegen den im Juni 2011 erneut beschlossenen Atomausstieg, die beim Bundesverfassungsgericht und einem internationalen Schiedsgericht der Weltbank in Washington anhängig sind (120714). Ferner hat RWE gegen die erzwungene Abschaltung des Kernkraftwerks Biblis A im Rahmen des vorab verfügten "Moratoriums" geklagt und gute Aussicht, für diesen dreimonatigen Stillstand entschädigt zu werden (140110). Ein weiterer Verhandlungspunkt könnte die Brennelementesteuer sein, deren vorläufige Rückzahlung die Betreiber bisher für fünf Kernkraftwerke erstritten haben (140405).
"Der Vorschlag der Energiekonzerne ist ein billiger Erpressungsversuch", meinte dazu der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Oliver Krischer. "'Es kann nicht sein, daß RWE, E.ON, Vattenfall und EnBW jahrzehntelang Milliarden mit Atomkraft verdient haben und jetzt am Ende die Kosten des Atommülls auf die Gesellschaft und die Steuerzahler übertragen wollen." Nun zeige sich auch, wie fatal die Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke war, die Angela Merkel 2010 durchsetzte, um sie kurz darauf unter dem Eindruck der Katastrophe in Fukushima wieder rückgängig zu machen. Nur wegen dieser atompolitischen Volte sei die Bundesregierung heute mit Klagen erpreßbar.
Bei der "Spiegel"-Veröffentlichung dürfte es sich um eine lancierte Meldung handeln, um weitere Gespräche zu diesem Thema vorzubereiten und erst einmal die Reaktionen zu testen. Treibende Kraft sind offenbar E.ON und RWE, während die EnBW zwar informiert war, sich aber politisch zurückhielt. Der Vattenfall-Konzern soll sogar von dem Vorstoß überrascht worden sein, obwohl er in diesem Bereich – es geht um die mittlerweile stillgelegten Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel – mit E.ON geschäftlich eng verbandelt ist (101202).
Bisher hat es allerdings nicht den Anschein, als ob der Versuchsballon erfolgreich wäre. Sowohl Union als auch SPD beeilten sich, eine Abwälzung der nuklaren Entsorgungslasten auf den Staat zurückzuweisen. Der Schuß könnte sogar nach hinten losgehen, weil der Vorstoß der KKW-Betreiber in Erinnerung ruft, wie unsicher und unzureichend die Rückstellungen für die Entsorgung der Kernkraftwerke sind. "Die Bundesregierung muß dafür sorgen, daß die Energiekonzerne voll für die Abwicklung der Atomkraft zahlen und haften", forderte Grünen-Sprecher Oliver Krischer. "Dazu gehört, die Rückstellungen in den Konzernbilanzen unter öffentliche Kontrolle zu bringen, die Konzerne aber nicht aus der Haftung zu entlassen."
Mit Datum vom 20. Mai brachten die Grünen einen entsprechenden Antrag im Bundestag ein. Darin bezweifeln sie nicht nur die Auskömmlichkeit der Rückstellungen, sondern auch deren Werthaltigkeit, da die Energiekonzerne seit einiger Zeit mit erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hätten. Der Bundesregierung werfen sie vor, blind auf die Zusagen der Konzerne zu vertrauen. Mit einer Annahme des Antrags durch die Bundestagsmehrheit ist naturgemäß nicht zu rechnen. Die grundlegende Forderung, die Rückstellungen der Verfügungsgewalt der Konzerne zu entziehen, ohne diese aus der Haftung zu entlassen, bleibt aber im politischen Raum und findet nicht nur bei den Grünen Zustimmung.
Schon vor zwei Jahren hat die Umweltorganisation Greenpeace die Einbringung der Rückstellungen in einen öffentlich-rechtlichen Fonds verlangt, weil sie nicht insolvenzsicher seien und vermutlich auch nicht ausreichen würden. Eine damals erstellte Studie bezifferte die Kosten für die Beseitigung der Kernkraftwerke mit 44 bis 60 Milliarden Euro. Allerdings wären die vier Atomkonzerne nach der bisherigen Formulierung im Atomgesetz wohl auch gar nicht zu einer restlosen Beseitigung verpflichtet. In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen räumte die Bundesregierung im November 2011 ein, daß das Atomgesetz "keinen konkreten Zeitpunkt oder Zeitrahmen zur Durchführung einer Stilllegung oder eines Abbaus eines Kernkraftwerks" vorschreibt. Es enthalte auch keine Verpflichtung zum Abbau bis zur "grünen Wiese". Vielmehr seien nach § 7 Abs. 3 AtG der Abbau oder der sogenannte sichere Einschluß der KKW "gleichwertige Stillegungsstrategien".
In ihrer damaligen Antwort auf die Kleine Anfrage bejahte die Bundesregierung ferner das Insolvenzrisiko. Es werde aber gemindert dadurch, daß bei Insolvenz einer KKW-Betreibergesellschaft auch die mit ihr verbundenen Unternehmen für die Stillegungs- und Entsorgungsverpflichtungen einstehen müßten. Diese Bestimmung sei Bestandteil eines "Solidarvertrags", den die vier Atomkonzerne zur Erbringung der vom Atomgesetz in § 14 verlangten Deckungsvorsorge abgeschlossen hätten. Der Vertrag sei zunächst bis April 2012 befristet gewesen und inzwischen bis 27. April 2022 verlängert worden. E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall müßten deshalb auch auf Konzernebene für die Verpflichtungen der ihnen zugeordneten Kernkraftwerksbetreibergesellschaften haften. (120407)
Zehn Monate nach dieser Auskunft wandelte der schwedische Vattenfall-Konzern seine deutsche Tochter, die bis dahin eine Aktiengesellschaft war, in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) um. Mit dem bisherigen Beherrschungsvertrag endete die Haftung des Mutterkonzerns und des hinter ihm stehenden schwedischen Staats. Ähnliches wäre sicher auch bei den drei anderen KKW-Betreibern möglich.
Insgesamt sind in Deutschland seit den sechziger Jahren 35 Reaktoren zur Stromerzeugung in Betrieb genommen worden (siehe Übersicht). Für 26 Anlagen erteilten Stromunternehmen den Bauauftrag. Hinzu errichtete die DDR sechs Reaktoren. Drei weitere wurden als Prototypen von den Atomforschungszentren in Karlsruhe und Jülich betrieben. Die nukleare Hinterlassenschaft der DDR und der ehemaligen Atomforschungszentren wird vom Staat entsorgt. Dafür zuständig ist das bundeseigene Unternehmen "Energiewerke-Nord" (091207).
Von den insgesamt 26 Reaktoren, die seinerzeit von den westdeutschen Stromkonzernen errichtet wurden, sind derzeit noch neun in Betrieb. Acht wurden 2011 aufgrund des neugefaßten Atomgesetzes endgültig abgeschaltet. Sie befinden sich seitdem in der Nachbetriebsphase, die der Genehmigung zur Stillegung vorausgeht. Bei weiteren sechs Reaktoren läuft die Stillegung. Abgeschlossen ist die Stillegung bisher nur bei zwei Uralt-Anlagen mit vergleichsweise winzigen Leistungen: Es handelt sich um das Versuchsatomkraftwerk Kahl (15 MW) und das Kernkraftwerk Niederaichbach (100 MW). Am Standort Kahl (930706) dauerte die Stillegung von 1988 bis 2010 und in Niederaichbach (950814) von 1975bis 1995. Es vergingen also jeweils rund zwanzig Jahre, bis die Standorte aus dem Atomgesetz entlassen werden konnten. Der finanzielle Aufwand für die Stillegung waren in beiden Fällen deutlich höher als für die Errichtung der Anlagen.