März 2010 |
100302 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die schwarz-gelbe Koalition will die Laufzeiten der 17 deutschen Kernkraftwerke um bis zu 28 Jahre verlängern. Die gegenwärtig gültige Regelung mit den Reststrommengen basiert auf einer Betriebsdauer von 32 Jahren, so daß sich dadurch die gesamte Betriebsdauer der Anlagen auf bis zu 60 Jahre verlängern würde. Sogar das älteste Kernkraftwerk Biblis A, das seit 1974 am Netz ist, könnte dann noch bis zum Jahr 2034 produzieren. Für den jüngsten Reaktor Neckarwestheim 2 käme das Aus erst im Jahre 2049.
Zunächst hatten sich die Koalitionäre am 17. März auf eine Verlängerung um fünf, zehn, 15 oder 20 Jahre geeinigt. Zeitungsberichten zufolge war dies aber den Kernenergie-Anhängern in der Unionsfraktion zu wenig. Gegen den Widerstand von Bundesumweltminister Röttgen (CDU) setzten sie ein neues Stufen-Modell durch, daß eine Verlängerung der Betriebsdauer um vier, zwölf, 20 oder 28 Jahre in Betracht zieht. Vorläufig bleibt offen, für welches der vier Modelle sich die Koalition letztendlich entscheiden wird. Sie will erst ein Gutachten abwarten, das sie jetzt in Auftrag gibt und dessen Ergebnisse bis Juni vorliegen sollen. Dann sind auch die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen vorbei, die bisher die Koalition zu besonderer Vorsicht und Rücksichtnahme auf die Wähler veranlaßten. Mit einer tatsächlichen Laufzeiten-Verlängerung um 28 Jahre ist zwar nicht zu rechnen. Die Änderung des vierstufigen Fristen-Modells wird aber – und das dürfte der Hauptzweck der neuen Maximalforderung sein – die am Ende herauskommende Laufzeiten-Verlängerung um mindestens zwei Jahre erhöhen.
Die Kernkraftwerksbetreiber verlassen sich bereits darauf, daß die Laufzeiten-Verlängerung in Kürze beschlossen wird. So ging in Biblis am 19. März der Block A wieder ans Netz, der nur noch eine Reststrommenge von 4196 GWh abarbeiten darf, was bei normaler Produktion bis zum Spätherbst reichen würde. Schon bisher bedurfte es etlicher Mühe und Tricks, um den ältesten deutschen Reaktor vor der endgültigen Stillegung zu bewahren. Dem Betreiber RWE kam zunächst ein neunmonatiger Stillstand zuhilfe, nachdem sich herausgestellt hatte, daß die Siebflächen des Notkühlsystems zu klein waren (031213). Von Oktober 2006 bis Februar 2008 stand der Reaktor sogar 16 Monate lang still, weil Dübel falsch montiert worden waren (080210). Zum letzten Stillstand, der erst jetzt beendet wurde, kam es Ende Februar 2009, nachdem der Reaktor zu einer planmäßigen Revision abgefahren worden war. Diese Revision dauerte sicher nicht ganz zufällig mehr als ein Jahr, denn inzwischen hatte Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) beide RWE-Anträge auf Verlängerung der Laufzeit abgelehnt. In Ermangelung jüngerer Reaktoren, deren Laufzeit-Kontingent ohne Genehmigung auf ältere Reaktoren übertragen werden darf, wollte RWE den Reaktor Biblis A durch Übertragung aus dem Sonderkontingent für Mülheim-Kärlich über die Runden bringen (070303), was allein schon rechtlich unzulässig gewesen wäre (080205). Die ersatzweise beantragte Übertragung vom jüngeren Kernkraftwerk Emsland scheiterte an der fehlenden Zustimmung des Bundesumweltministeriums (080401).
Der Vattenfall-Konzern hat seinen Antrag auf Strommengen-Übertragung vom Kernkraftwerk Krümmel auf das Kernkraftwerk Brunsbüttel zurückgezogen. "Aus unserer Sicht haben sich die politischen Rahmenbedingungen so verändert, daß derzeit die von einer Strommengenübertragung erwarteten betriebswirtschaftlichen Vorteile nicht vorhanden sind", hieß es in einer Pressemitteilung vom 12. März. "Darüber hinaus hat sich die Restlaufzeit des Kernkraftwerks Brunsbüttel auf Grund des Stillstands seit Sommer 2007 entsprechend verlängert. Somit besteht derzeit keine Notwendigkeit für uns, am Antrag auf Strommengenübertragung von Krümmel auf Brunsbüttel festzuhalten."
Vattenfall hatte 2007 zunächst wie RWE eine Übertragung aus dem Kontingent für Mülheim-Kärlich beantragt, was der damalige Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) schon aus rechtlichen Gründen ablehnte (070608). Anschließend war die Übertragung von Krümmel auf Brunsbüttel beantragt und von Gabriel ebenfalls abgelehnt worden (090508). Mit der Rücknahme des Antrags erledigt sich die Klage, die Vattenfall damals gegen diese Entscheidung erhoben hat.
Die von der Koalition geplante Laufzeitverlängerung würde den vier Kernkraftwerksbetreibern umfangreiche Zusatzgewinne bescheren und zu einem "dauerhaften Marktverschluß" führen. Zu diesem Fazit gelangt ein 106-seitiges Gutachten, das die Beratungsunternehmen Becker-Büttner-Held und enervis im Auftrag von mehr als 150 Stadtwerken erstellten und am 15. März der Öffentlichkeit präsentierten. Nach Ansicht der Stadtwerke genügt es nicht, den bei einer Laufzeitverlängerung anfallenden Mehrgewinn der Kernkraftwerksbetreiber staatlich abzuschöpfen. Zusätzlich müßten in entsprechendem Umfang bisherige Kapazitäten an Braun- und Steinkohlekraftwerken stillgelegt werden.
Das Gutachten veranschlagt die Zusatzgewinne der KKW-Betreiber auf rund 60 Milliarden Euro bei einer Laufzeitverlängerung um acht auf 40 Jahre. Am stärksten profitieren würde E.ON mit 26,4 Milliarden (44 Prozent). Es folgen RWE mit 15,6 Milliarden (25 Prozent), EnBW mit 13 Milliarden (22 Prozent) und Vattenfall mit 3,6 Milliarden (6 Prozent). Bei einer Laufzeitverlängerung auf 60 Jahre wären es insgesamt 230 Milliarden Euro.
Hinter dem Gutachten stehen vor allem die 112 Mitgliedsunternehmen der ARGEnergie e.V., der fast alle Stadtwerke in Baden-Württemberg sowie einige aus Bayern angehören. Die ARGEnergie entstand 2008 aus der 1998 gegründeten "Arbeitsgemeinschaft Energie Baden-Württemberg", die ihrerseits aus einer seit den fünfziger Jahren bestehenden Arbeitsgemeinschaft der Stadtwerke im Bereich der früheren Verbundunternehmen EVS und Badenwerk hervorging.
Zu den Auftraggebern gehören ferner die Stadtwerke Aachen, Chemnitz, Hannover, Lübeck und Schwäbisch Hall sowie Mark-E und Trianel. Viele dieser Stadtwerke haben in den letzten Jahren in den Bau neuer Kraftwerke sowie in die regenerative Stromerzeugung investiert. Sie müssen nun befürchten, daß die geplante Laufzeitverlängerung diese Investitionen entwertet. Der Verband kommunaler Unternehmen (VKU) teilt diese Befürchtungen. "Eine Laufzeitverlängerung nimmt der Umstrukturierung der Energieerzeugung die erforderliche Dynamik", erklärte VKU-Präsident Stephan Weil in einem Interview mit dem "Handelsblatt" (12.3.).