August 2006

060808

ENERGIE-CHRONIK


Panne in Forsmark schwächt die Befürworter des "Ausstiegs aus dem Ausstieg"

Der Störfall im schwedischen Kernkraftwerk Forsmark 1 (060807) wurde in Deutschland mit fast noch größerer Aufmerksamkeit als in Schweden registriert, da hierzulande neuerdings starke Kräfte in Politik und Wirtschaft den gesetzlich verankerten Ausstieg aus der Kernenergie in Frage stellen und zumindest ein Moratorium durchsetzen wollen (050502, 051001). RWE-Chef Roels kündigte am 10. August bei der Vorstellung des Halbjahresberichts an, daß sein Unternehmen "um Biblis A kämpfen" und demnächst einen förmlichen Antrag auf Verlängerung der Laufzeit stellen werde. Am 19. August wurde ein gemeinsames Papier von neun unionsregierten Bundesländern bekannt, in dem diese den Ausstieg aus dem Atomausstieg verlangen.

SPD und Grüne nehmen KKW Brunsbüttel ins Visier

Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) nutzte deshalb den Störfall in Forsmark, um in die Offensive zu gehen und die Frage nach der Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke aufzuwerfen. Insbesondere wurde die Sicherheit des Kernkraftwerks Brunsbüttel bezweifelt, das wie Forsmark 1 ein gemeinsam von Vattenfall und E.ON betriebener Siedewasserreaktor ist und im September 2009 die vorgesehene Restlaufzeit ausgeschöpft haben würde. Es soll dort eine ähnliche Anfälligkeit der Notstromversorgung bestehen wie in Forsmark. Zudem seien in Brunsbüttel "Mängel in dreistelliger Zahl registriert worden", wie Gabriels parlamentarischer Staatssekretär Michael Müller am 10. August erklärte. Die Bundestagsfraktion der Grünen beantragte am 17. August die Einberufung einer Sondersitzung des Umweltausschusses, was Bundestagspräsident Norbert Lammert indessen nach Rücksprache mit Union, SPD und FDP ablehnte, da "kein zwingender parlamentarischer Beratungsbedarf" bestehe. Die Grünen beantragten daraufhin am 25. August erneut die Einberufung des Gremiums für den 5. September.

Gabriel dringt auf "vertiefte Sicherheitsüberprüfung"

Am 4. August beauftragte das Bundesumweltministerium die Reaktorsicherheitskommission mit der Untersuchung der Konsequenzen des "sicherheitstechnisch ernsten Ereignisses" in Forsmark. Die Atomaufsichtsbehörden der Länder wurden aufgefordert, so schnell wie möglich zu berichten, ob in den Kernkraftwerken in ihrem Zuständigkeitsbereich dieselben Notstromsysteme oder Komponenten der Notstromsysteme geliefert wurden, die in Schweden versagt haben. Am 9. August erklärte Gabriel, daß aufgrund der bisherigen Erkenntnisse zwar keine deutschen Reaktoren stillgelegt werden müßten, aber eine weitere sicherheitstechnische Überprüfung der deutschen Kernkraftwerke notwendig sei. Mit Schreiben vom 11. August forderte er die Länder auf, sich an der Festlegung eines Untersuchungsprogramms für die vertiefte Sicherheitsüberprüfung der Notstromsysteme der deutschen Kernkraftwerke zu beteiligen. Am 17. August lud er die KKW-Betreiber zu einem Gespräch über "Verbesserungsmöglichkeiten für die unternehmensinterne Kommunikation bei internationalen Störfällen" ein. Am 18. August publizierte er das Ergebnis einer von seinem Ministerium in Auftrag gegebenen Umfrage, wonach 62 Prozent der Bundesbürger für das Festhalten am Atomausstieg oder sogar für dessen Beschleunigung sind. Am 22. August veröffentlichte er einen Bericht über die Ereignisse in Forsmark, den das Öko-Institut und die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) im Auftrag des Ministeriums erstellt hatten. Am 25. August teilte er mit, daß sich in den Beratungen in der Reaktorsicherheitskommission (RSK) Fragen zur Notstromversorgung im Kernkraftwerk Brunsbüttel ergeben hätten, die von Vattenfall bisher nicht hinreichend beantwortet worden seien. Am 28. August teilte der Vattenfall-Konzern seinerseits mit, er habe die Bedenken durch Beibringung entsprechender Nachweise ausräumen können.

KKW-Betreiber geben Entwarnung - "Deutsche Umwelthilfe" widerspricht

Die deutschen Kernkraftwerksbetreiber hatten zunächst entschieden bestritten, daß ihre Anlagen ähnliche Schwachpunkte wie Forsmark 1 aufweisen könnten. "Nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen über die Abläufe in Forsmark kann ausgeschlossen werden, daß ein solcher Zwischenfall in deutschen Kernkraftwerken die gleichen Folgen hätte", ließen sie am 4. August über das "Deutsche Atomforum" erklären. "Es gibt keinerlei Anhaltspunkte für eine Übertragbarkeit des Vorfalls." Auch Vattenfall verwies auf diese Erklärung.

Dagegen erklärte die Deutsche Umwelthilfe (DUH) am 16. August, die Sicherheitsmängel im Kernkraftwerk Brunsbüttel seien noch gravierender als in Forsmark. "Die Behauptung der Betreiber, ein Störfall wie in Schweden sei in deutschen Reaktoren nicht möglich, ist definitiv falsch", sagte DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch. "Möglicherweise würde er im Detail anders ablaufen als in Forsmark, aber auf kritische Störfall-Situationen ist der Brunsbüttel-Reaktor erkennbar schlechter vorbereitet als der in Forsmark." Vattenfall habe gegenüber der Atomaufsicht eingestanden, daß es in Brunsbüttel eine ähnliche Anfälligkeit der Wechselrichter zur Notstromversorgung gebe. Aus Protokollen und Sachverständigen-Gutachten gehe hervor, dass die deutschen Aufsichtsbehörden die Betreiber Vattenfall und E.ON seit 2002 vergeblich zu einer grundlegenden Modernisierung der Notstromversorgung des Brunsbütteler Reaktors gedrängt hätten.

Die Vattenfall Europe Nuclear Energy GmbH (VENE) wie diese Darstellung noch am selben Tag als unzutreffend zurück. Die Zitate, mit denen die Umwelthilfe angebliche Mängel in Brunsbüttel belegen wolle, seien überholt und aus dem Zusammenhang gerissen.

Defekte am Notkühlsystem schon bei mehreren Kernkraftwerken

Im Kernkraftwerk Brunsbüttel hatte sich im Dezember 2001 einer der schwersten Störfälle der vergangenen Jahre ereignet: Eine Wasserstoffexplosion zerfetzte ein Kühlrohr im Sicherheitsbehälter und entzog dem Kühlsystem Wasser (020215, 020304, 020516). Fehler am Notkühlsystem wurden ferner im Juli 2004 in Biblis A (040712), im Oktober 2001 in Philippsburg 2 (011001) und im Januar 2005 bei mehreren Druckwasserreaktoren (050115) entdeckt. In Frankreich stellte sich im Mai 2001 heraus, daß bei ingesamt fünf Kernkraftwerken durch einen konstruktionsbedingten Defekt die Notkühlung nicht gewährleistet war (010525).