Udo Leuschner / Geschichte der FDP (5) |
3. Bundestag 1957 - 1961 |
Aus dem Bruch der Bonner Koalition im Februar 1956 ging die FDP sowohl gestärkt als auch geschwächt hervor - gestärkt insofern, als sie sich endlich aus der Abhängigkeit von der CDU/CSU und der Bevormundung durch Adenauer gelöst hatte. Sie hatte sich und anderen bewiesen, daß sie nicht nur ein Anhängsel der Unionsparteien oder opportunistisches "Zünglein an der Waage" war. Der Aufstand der Düsseldorfer "Jungtürken" setzte in der Parteigeschichte eine Zäsur, die entscheidend dazu beitrug, daß die FDP als einzige von den kleineren Nachkriegsparteien überleben konnte. Sonst hätte sie nur die Wahl gehabt, so fügsam wie die DP an der Seite der Unionsparteien zu verkümmern oder sich beim Beharren auf politischer Eigenständigkeit von Adenauer per Wahlrechtsänderung liquidieren zu lassen.
Während die FDP an innerer Stärke und langfristiger Perspektive gewann, handelte sie sich aber kurz- und mittelfristig die Probleme einer Oppositionspartei ein, die von Medien und finanzstarken Wirtschaftskreisen stiefmütterlicher behandelt wird als Regierungsparteien. Noch mehr als die SPD, die seit Bestehen der Bundesrepublik auf der Bonner Bühne dieses Los teilte, war die FDP darauf angewiesen, im Rampenlicht der Regierungsverantwortung zu stehen. Sie besaß nie eine starke Mitglieder-Basis wie die SPD. Auch die Parteiorganisation war vergleichsweise kümmerlich.
Entsprechend fiel das Ergebnis der Bundestagswahlen vom 15. September 1957 aus: Die FDP sank von 9,5 auf 7,7 Prozent. Statt 48 verfügte sie nur noch über 41 Mandate im Parlament - was aber im Gesamtrahmen sowieso keine Rolle spielte, weil die CDU/CSU ihren triumphalen Wahlerfolg von 1953 nochmals steigern konnte und nun mit 270 von 497 Sitzen über eine satte absolute Mehrheit verfügte.
Die FDP brauchte somit Koalitionsverhandlungen erst gar nicht aufzunehmen, weder mit der Union noch mit der SPD. Sie mußte weiterhin zusammen mit der SPD die Oppositionsbänke drücken, während die Union eine Machtfülle wie nie zuvor erreichte. Der BHE war an der Fünf-Prozent-Klausel gescheitert, und auch die stets willfährige DP war für Adenauer entbehrlich geworden. Eher gnadenhalber ließ er sie erneut zwei Minister ins Kabinett entsenden - Heinrich Hellwege und Hans-Christoph Seebohm, die mit ihren evangelischen Gesangbüchern für die notwendige konfessionelle Ausgeglichenheit sorgten und noch vor dem Ende der Legislaturperiode zur CDU übertraten.
Auch sonst ging es bei Wahlen für die FDP eher abwärts. Der Wahlslogan "Keine Experimente", unter dem die Union angetreten war, blieb typisch für die herrschende Stimmung. Dehler resignierte. Auf dem Berliner Bundesparteitag Ende Januar 1957 stellte er sich nicht mehr zur Wahl. An seiner Stelle wurde Reinhold Maier zum neuen Vorsitzenden gewählt, mit Erich Mende, Oswald Kohut und Willy Max Rademacher als Stellvertretern. Im November 1957 gab Dehler auch den Fraktionsvorsitz an Mende ab, der Anfang 1960 wiederum Maier als Bundesvorsitzenden ablöste und damit wie zuvor Dehler beide Ämter in einer Hand vereinte.
Dehler wurde 1960 mit dem Amt des Bundestagsvizepräsidenten abgefunden und erlangte bis zu seinem Tod am 21. Juli 1967 nie wieder ein führende Rolle in der Partei. Anfang der sechziger Jahre konnte man regelmäßig Beiträge aus seiner Feder im Dortmunder "Westdeutschen Tageblatt" lesen, einer ehemaligen FDP-Lizenzzeitung der britischen Zone, deren Verleger Herbert Kauffmann unbeirrt den Ausgleich mit dem Osten propagierte, um doch noch einen Weg zur nationalen Einheit zu finden. Das "Westdeutsche Tageblatt" wurde deshalb als "SED-hörig" geschmäht und mußte 1963 sein Erscheinen einstellen.
Die Isolierung Dehlers hatte auch mit den schon erwähnten Ecken und Kanten seiner Persönlichkeit zu tun. Er war der Antityp seines späteren Nachfolgers, des glatten, geschmeidigen Erich Mende. Ebenso fehlte ihm die Bedächtigkeit Reinhold Maiers, der mitunter auch recht pointiert formulieren konnte und wie Dehler das altliberale Erbe der FDP repräsentierte.
Auf der nun folgenden Durststrecke der Opposition griff die FDP dieselben Konfliktpunkte wie die SPD auf. Im Vordergrund standen der Streit um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr und die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa, wie sie der polnische Außenminister Rapacki vorgeschlagen hatte. Im Zusammenhang damit flackerte erneut der Streit um die Deutschlandpolitik auf, nachdem die Sowjets Anfang 1959 die Möglichkeit einer Annäherung oder sogar Wiedervereinigung beider deutscher Staaten für den Preis der Neutralität in Aussicht gestellt hatten.
In der außenpolitischen Debatte des Bundestags am 23. Januar 1958 warf Dehler - inzwischen nur noch Abgeordneter - dem Bundeskanzler Adenauer vor, auf die Note Stalins vom März 1952 nicht ernsthaft eingegangen zu sein. Stalin habe damals gesamtdeutsche freie Wahlen unter der Kontrolle der vier Mächte, Abzug aller Truppen und eine nationale Armee von 300.000 Mann angeboten. Er habe dafür lediglich verlangt, daß das vereinigte Deutschland keiner Militärallianz beitrete. Adenauer habe diese historische Chance nicht nur versäumt, sondern seine Minister - zu denen damals Dehler als Justizminister gehörte - vorsätzlich falsch ins Bild gesetzt.
In dieselbe Kerbe hieb Gustav Heinemann, der dem ersten Kabinett Adenauer als Innenminister angehört hatte. Heinemann hatte aus Protest gegen Adenauers Deutschlandpolitik schon 1950 sein Amt aufgegeben und war 1952 auch aus der CDU ausgetreten. Anschließend hatte er mit Helene Wessel die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) gegründet, die für ein neutralisiertes Gesamtdeutschland eintrat. Da die GVP bei den Bundestagswahlen 1953 lediglich 1,2 Prozent der Stimmen erhielt, hatte sie sich 1957 wieder aufgelöst, worauf Heinemann und die meisten anderen Mitglieder der SPD beitraten.
Parallel zum "Deutschlandplan" der SPD veröffentlichte die FDP im März 1959 ein eigenes Papier zum sowjetischen Angebot eines Friedensvertragsentwurfs. Es sah als Kernpunkt ebenfalls die Neutralität eines wiedervereinigten Gesamtdeutschland vor. Ansonsten war es aber als Gegenvorschlag konzipiert und im Ton weniger konziliant. Unter den gegebenen Umständen besaßen beide "Deutschlandpläne" ohnehin nur deklamatorischen Charakter.
Im Streit um die atomare Aufrüstung konnte sich die FDP nicht so reserviert verhalten. Der Konflikt schwelte bereits seit Frühjahr 1957, als Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) unverhohlen eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr verlangt hatte. Adenauer hatte die taktischen Atomwaffen, mit denen die Bundeswehr ausgerüstet werden sollte, als "Weiterentwicklung der Artillerie" zu verharmlosen versucht. Er mußte sich daraufhin von 18 führenden Atomphysikern sagen lassen, daß diese Waffen immerhin die Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe besäßen und daß sie zur Auslöschung der Bundesrepublik führen könnten. Am 10. März 1958 startete die SPD mit breiter Unterstützung durch Gewerkschaften, Wissenschaftler und Künstler die Kampagne "Kampf dem Atomtod". Die Regierungsparteien konterten in Kalter-Kriegs-Manier mit dem Komitee "Rettet die Freiheit".
Ungeachtet der Proteste setzte die CDU/CSU am 25. März 1958 nach einer viertägigen Debatte zur Außen- und Wehrpolitik im Bundestag eine Entschließung durch, mit der die Bundesregierung aufgefordert wurde, die Bundeswehr mit "modernsten Waffen" auszustatten. Die FDP verlangte dagegen wie die SPD den Verzicht auf Atomwaffen und die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa. Der Fraktionsvorsitzende Erich Mende verwies darauf, daß es illusorisch wäre, die Sowjets mit Atomwaffen aus Mitteldeutschland vertreiben zu wollen: "Das atomare Gleichgewicht hat die Phase des Druckes, die Phase des Roll-back beendet. Die Phase der Verhandlungen hat begonnen, und es gibt kein Zurück mehr auf das Roll-back."
Um die Regierungsparteien propagandistisch in die Enge zu treiben brachte die SPD einen Gesetzentwurf für eine Volksbefragung zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr ein. Bei der Abstimmung am 12. Juni 1958 mußte der SPD-Antrag auch auf die Stimmen der FDP verzichten. Dies bedeute keine Änderung ihrer ablehnenden Haltung, hieß es in einer Erklärung der Partei. Man halte die Volksabstimmung aber für ein ungeeignetes Mittel im Kampf gegen die atomare Bewaffnung.
Die Länder Hamburg und Bremen hatten eigene Gesetze zu einer Volksbefragung beschlossen. Da die FDP in diesen Stadtstaaten mitregierte, einigte man sich im Bundesvorstand auf die Kompromißformel, dies sei eine zulässige Meinungsbefragung. Das Bundesverfassungsgericht sah dies anders: Auf Antrag der Bundesregierung erklärte es am 30. Juli 1958 die Ländergesetze für verfassungswidrig, weil sie "einen von den Ländern her versuchten Eingriff in die ausschließliche Zuständigkeit des Bundes" darstellen würden. Das Land Hessen wurde außerdem gerügt, weil es kommunale Beschlüsse für Volksbefragungen nicht unterbunden und so die Bundestreue verletzt habe.
Neben dem Streit um die atomare Bewaffnung und die Deutschlandpolitik warfen bereits die Notstandsgesetze ihren Schatten voraus: Auf dem Bundesparteitag Ende Januar 1960 in Stuttgart warnte der neugewählte Vorsitzende Mende vor den Notstands-Plänen der Bundesregierung, weil sie eine Generalvollmacht für eine einzige Partei bedeuten würden, die nur noch mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 vergleichbar sei.
Der Stuttgarter Parteitag ernannte den scheidenden Reinhold Maier einstimmig zum Ehrenvorsitzenden der Partei auf Lebenszeit. Zu Stellvertretern Mendes wurden die beiden Landesvorsitzenden Oswald Kohut (Hessen) und Heinrich Schneider (Saarland) sowie der Bundestagsabgeordnete Hans Lenz aus Trossingen gewählt. Thomas Dehler rangierte nur noch unter den zwölf Besitzern.
Am 11. September 1959 endete die zweite Amtszeit von Bundespräsident Theodor Heuss, der 1949 schon kurz nach seiner Wahl zum ersten FDP-Vorsitzenden ins höchste Staatsamt entschwebt war. Während seines zehnjährigen Wirkens als Bundespräsident hatte er Maßstäbe gesetzt, denen nur wenige seiner Nachfolger würden genügen können. 1954 war Heuss als Kandidat der CDU/CSU mit großer Mehrheit wiedergewählt worden. Trotz allseitiger Anerkennung seiner Tätigkeit hätte ihm dies nun kaum mehr passieren können, aber die Wiederwahl war nach dem Grundgesetz ohnehin nur einmal zulässig.
Der 83jährige Bundeskanzler Adenauer wollte die Gelegenheit nutzen, um den populären Wirtschaftsminister Ludwig Erhard ins Bundespräsidentenamt abzuschieben. Erhard galt innerhalb der Union als aussichtsreichster Anwärter für die Ablösung des "Alten", wurde aber von diesem selbst für ungeeignet gehalten. Vor diesem Hintergrund hob Ende Februar 1959 die Union den Wirtschaftsminister als künftigen Bundespräsidenten auf den Schild. Fünf Wochen später überlegte es sich Adenauer aber anders: Er wollte nun selber kandidieren. Außerdem wollte er sich das Amt so zurechtschneidern, wie es seinen Machtbedürfnissen entsprach. In einem Brief an Heuss meinte er, der Bundespräsident sei bisher in seiner politischen Bedeutung unterschätzt worden. Heuss verstand sehr wohl, um was es Adenauer ging, kleidete seine Indignation aber in die pikierte Frage, ob dies als Kritik an seiner Amtsführung zu verstehen sei. Das rein instrumentale Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie, das Adenauer damit wieder mal offenbarte, empörte quer durch alle Parteien. Darauf teilte Adenauer Anfang Juni 1959 mit, daß er "aufgrund der schwierigen außenpolitischen Situation" weiter Bundeskanzler bleiben wolle. Als Verlegenheitskandidat der CDU/CSU ("weißhaarig und katholisch muß er sein") wurde nun in aller Eile der Landwirtschaftsminister Heinrich Lübke nominiert.
Die Wahl des Bundespräsidenten fand am 1. Juli 1959 in Westberlin statt, wobei die Berliner Wahlmänner erstmals volles Stimmrecht hatten - ein kalkulierter Affront gegenüber den Sowjets, die auf dem Sonderstatus Westberlins beharrten. Lübke schaffte die erforderliche absolute Mehrheit erst im zweiten Anlauf, da SPD und FDP mit den Bundestagsvizepräsidenten Carlo Schmid und Max Becker eigene Kandidaten aufgestellt hatten. Im ersten Wahlgang erhielt Becker 19 Stimmen mehr als der Zahl der FDP-Wahlmänner in der Bundesversammlung entsprach.
Die erneute Beteiligung an einem Kabinett unter Adenauer schien der FDP nach dieser Affäre weniger denn angebracht. Schließlich konnte es nicht mehr lange dauern, bis der störrische Alte schon aus biologischen Gründen würde abtreten müssen. Und obwohl Adenauer seinem Wirtschaftsminister inzwischen sogar öffentlich "zu wenig Erfahrung in der internationalen Politik" bescheinigt hatte, zeichnete sich Ludwig Erhard als unumstrittener Nachfolger ab. Der ungemein populäre Wirtschaftsminister, der in der Öffentlichkeit als "Vater des Wirtschaftswunders" galt, verstand sich gut mit der FDP: Er war 1948 von Thomas Dehler für den Posten des Direktors der Wirtschaftsverwaltung der Bi-Zone empfohlen worden. Erhard wollte damals eigentlich der FDP beitreten, hatte sich aber von Dehler überzeugen lassen, daß die CDU ihm größere Möglichkeiten bieten würde...