Udo Leuschner / Geschichte der FDP (3)

2. Bundestag 1953 - 1957


Die FDP unter Thomas Dehler

Der neue Vorsitzende wird wegen der Preisgabe der Saar und des Abschreibens der Wiedervereinigung zum schärfsten Gegner Adenauers

In der zweiten Legislaturperiode von 1953 bis 1957 wandelte sich die FDP von einer Rechtspartei zum liberalen Korrektiv der Unionsparteien. Nach dem mißlungenen Versuch, als nationalistische Sammlungspartei rechts neben der CDU zu reüssieren, gewannen liberale Kräfte wieder an Boden. Dies zeigte sich besonders darin, daß mit Thomas Dehler nun ein leidenschaftlicher Vertreter liberalen Gedankenguts den Partei- und Fraktionsvorsitz übernahm. Zusammen mit Reinhold Maier wurde Dehler zum wichtigsten "bürgerlichen" Gegenspieler des Bundeskanzlers Konrad Adenauer, der von seiner ganzen Denkweise her noch stark im Obrigkeitsstaat wurzelte.

Ein Politiker mit untadeliger Vergangenheit

Der 1897 geborene Dehler hatte sich schon 1920 der DDP angeschlossen. Auch nach 1933 blieb er ein Gegner des Nationalsozialismus. Standhaft hielt er zu seiner jüdischen Frau und rettete ihr durch die "Mischehe" das Leben. Er wurde zweimal verhaftet und in anderer Weise drangsaliert. Mit dieser Biographie unterschied sich Dehler deutlich vom Großteil der FDP-Mitglieder, die NSDAP-Mitglieder oder Mitläufer des Nazi-Regimes gewesen waren.

Generell gab es damals in Deutschland nur sehr wenig unbelastete Persönlichkeiten. Es gab auch kaum Bereitschaft, sich mit der grauenhaften Barbarei des NS-Staates und der eigenen Schuld daran auseinanderzusetzen. Im wesentlichen waren es die alten Eliten des NS-Staates, die auch die neue, von den Besatzungsmächten installierte Nachkriegsdemokratie trugen. Die triumphalen Wahlerfolge der Unionsparteien verdankten sich zum guten Teil dem durch Konrad Adenauer personifizierten Versprechen, nicht an das Gewesene zu rühren, sondern den Blick nach vorn zu richten und aus der erlittenen Katastrophe das Beste zu machen. Der konservative Politiker Adenauer bildete gewissermaßen einen Führer-Ersatz, ohne Nazi gewesen zu sein. Sogar seine skrupellos-macchiavellistische Art wurde vom breiten Publikum durch das liebenswürdige Bild einer rosenzüchtenden Vaterfigur wahrgenommen. Und an die Stelle der Nazi-Ideologie trat nun ein penetranter Klerikalismus, der das Christentum quasi zur Staatsreligion erhob.

Liberaler mit Ecken und Kanten

Auch hier lag der Freigeist Thomas Dehler quer zum restaurativen Klima. Von Haus aus Katholik, war er ein radikaler Gegner der geistigen Bevormundung durch die Kirche und klerikaler Machtansprüche geworden. Die Freiheit des Individuums glaubte er allerdings genauso gegen andere kollektive Zwänge verteidigen zu müssen. Von daher erklären sich seine Ausfälle gegenüber den Gewerkschaften. Als die Gewerkschaften zur Durchsetzung der Mitbestimmung mit einem politischen Streik drohten, sah er darin sogar eine Nötigung von Verfassungsorganen und erklärte den DGB für zuchthauswürdig. Auch sonst machte sich Dehler durch seine kompromißlose, impulsive Art ebenso viele Feinde wie Bewunderer. Er war das Gegenteil des modernen Politikers, der sich geschmeidig Mehrheitsmeinungen anpaßt, um die eigene Karriere zu fördern. Die FDP schickte ihn deshalb nach der zweiten Legislaturperiode aufs Altenteil als Bundestagsvizepräsident und übertrug die Leitung der Partei dem "schönen Erich" (Mende), der sich bei festlichen Gelegenheiten schon mal mit dem nationalsozialistischen "Ritterkreuz" am Hals zeigte und damit die Herzen der alten Garde höher schlagen ließ.

Adenauer wollte Dehler nicht mehr als Minister haben

Dehler war im ersten Kabinett Adenauer Justizminister gewesen, wobei er Adenauers Kurs der Westintegration und Remilitarisierung voll unterstützte. Er hatte sich aber auf eine unkluge Auseinandersetzung mit dem Bundesverfassungsgericht eingelassen, weshalb ihn Adenauer nicht mehr in die neue Regierung übernahm. Nun wurde er Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag. Im März 1954 löste er außerdem Franz Blücher als Vorsitzender der Bundespartei ab. Seinen einstigen Mentor Adenauer sah er zunehmend kritischer. Vor allem erbitterte ihn die Haltung des Bundeskanzlers zur Saar-Frage und in der Wiedervereinigungspolitik. Unter Dehlers Führung öffnete sich die FDP für Koalitionen mit der SPD - nicht aus Sympathie für die Opposition, sondern aus Selbsterhaltungstrieb gegenüber dem großen Koalitionspartner, der unverhohlen Anstalten machte, die FDP durch eine Wahlrechtsänderung zur Bedeutungslosigkeit zu verurteilen. Mit dem Aufstand der "Jungtürken", die 1956 im Bunde mit der SPD die Düsseldorfer CDU-Landesregierung stürzten und dadurch auch die Bonner Koalition erschütterten, befreite sich die FDP vollends von dem Ruch, nur ein Anhängsel der Unionsparteien zu sein.

Bei den Bundestagswahlen im September 1953 hatte die CDU/CSU mit Konrad Adenauer einen triumphalen Wahlsieg errungen. Sie besaß nun insgesamt 244 Mandate gegenüber 243 Mandaten sämtlicher anderen Parteien. Rein rechnerisch hätte sie allein regieren können. Zusammen mit den Mandaten von FDP (48), BHE (27) und DP (15) verfügte sie über eine komfortable Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag, gegen die die SPD unter ihrem neuen Vorsitzenden Erich Ollenhauer keine Chance hatte. Die FDP durfte für ihre Beteiligung am zweiten Kabinett Adenauer vier Minister stellen (Franz Blücher, Fritz Neumayer, Hermann Schäfer, Victor-Emanuel Preusker) und erhielt das Amt des Vizekanzlers (Blücher).

Der Streit um die Abtretung des Saarlandes

Der wichtigste Dauerkonflikt in der neuen Koalition mit der CDU/CSU war die seit längerem schwelende Saar-Frage: Die französische Besatzungsmacht wollte sich das Saarland einverleiben. Sie hatte zu diesem Zweck eine Marionetten-Regierung unter Johannes Hoffmann installiert, dem Chef der "Christlichen Volkspartei". Der deutsche Bundeskanzler Adenauer war sich mit den Franzosen ebenfalls grundsätzlich über die Abtretung des Saargebiets einig, wobei die faktische Überlassung an Frankreich als "Europäisierung der Saar" kaschiert werden sollte.

Frankreich sah die Abtretung des Saarlands als deutsche Gegenleistung für die Zustimmung zum Deutschlandvertrag und zum EVG-Vertrag, die beide im Mai 1952 von Frankreich, Deutschland und den Benelux-Ländern unterzeichnet worden waren. Die französische Nationalversammlung lehnte jedoch im Sommer 1954 die Ratifizierung des EVG-Vertrags ab, womit auch der Deutschlandvertrag platzte. Daraufhin wurden die Wiederbewaffnung Deutschlands und die Aufhebung des Besatzungsstatuts in die "Pariser Verträge" umgegossen, die der Bundestag am 28. Februar 1955 zusammen mit dem Saar-Abkommen verabschiedete. Allerdings stand dieses Saar-Abkommen unter dem Vorbehalt einer Volksabstimmung, die noch im selben Jahr stattfinden sollte.

"Jein" zu Adenauers Separatismus

Die FDP verhielt sich in der Saar-Frage patriotischer als die Unionsparteien. Sie nahm aber insgesamt doch eine zwiespältige Haltung ein. Als Dehler im November 1953 vor der Presse mit Austritt aus der Koalition drohte, falls das Saarland von Deutschland losgelöst werden sollte, folgte sogleich eine abschwächende Stellungnahme des Parteivorstandes. Der Bundesparteitag im März 1954 bekannte sich zwar zur Zugehörigkeit des Saarlands zu Deutschland, bekundete aber gleichzeitig die Bereitschaft zu Verhandlungen und wirtschaftlichen Zugeständnissen an Frankreich. Im Herbst 1954 erklärten sich sowohl die Bundestagsfraktion als auch der Bundesvorstand gegen das bevorstehende Saar-Abkommen. Angesichts von drei bevorstehenden Landtagswahlen (Bayern, Hessen, Berlin) bezweifelte allerdings nicht nur die SPD-Opposition, ob es der FDP mit ihrer Ablehnung wirklich Ernst sei: "Zu viele Interessen und Pfründen binden sie an die Koalition, von der es für sie kein Ausbrechen gibt."

Bei der Abstimmung im Bundestag am 28. Februar 1955 votierte immerhin die große Mehrheit der FDP-Fraktion gegen das Saar-Abkommen. Von den vier FDP-Ministern stimmte nur Blücher zu. Preusker und Schäfer enthielten sich, der abwesende Neumayer hatte in der zweiten Lesung ebenfalls mit Nein gestimmt. Thomas Dehler und Max Becker begründeten die ablehnende Haltung der Fraktionsmehrheit: Die FDP habe die ernste Sorge, daß das angeblich europäische Statut die Saar aufgebe und zu einer Art zweitem Luxemburg mache. Die Union legte daraufhin der FDP nahe, sich von diesen Reden zu distanzieren. Blücher trat wegen des Votums der Fraktionsmehrheit als Vizekanzler zurück. Der Hauptausschuß der FDP beugte sich aber dem Druck nicht, sondern billigte die Reden ausdrücklich.

Die "Demokratische Partei Saar" wird Landesverband der FDP

Die Auseinandersetzung um die Saar-Frage belastete die FDP sehr stark, auch im Verhältnis zur Schwesterpartei "Demokratische Partei Saar" (DPS). Diese war 1951 von Hoffmann bzw. den Franzosen verboten worden. Die Machthaber begründeten das Verbot damit, daß die DPS die öffentliche Ordnung zu stören versuche und die saarländische Verfassung angreife. Erst im Vorfeld der Volksabstimmung des Jahres 1957 konnten die DPS und andere prodeutsche Parteien an der Saar sich wieder legal betätigen.

Inzwischen schwante Adenauer und der CDU, daß die bevorstehende Volksabstimmung kaum zugunsten des Saar-Statuts ausgehen würde. Jedenfalls konstituierte sich im August 1955 die "CDU Saar" als dritte prodeutsche Partei. In einem gemeinsamen Aufruf mit DSP-Saar und DPS bekräftigte die CDU Saar die Zugehörigkeit des Saarlandes zu Deutschland. Die Bonner CDU sandte Glückwünsche zur Neugründung und bezog plötzlich ebenfalls gegen Hoffmann Stellung. Sogar Adenauer ging nun auf Distanz zu dem Regime in Saarbrücken: Er riet den Saarländern allerdings, erst dem Saar-Statut zuzustimmen, um anschließend Hoffmann zu stürzen. - Es war wiederum Dehler, der die Schlitzohrigkeit dieses Ratschlags anprangerte und die Saarländer warnte, sich von Adenauer einwickeln zu lassen.

Bei der Volksabstimmung am 23. Oktober 1955 lehnten 67,7 Prozent der teilnehmenden Saarländer das Saar-Statut ab. Dieses Votum konnten weder die Franzosen noch Adenauer ignorieren. Ein Jahr später kam es zum deutsch-französischen Saarvertrag, der die Eingliederung der Saar als zehntes Bundesland in die Bundesrepublik zum 1. Januar 1957 in die Wege leitete. Kurz darauf schloß sich die DPS als Landesverband der FDP an. Sie legte jedoch Wert darauf, ihren alten Namen und das eigenständige Programm zu behalten.

FDP verlangt mehr als Lippenbekenntnisse zur nationalen Einheit

Das zweite große Konfliktfeld war die Wiedervereinigung mit den Ländern der sowjetischen Besatzungszone, die seit 1949 als "Deutsche Demokratische Republik" (DDR) firmierten. So wie Adenauer bereit war, auf das französisch besetzte Saarland zu verzichten, so war er erst recht bereit, diese sowjetisch besetzten Gebiete auf dem Altar der Westintegration zu opfern, zumal die dort ansässige Bevölkerung kaum kirchliche Bindungen aufwies und zu befürchten war, daß sie der SPD-Opposition zum Wahlsieg verhelfen könnte. Offiziell eingestanden wurde solche Überlegungen freilich nicht. Vielmehr bekannten sich Adenauer und die Unionsparteien unablässig zur nationalen Einheit, um sie im selben Atemzug von momentan unerfüllbaren Voraussetzungen wie freien Wahlen abhängig zu machen.

Die FDP war mindestens so antikommunistisch wie Adenauer und noch weniger bereit, auf bürgerliche Freiheiten zu verzichten. Stärker als die CDU/CSU vertrat sie aber eine national-weltlich-protestantisch gewirkte Klientel, die mit der Verschiebung der nationalen Einheit auf den St. Nimmerleinstag nicht einverstanden war und für die das ersatzweise propagierte "christliche Abendland" einen penetranten klerikalen Beigeschmack hatte.

Pfleiderer nimmt direkten Kontakt zu den Sowjets auf

Die FDP war auch eher als die Unionsparteien bereit, die Wiedergewinnung der Einheit mit außenpolitischen Zugeständnissen zu honorieren. Schon im Juni 1952 hatte der schwäbische Abgeordnete Karl Georg Pfleiderer die faktische Neutralisierung Deutschlands vorgeschlagen: Mit einem besatzungsfreien Gebiet zwischen Rhein und Oder, in dem die deutsche Hauptstadt liegen und eine deutsche Nationalarmee aufgestellt werden sollte. Nur im Westen und Osten sollten Brückenköpfe unter Besatzung verbleiben.

Der FDP-Bundesvorstand hatte damals dem Pfleiderer-Vorschlag unter Hinweis auf die bisherigen außenpolitischen Grundsätze der Partei eine Absage erteilt. Nunmehr aber, im Mai 1954, billigte er einen neuen Vorschlag des schwäbischen Abgeordneten, der die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion als Voraussetzung für weitere Gespräche über die Wiederherstellung der nationalen Einheit vorsah. Als erstes sollte eine Bundestags-Delegation nach Moskau reisen. Pfleiderer war schon Ende Februar im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst gewesen, um wegen der Parlamentarier-Reise vorzufühlen. Zwei Wochen später hatten die Sowjets grünes Licht gegeben.

CDU vereitelt geplante Reisen nach Moskau

Den Unionsparteien paßte dieser Vorstoß indessen gar nicht, obwohl schon im folgenden Jahr Adenauer höchstpersönlich nach Moskau reisen und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Sowjetunion vereinbaren würde. Auf dem CDU-Parteitag im Mai 1954 bezeichnete Adenauer es als unverantwortlich, wenn Deutsche mit den Sowjets Fühlung aufnähmen. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Eugen Gerstenmaier, verkündete die Rangfolge "Freiheit - Frieden - Einheit" und lehnte die "polemische Proklamation anderer undurchdachter Rangfolgen" ab. Dagegen unterstützte der SPD-Oppositionsführer Erich Ollenhauer die Aufnahme normaler Beziehungen zur Sowjetunion. Zum Ärger der Unionsparteien meldete sich außerdem der frühere Reichskanzler und Zentrumspolitiker Heinrich Brüning zu Wort, der die Bonner Außenpolitik als reichlich "dogmatisch" kritisierte.

Nicht nur die Parlamentarier-Reise nach Moskau fiel ins Wasser: Auch die für den 10. Juni 1954 geplante Reise einer westdeutschen Wirtschaftsdelegation nach Moskau wurde unter dem Druck des Auswärtigen Amtes abgesagt. Der Vorsitzende des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Fritz Berg, distanzierte sich eilfertig vom Pfleiderer-Plan: Die Vorstellungen der FDP würden weder von der Industrie noch von der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung geteilt. In einem FDP-Kommentar, der deutlich die Handschrift Dehlers trug, wurde dem BDI-Präsidenten daraufhin ein gebrochenes Verhältnis zur Rollenverteilung im demokratischen Staat vorgeworfen und gefragt, ob der BDI Politik auf eigene Faust betreiben wolle.

Ende 1955 ging die deutschlandpolitische Auseinandersetzung weiter, als Dehler nach einer enttäuschenden Genfer Außenministerkonferenz verlangte, daß die Deutschen "über ihre wichtigste Schicksalsfrage selbst mit den Russen sprechen". Wie schon beim Pfleiderer-Vorschlag vor eineinhalb Jahren ließ sich Dehler von der Einsicht leiten, daß über die nationale Einheit direkt mit Moskau verhandelt werden müsse, statt dieses Problem den Alliierten zu überlassen oder durch Gespräche mit den subalternen Gefolgsleuten des Kreml in Ostberlin klären zu wollen.

Adenauer verlangt von der FDP bedingungslose Unterwerfung

Dieses Mal reagierte Adenauer höchst allergisch: Er forderte die FDP ultimativ auf, bis 1. Dezember eine Erklärung abzugeben, ob sie weiter auf dem Boden der Pariser Verträge stünde. Außerdem sollte sie ihm für den Rest der Legislaturperiode absolutes Wohlverhalten zusichern. Sie sollte sogar darauf verzichten, im bevorstehenden Wahlkampf abweichende Positionen zu vertreten. Um die Demütigung des Koalitionspartners perfekt zu machen, ließ Adenauer sein Ultimatum im regierungsamtlichen "Bulletin" veröffentlichen.

Die CDU/CSU verlieh der Drohung zusätzlich Nachdruck, indem sie eine vorgesehene Koalitionsbesprechung ausfallen ließ. Stattdessen kam es zu einem Treffen mit rechten FDP-Politikern. Dehler konnte sich aber behaupten. Die Bundestagsfraktion gab nach neunstündigen Beratungen eine Erklärung ab, die in der Form verbindlich genug war, den verlangten Kotau aber verweigerte. Adenauer bezeichnete die Erklärung als unbefriedigend. Die Stimmung zwischen den Koalitionsparteien war auf dem Siedepunkt angelangt.

Reinhold Maier fühlt sich von Adenauer bespitzelt

Weiterer Zündstoff hatte sich inzwischen in der Innenpolitik angehäuft: Es fing damit an, daß Dehler gleich nach Bildung der Koalition gewisse Gemeinsamkeiten zwischen FDP und SPD sah. Adenauer verstand dies durchaus richtig als Wink, daß die FDP nicht mehr jede Zumutung schlucken wolle - und beließ es vorerst bei der Zumutung, von Dehler eine Klarstellung zu verlangen.

Im Juli 1954 kam zu einer Kontroverse mit Reinhold Maier, der Adenauer brieflich vorwarf, er habe gesetzwidrig ein Dossier des Bundesamts für Verfassungsschutz verwendet, um Maier mit Pfleiderers Besuch im sowjetischen Hauptquartier in Verbindung zu bringen. Es gehe nicht um den Einzelfall, erklärte der schwäbische Altliberale im "Süddeutschen Rundfunk", sondern darum, "ob wir widerspruchslos von einem Heer von Geheimagenten, Schnüfflern, Spähern und Häschern uns umgeben lassen wollen".

Daß beim Bundesamt für Verfassungsschutz einiges schief lief, wurde wenige Tage später offenkundig, denn dessen Präsident Otto John verschwand plötzlich in die DDR. Auf einer Pressekonferenz in Ostberlin klagte der oberste Verfassungsschützer der Bundesrepublik nun eben diesen Staat und seine Politiker an. Unter anderem sagte er: "Sogar die FDP, deren echten liberalen Kräften ich mich am engsten verbunden fühle, ist von Nazis infiltriert. Es ist doch längst kein Geheimnis mehr, daß die FDP in Nordrhein-Westfalen von Nazis durchsetzt ist und beherrscht wird."

In der Tat war es kein Geheimnis, daß manche Parteiversammlungen der FDP eher einem Veteranentreffen der Waffen-SS glichen. Dennoch wurden solche pauschalen Vorwürfe dem Charakter der FDP nicht gerecht. Sie war in den rechten Landesbezirken Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen zwar sicher in noch stärkerem Maße von ehemaligen Nazis durchsetzt als die CDU/CSU. Diese ehemaligen Anhänger und Chargen des "Dritten Reichs" dachten aber in aller Regel so wenig an die Restauration des Nationalsozialismus wie fünfzig Jahre später die PDS-Anhänger an die Wiederherstellung des SED-Regimes. Die größere Gefahr drohte dem Liberalismus der FDP schon damals durch die Wandlung zu einer reinen Wirtschaftspartei, die nacktes Besitzinteresse und die Jagd nach Pfründen mit freiheitlicher Phraseologie kaschiert.

In der Bundestagsdebatte vom 17. September 1954 warf Reinhold Maier der Bundesregierung vor, die peinliche Affäre heruntergespielt und vernebelt zu haben, statt offen zuzugeben, daß der Bock zum Gärtner gemacht worden war: "Was muß in der Bundesrepublik eigentlich passieren, bis irgend etwas geschieht, bis irgendeinem Verantwortlichen etwas passiert?"

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