Juni 2023

230603

ENERGIE-CHRONIK





Auch der 55 Meter hohe Fernwärme-Speicher der Stadtwerke Rostock kann jetzt wahlweise vom Heizkraftwerk oder von der neuen Pth-Anlage gefüllt werden.
Foto: SW Rostock

Mit Strom erzeugte Fernwärme hilft Netzengpässe überwinden

Der ostdeutsche Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz hat am 8. Juni in Wedel bei Hamburg eine weitere "Power-to-heat"-Anlage (Pth) in Betrieb genommen. Hinter dem angelsächsischen Fachkauderwelsch verbirgt sich, wie üblich, ein recht banaler Sachverhalt: Gemeint ist die Erzeugung von Wärme mittels Strom, um die konventionelle Fernwärme aus gasbetriebenen Heizkraftwerken zu ersetzen. Bis zum Jahresende wird 50Hertz über zehn solcher Anlagen mit einer Leistung von insgesamt rund 220 MW verfügen, die in Kooperation mit kommunalen Energieversorgern errichtet wurden und diesen auch gehören, aber mindestens fünf Jahre lang vorrangig zur Entlastung von Netzengpässen eingesetzt werden müssen (siehe Tabelle).


Anlieferung der drei Elektrodenkessel für die Pth-Anlage in Neubrandenburg. Zusammen verfügen sie über eine Leistung von 30 MW.
Foto: neu.sw

Diese Netzengpässe verschärfen sich seit Jahren, weil der Netzausbau nicht so vorankommt, wie es notwendig wäre. Darunter leiden besonders die Übertragungsnetzbetreiber Tennet und 50Hertz, weil sie den in ihrem Zuständigkeitsbereich erzeugten Windstrom oft nicht zu den Schwerpunkten des Verbrauchs im Süden transportieren können. Stattdessen wurden immer kostspieligere "Redispatch"-Maßnahmen erforderlich. Im ersten Halbjahr 2022 beliefen sich die dadurch anfallenden Kosten bei allen vier Übertragungsnetzbetreibern auf rund 1,4 Milliarden Euro. Sie waren damit zehnmal so hoch wie im Vorjahr (221205). Insgesamt mussten 2.133 Gigawattstunden durch Abschaltung von Kraftwerkskapazitäten "abgeregelt" werden. Von dieser "Ausfallarbeit" entfielen 99 Prozent auf Tennet und 50Hertz. Die nur im Süden und Westen tätigen Übertragungsnetzbetreiber Amprion und TransnetBW waren dagegen kaum oder gar nicht betroffen.

Unter diesen außergewöhnlichen Umständen kann es sinnvoll sein, Fernwärme zeitweilig mit Strom zu erzeugen, um die Redispatch-Kosten zu senken, die durch die Netzengpässe entstehen. Und zwar funktioniert das so: Der Übertragungsnetzbetreiber finanziert kommunalen Energieversorgern, die in seinem Zuständigkeitsbereich sowohl Strom als auch Fernwärme erzeugen, die Erweiterung ihrer Heizkraftwerke um leistungsfähige Elektrokessel. Die Betreiber verpflichten sich dafür, ihre Anlagen auf Anforderung des Übertragungsnetzbetreibers herunterzufahren bzw. abzuschalten und die Fernwärmeversorgung vorübergehend mit den Elektrokesseln sicherzustellen, bis die Netzengpässe vorbei sind. Auf diese Weise werden die Heizkraftwerke vorübergehend von Stromerzeugern zu Stromverbrauchern, und durch den gleichzeitigen Wegfall ihrer Stromeinspeisung wird das Netz sogar doppelt entlastet.

Sonderregelung im Energiewirtschaftsgesetz wurde nur von 50Hertz genutzt

Solche Überlegungen haben auch die Politik überzeugt: Der § 13 Abs. 6a, der 2017 dem Energiewirtschaftsgesetz eingefügt würde, erlaubt den Übertragungsnetzbetreibern derartige Kooperationen mit HWK-Betreibern und deren Finanzierung über die Netzentgelte bis zu einer installierten Gesamtleistung von zwei Gigawatt. Die vertragliche Vereinbarung muss mindestens für fünf Jahre abgeschlossen werden und so beschaffen sein, dass sie "den Betreiber der KWK-Anlage wirtschaftlich weder besser noch schlechter stellt, als er ohne die Maßnahme stünde". So etwas lässt sich natürlich leichter in ein Gesetz hineinschreiben, als in der Praxis umsetzen. Der wohl wichtigste Anreiz, der das Geschäft für Stadtwerke interessant macht, ist der vom Übertragungsnetzbetreiber finanzierte Elektrokessel, über den sie nach Ablauf der fünf Jahre unumschränkt verfügen können. Beispielsweise können sie dessen Kapazität dann auch als negative Regelenergie anbieten, was bis dahin nicht möglich ist. Dagegen wird ihnen von Anfang an erlaubt, negative Preise an der Strombörse durch Einschaltung der Kessel zu nutzen. Zur gratis erzeugten Fernwärme bekommen sie dann noch ein Aufgeld.

Anfängliche Beschränkung auf das "Netzausbaugebiet" wirkte sich negativ aus


Die neu in Betrieb genommene Pth-Anlage in Wedel hat zwei solcher Elektrodenkessel mit jeweils 40 MW.
Foto: HEW

Die im Gesetz genannte Obergrenze von zwei Gigawatt ist fast zehnmal so hoch wie die Gesamtleistung der bisher von 50Hertz finanzierten und unter Vertrag genommenen Elektrokessel. Sie war ursprünglich noch mit dem Vorbehalt versehen, dass die Bundesregierung bei Nichterreichen dieses Ziels den Vorschlag für eine Rechtsverordnung vorlegt, "damit auch andere Technologien als zuschaltbare Lasten zum Einsatz kommen können, sofern diese geeignet sind, zur Beseitigung von Gefährdungen oder Störungen der Sicherheit oder Zuverlässigkeit des Elektrizitätsversorgungssystems aufgrund von Netzengpässen im Höchstspannungsnetz effizient beizutragen". Man versprach sich also sehr viel von diesem Paragraphen. Tatsächlich beteiligte sich dann aber nur 50Hertz, während es im Gebiet von Tennet zu keinen solchen Kooperationen kam. Bei den beiden anderen Übertragungsnetzbetreibern waren die gesetzlichen Voraussetzungen sowieso nicht gegeben.

Dieser mangelnde Erfolg lag vermutlich auch daran, dass die Verordnung zunächst auf das sogenannte "Netzausbaugebiet" beschränkt wurde. So lautete die euphemistische Bezeichnung für jene von 2017 bis 2021 per Verordnung kreierte Zone im nördlichsten Teil Deutschlands, in der man den Bau von weiteren Windkraftanlagen reduzieren und erschweren wollte, um die Redispatch-Kosten nicht weiter in die Höhe schießen zu lassen (161101). Bei Tennet gehörte zu dieser Zone nur das nördliche Niedersachsen mit Bremen. Bei 50Hertz wurden nur Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein mit Hamburg erfasst. Dieser Zuschnitt entsprach nicht den tatsächlichen netztechnischen Problemzonen und Erfordernissen. Erst mit der im Juni 2021 erfolgten EnWG-Novellierung kam es dann zur Ausweitung auf alle Heizkraftwerksbetreiber "außerhalb der Südregion nach der Anlage 1 des Kohleverstromungsbeendigungsgesetzes". Damit wurde der Zuständigkeitsbereich von 50Hertz komplett abgedeckt. Auch Tennet hätte sich nun in der nördlichen Hälfte seines von der Nordsee bis zu den Alpen reichenden Reviers ungehindert um Kooperationspartner bemühen können. Aber erneut reagierte nur der ostdeutsche Netzbetreiber, indem er seine bisherigen Kooperationen mit Partnern in Neubrandenburg, Rostock, Parchim, Stralsund und Hamburg um weitere Verträge mit den Stadtwerken Wedel, Halle, Erfurt und Leipzig ergänzte.

Weitere Kooperationen sind nicht zu erwarten, weil die Sonderregelung ausläuft

Bei diesem Stand der Dinge wird es nun wohl auch bleiben, denn seit zwei Jahren schreibt der § 13 Abs. 6a in der revidierten Fassung neben einer fünfjährigen Laufzeit der Verträge auch vor, dass diese längstens bis Ende 2028 abgeschlossen werden dürfen. Faktisch bedeutet dies, dass nur noch solche Projekte sinnvoll sind, die bis Ende 2023 fertig werden. Anscheinend geht man davon aus, dass der Netzausbau in den nächsten fünf Jahren solche Fortschritte macht, dass derartige Notlösungen nicht mehr erforderlich sind.

Die rund 100 Millionen Euro, mit denen 50Hertz die Errichtung der zehn Pts-Anlagen an neun Standorten finanziert, bleiben indessen eine sinnvolle Investition: Nach Berechnungen des Übertragungsnetzbetreibers sind die dadurch anfallenden Netzkosten sogar geringer als beim üblichem Redispatch. Ähnlich sieht das Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der bei der Inbetriebnahme der Anlage in Wedel zugegen war und sie als "wichtigen Baustein für das Gelingen der Wärmewende" bezeichnete. Anscheinend erhofft er sich neue Impulse für den geplanten Aus- und Umbau der Fernwärmeversorgung, die bisher größtenteils von gasbetriebenen Heizkraftwerken abhängig ist. Bekanntlich sollen mit dem derzeit noch heiß umstrittenen "Gebäudeenergiegesetz" die Fernwärmenetze sowohl stark erweitert als auch auf erneuerbare Energien umgestellt werden.

Als dauerhafte Strom-Ersatzlösung kommen nur Groß-Wärmepumpen in Betracht

Allerdings wäre eine generelle Umstellung der Fernwärmeerzeugung von Gas auf Strom mittels Elektrokesseln nicht sinnvoll. Entgegen einer verbreiteten Ansicht erfolgt die Umwandlung von Strom zu Wärme zwar fast verlustfrei. Sie ist damit weit effizienter als in der umgekehrten Richtung, wenn Strom mit Wärmekraftwerken erzeugt wird. Trotzdem werden die Elektrokessel, die es inzwischen bei vielen Heizkraftwerken gibt, auch künftig nur in Abhängigkeit vom schwankenden Börsenpreis, zur Vermarktung als negative Regelenergie oder in Notfällen eingesetzt werden können. Anders sieht es bei den Groß-Wärmepumpen aus, die zum Teil bereits im Bau oder geplant sind, um mit Gas oder Kohle betriebene Heizkraftwerke zu ersetzen. Hier handelt es sich sich Strom-Ersatzlösungen, die sowohl umweltfreundlich als auch wirtschaftlich sein können.


Für "grüne Wärme" aus Windenergie posieren auf diesem Foto v.l.n.r. der 50Hertz-Chef Stefan Kapferer, der Wedeler Bürgermeister Gernot Kaser, der schleswig-holsteinische Energieminister Tobias Goldschmidt, der Hamburger Umweltsenator Jens Kerstan, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und die Geschäftsführerin der Hamburger Energiewerke (HEW), Kirsten Fust.
Foto: HEW

Unabhängig von der gesetzlichen Sonderregelung in § 13 EnWG haben sich schon seit etlichen Jahren verschiedene Energieversorger auf eigene Rechnung "Power-to-heat"-Anlagen (Pth) zugelegt. Damit können sie dann Gratis-Strom in Fernwärme verwandeln, wenn im vortägigen Handel an der Strombörse die Preise negativ sind, und sogar noch ein Aufgeld kassieren. Eine andere Möglichkeit ist die Vermarktung des Elektrokessels zur Bereitstellung von negative Regelenergie. Zum Beispiel haben die Stadtwerke Schwerin bereits 2013 eine solche Anlage in Betrieb genommen, die bis zu 15 Megawatt Strom zu Fernwärme "verbraten" kann (131113). Es folgten die Frankfurter Mainova mit 8 MW (150312), die Stadtwerke Münster mit 22 MW (160212) sowie die Stadtwerke Bielefeld und Neumünster mit jeweils 20 MW (160319). Im Herbst 2019 nahm Vattenfall in Berlin die bislang größte Pth-Anlage mit einer Leistung von 120 MW in Betrieb. Sie ersetzt im ehemaligen Heizkraftwerk Reuter-West den stillgelegte Steinkohle-Block C, der bis dahin per Kraft-Wärme-Kopplung die Fernwärme lieferte (170612). In Hamburg verfügt Vattenfall seit 2018 über eine weitere Pth-Anlage mit 45 MW.

Im höheren Leistungsbereich sind Elektrokessel meistens "Elektrodenkessel"

Hinter der üblichen Pauschalbezeichnung "Elektrokessel" verbergen sich dabei immer zwei mögliche Ausführungen: Die eine sind die herkömmlichen Elektrokessel. Diese funktionieren wie Tauchsieder, bei denen der Strom einen ummantelten Widerstandsleiter erhitzt, dessen Wärme vom Heizelement an das Wasser übertragen wird. Zum Beispiel haben die Stadtwerke Schwerin drei solcher Elektrokessel mit jeweils 5 MW installiert, die zusammen eine Leistung von 15 MW aufnehmen können (131113). Nach demselben Prinzip arbeiten auch die Heizstäbe der Anlage, die von der Frankfurter Mainova in Betrieb genommen wurde (150312).

In höheren Leistungsbereichen dominieren jedoch die "Elektrodenkessel". Bei dieser Bauart wird das Wasser direkt vom Strom durchflossen und dadurch aufgeheizt. Das Wasser dient also selber als Widerstand. Es muß aber für eine bestimmte elektrische Leitfähigkeit aufbereitet sein, die dem Abstand zwischen Elektrode und Gegenelektrode entspricht. Im Unterschied zum normalen Elektrokessel kann der Elektrodenkessel nur mit Wechselstrom betrieben werden, da es bei Gleichstrom zur elektrolytischen Zersetzung des Wassers käme. Über solche Elektrodenkessel verfügen beispielsweise die Stadtwerke Münster (160212), die Stadtwerke Flensburg (20 MW) und die Nürnberger N-Ergie (2 x 25 MW). Bei der neuen Pth-Anlage in Wedel, die jetzt in Betrieb genommen wurde, handelt es sich ebenfalls um zwei Elektrodenkessel mit jeweils 40 MW.


Die neun Kooperationspartner von 50Hertz

Betreiber Standort
MW
HEW / Wärme HH Wedel
80
GETEC Urbana HH Mümmelmannsberg 1
5
GETEC Urbana HH Mümmelmannsberg 2
5
SWS Energie BHKW Stralsund
6,6
SW Parchim Parchim
2
Neubrandenburger SW Neubrandenburg
30
SW Rostock Marienehe
20
EVH Halle / Saale
40
SWE Erfurt-Süd
20
SW Leipzig Leipzig
10
   
218,6

 

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