Oktober 2022 |
221002 |
ENERGIE-CHRONIK |
Der Streit um verlängerte Laufzeiten für die drei letzten deutschen Kernkraftwerke wird nun doch auf andere Weise beendet, als das am 27. September veröffentlichte Eckpunktepapier der Bundesregierung vorsah (220906). Am 19. Oktober beschloss das Bundeskabinett binnen vier Minuten und ohne Aussprache eine Änderung des Atomgesetzes, wonach alle drei Reaktoren bis zum 15. April 2023 kommerziell betrieben werden dürfen, soweit dies mit den weitgehend erschöpften Brennelementen per "Streckbetrieb" noch möglich ist. Der entsprechend formulierte und nachträglich dem Atomgesetz eingefügte § 7 1e wird am 9. November dem Bundestag in erster Lesung vorliegen und am 11. November beschlossen.
Nach dem Eckpunktepapier wäre nur das Kernkraftwerk Emsland zum gesetzlich vorgesehenen Schlusstermin am 31. Dezember stillgelegt worden, während die Reaktoren Isar 2 und Neckarwestheim 2 je nach Bedarf als "Einsatzreserve" bis zum 15. April 2023 weiterhin zur Verfügung gestanden hätten. Dies war innerhalb der Regierungskoalition als Zugeständnis an die FDP gedacht und wurde in dieser Form am 14. Oktober von einem Parteitag der Grünen mit großer Mehrheit gebilligt. Dabei machte der Parteitag jedoch klar, dass dieses Zugeständnis für viele Delegierte schon die Schmerzgrenze überschritt und die grünen Kabinettsmitglieder keinesfalls einer größeren Laufzeitverlängerung zustimmen würde, die den Einbau neuer Brennelemente voraussetzen würde.
Damit hätte sich die FDP wohl auch zufrieden gegeben, wenn sie nicht am 9. Oktober bei der Landtagswahl in Niedersachsen an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert wäre und deshalb aus dem Landesparlament flog. Die Wahlforschung ergab, dass ihre starken Verluste auf entsprechende Gewinne von AfD und CDU zurückzuführen waren: Per Saldo hatte die Partei 40.000 Wähler an die AfD und 30.000 an die CDU verloren, während ihr nur 15.000 in Richtung SPD und Grüne abhanden kamen. Der Parteivorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner hielt es deshalb für opportun, das Profil der Partei stärker in Richtung Rechtsextremisten und Union auszurichten, wo die Forderung nach einer möglichst langen Laufzeit für die letzten Reaktoren zum populistischen Repertoire gehört und teilweise ganz unverhüllt als erster Schritt zu einer Neubelebung der Kernenergie in Deutschland propagiert wird (siehe Hintergrund, Juni 2022).
Deshalb kam es am Montag nach der Wahl in Niedersachsen nicht zu dem ursprünglich geplanten Umlaufbeschluss, mit dem das Kabinett die im Eckpunktepapier vorgesehene Notfallreserve auf den Gesetzgebungsweg bringen wollte. Stattdessen verlangten Lindner und andere FDP-Politiker nun kategorisch eine Laufzeitverlängerung "mindestens" bis 2024. Das würde in jedem Fall die Bestückung der Reaktoren mit neuen Brennelementen voraussetzen. Es wäre zugleich absolut unwirtschaftlich und würde deshalb implizit eine faktische Laufzeitverlängerung bis mindestens 2027 bedeuten. Aber gerade auf diesen Pferdefuß dürfte es es der FDP angekommen sein, denn dadurch ergäbe sich vor der Bundestagswahl 2025 weiter hinreichend Gelegenheit, mit einem scheinbar sachlich begründeten Streit um die Kernenergie die Ampelkoalition zu sprengen und wieder eine Koalition mit den Unionsparteien einzugehen. Schon jetzt sah es so aus, als ob sie es absichtlich auf den Bruch angelegt hätte, um ihre nach rechts abgewanderten Wähler wieder einfangen zu können.
In dieser Situation machte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) von seiner Richtlinienkompetenz nach Artikel 65 des Grundgesetzes Gebrauch, indem er am 17. Oktober eine schriftliche Weisung an die Umweltministerin Steffi Lemke und Wirtschaftsminister Robert Habeck sowie an den Bundesfinanzminister Christian Lindner schickte, die sowohl den Grünen als auch der FDP Zugeständnisse abverlangte: Er forderte die drei Kontrahenten auf, eine Änderung des Atomgesetzes in die Wege zu leiten, um für alle drei Kernkraftwerke den weiteren Betrieb "über den 31. 12. 2022 hinaus bis längstens zum 15. 4. 2023 zu ermöglichen". Zugleich nutzte er die Gelegenheit, um die drei Minister auch auf die gesetzgeberische Umsetzung der am 4. Oktober mit RWE erzielte Kohle-Vereinbarung zu verpflichten (221004). Ferner sorgte er dafür, dass das Bundespresseamt den Wortlaut seines Schreibens publik machte (siehe PDF).
Es war eine Weisung, die Robert Habeck und Steffi Lemke vermutlich williger befolgten als Christian Lindner, denn sie stärkte ihnen den Rücken gegenüber solchen Kräften in ihrer Partei, die eine Abweichung von den soeben gefassten Parteitagsbeschlüssen andernfalls nicht verziehen hätten. Die Abweichung besteht darin, dass nun auch der Reaktor Emsland noch dreieinhalb Monate länger laufen darf, soweit die Brennelemente das noch hergeben. Die entscheidende "rote Linie" wird aber nicht überschritten, die der Parteitag mit der Forderung gezogen hat, dass die Reaktoren keinesfalls mit neuen Brennelementen bestückt werden dürfen. Lindner fiel es dagegen schwerer, seine Konflikt-Strategie in Sachen Kernkraft wieder aufzugeben, mit der er schon lange die Vereinbarungen des Koalitionsvertrags verletzte. Aber es blieb ihm keine andere Wahl: Wenn er weiter provoziert und den Bruch der Koalition herbeigeführt hätte, wäre das Ergebnis für ihn und seine Partei noch verheerender gewesen als das Debakel in Niedersachsen.