November 2019 |
191101 |
ENERGIE-CHRONIK |
Der Bundestag hat am 13. November das Energiewirtschaftsgesetz an mehreren Stellen geändert, um die neugefaßte EU-Gasrichtlinie in nationales Recht umzusetzen, die den Geltungsbereich der Regulierung auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten vor den Meeresküsten ausweitet (190201. Die Parteien der Großen Koalition entfernten dabei aus ihrem ursprünglichen Gesetzentwurf kurzfristig einen Passus, der ein Hindernis gewesen wäre, um die russische Gazprom als Eigentümer und Betreiber der neuen Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 vom Gebot der eigentumsrechtlichen Entflechtung zu befreien. Die EU-Richtlinie wurde dadurch nicht mehr "eins zu eins umgesetzt", wie Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier noch zu Beginn der Plenarsitzung mit Blick auf den ursprünglichen Gesetzentwurf versichert hatte. Sie wurde vielmehr auf anfechtbare Weise so zurechtgebogen, dass die Gazprom auch bei der zweiten Ostsee-Pipeline – wie schon bei der ersten – zugleich Eigentümer und Betreiber der Leitungen sein kann.
In der ursprünglich vorgesehenen Fassung hätte der neue § 28b des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) eine Befreiung der Gazprom von der eigentumsrechtlichen Entflechtung nur ermöglicht, wenn "die Leitung vor dem 23. Mai 2019 fertiggestellt wurde". Das ist der Tag des Inkrafttretens der neuen EU-Gasrichtlinie. Die Pipeline Nord Stream 2 ist indessen bis heute nicht fertiggestellt und wird wohl erst im Laufe des nächstes Jahres in Betrieb gehen. Die Bundesnetzagentur hätte deshalb als zuständige Behörde keine ausreichende juristische Handhabe gehabt, um einen entsprechenden Antrag der Gazprom-Tochter Nord Stream 2 AG genehmigen zu können. Die Behörde verfügt zwar nur über eine beschränkte Eigenständigkeit gegenüber der Bundesregierung und dem Bundeswirtschaftsministerium, dem sie untersteht (180705). Ihre Dienstbarkeit gegenüber Weisungen und Wünschen der politischen Instanzen hört aber spätestens dort auf, wo es an den erforderlichen gesetzlichen Grundlagen fehlt.
"Die Änderung dient der Klarstellung", begründete der Wirtschaftsausschuss des Bundestags die nachträglich vorgenommene Streichung. Das klingt so, als ob bei der Umsetzung der neuen EU-Gasrichtlinie in nationales Recht ein korrekturbedürftiger Lapsus passiert sei oder als ob der ursprüngliche Gesetzentwurf lediglich "in der parlamentarischen Beratung noch einmal redaktionell verändert" worden sei, wie der Minister Altmaier den Vorgang dezent umschrieb. Tatsächlich stammte die gestrichene Formulierung in § 28b EnWG aber wortwörtlich aus der neufaßten EU-Gasrichtlinie: Dort beschränkt der Artikel 49a die Befreiung von der eigentumsrechtlichen Entflechtung ebenfalls auf Gasfernleitungen, "die vor dem 23. Mai 2019 fertiggestellt wurden". Was der Wirtschaftsausschuss als "Klarstellung" bezeichnet, ist also in Wirklichkeit eine Vernebelung des Originaltextes der neuen EU-Gasrichtlinie.
Auf den Wortlaut der Richtlinie hatten sich Rat und Parlament der EU im Februar nach zähem Fingerhakeln geeinigt (190201). Er ist ein Kompromiss, der die konträren Interessen der Mitgliedsstaaten widerspiegelt. Aufgrund dieser inneren Widersprüchlichkeit können Gegner wie Unterstützer der von Gazprom beanspruchten Privilegien aus ihm das herauslesen und notfalls zurechtbiegen, was ihnen passt. So unterstellte der von Union und SPD dominierte Wirtschaftsausschuss einfach, dass die Richtlinie in diesem Punkt nicht wortwörtlich verstanden werden dürfe. Der europäische Gesetzgeber bezwecke mit dem Artikel 49a hauptsächlich den Vertrauensschutz für bereits getätigte Investitionen. Daraus ergebe sich wiederum: "Vor diesem Hintergrund ist bei der Bestimmung, ob die Leitung vor dem Inkrafttretenstermin fertiggestellt worden ist, allen Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen". Es komme also weniger auf den Wortlaut als auf die eigentliche Intention des Gesetzgebers an. Und diese eigentliche Intention sei nun mal der Vertrauensschutz für die Milliarden gewesen, die von der Gazprom und ihren fünf westlichen Finanzpartnern in der Ostsee versenkt wurden, bevor die geänderte Gasrichtlinie in Kraft trat.
Mit dieser genauso spitzfindigen wie fragwürdigen Auslegung waren schon im Wirtschaftsausschuss nicht alle Parteien einverstanden. Die Beschlußempfehlung wurde nur von Union und SPD sowie der FDP unterstützt. Die Grünen stimmten dagegen, während die Linke Enthaltung übte. Auch die AfD lehnte die Beschlussempfehlung ab, obwohl sie sich sonst regelmäßig für Gazprom und den Kreml stark macht. Anscheinend haben die Rechtspopulisten gar nicht verstanden, um was es eigentlich ging.
Der 23. Mai 2019 taucht jetzt nur noch in den neugefaßten Bestimmungen über "Unabhängige Transportnetzbetreiber" (§ 10) und "Unabhängige Systembetreiber" (§ 9) auf. Die Bezugnahme auf das Inkrafttreten der EU-Richtlinie ist hier unverfänglicher, weil es um die Eigentumsverhältnisse und nicht um das Datum der Fertigstellung geht. Es wird niemand bestreiten können, dass die Gazprom über ihre hundertprozentige Tochter Nord Stream 2 AG der Eigentümer das Projekts war, dessen Verwirklichung 2017 begann und das im Mai dieses Jahres zwar nicht fertiggestellt, aber zu einem erheblichen Teil vollendet war.
Die beiden genannten Paragraphen ermöglichten bisher die Befreiung von der eigentumsrechtlichen Entflechtung (§ 8), wenn "vertikal integrierte Energieversorgungsunternehmen" bereits am 3. September 2009 sowohl Eigentümer als auch Betreiber von Transportnetzen für Strom oder Gas waren. Zum Beispiel hat die Energie Baden-Württemberg (EnBW) aufgrund von § 10 den Status eines "Unabhängigen Transportnetzbetreibers" in Anspruch genommen und ist bis heute Eigentümer des Stromtransporteuers Transnet BW geblieben (110705). Von den 15 deutschen Gastransportnetzbetreibern sind sogar neun nach § 10 EnWG organisiert und lediglich vier eigentumsrechtlich entflochten worden (180705).
Die jetzt vom Bundestag beschlossene Novellierung erweitert diese beiden historischen Ausnahmeregelungen um jeweils eine Extra-Wurst für Nord Stream 2: Die Befreiung von der eigentumsrechtlichen Entflechtung gilt nun auch "für ein Fernleitungsnetz, das Deutschland mit einem Drittstaat verbindet, in Bezug auf den Abschnitt von der Grenze des deutschen Hoheitsgebietes bis zum ersten Kopplungspunkt mit dem deutschen Netz, wenn das Fernleitungsnetz am 23. Mai 2019 im Eigentum des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens stand". Das klingt sehr allgemein und neutral. Faktisch handelt es sich aber um eine "Lex Gazprom", denn außer dem russischen Staatskonzern und seiner in der Schweiz angesiedelten Netztochter wird kein anderes Unternehmen davon profitieren können.
Die Verabschiedung der EnWG-Novellierung durch den Bundestag erfolgte wie schon bei der Abstimmung im Wirtschaftsausschuss mit den Stimmen von Union und SPD sowie der FDP, während Grüne und AfD dagegen stimmten und die Linke sich enthielt. In der sonst wenig gehaltreichen Debatte erwähnte nur die grüne Abgeordnete Julia Verlinden den Dissens um die Auslegung der EU-Gasrichtlinie. Mit der Streichung des 23. Mai 2019 als "Deadline für die Fertigstellung der Pipeline" trickse die Große Koalition und mache "wieder einmal eine Rolle rückwärts". Insbesondere öffne sie auf diese Weise "Tür und Tor" für die an sich überflüssige Pipeline Nord Stream 2, denn mit der Erteilung einer entsprechenden Ausnahmegenehmigung für die russische Gazprom sei nun sicher zu rechnen.
Dagegen begründete der AfD-Abgeordnete Steffen Kotré die Ablehnung der EnWG-Novelle durch seine Fraktion ausgerechnet damit, dass sie Nord Stream 2 behindere wenn nicht gar verhindere. Seinen krausen Ausführungen zufolge ist die Belieferung Westeuropas mit russischem Gas über die Ostsee-Pipelines als "binationales wirtschaftliches Projekt" zwischen Moskau und Berlin zu sehen, bei dem die EU-Kommission nicht mitzureden hat. Sonst werde die Gasversorgung teuerer, schlechter und unsicherer. Die EU-Kommission habe "Deutschland die Pistole auf die Brust gesetzt", um Nord Stream 2 komplett zu verhindern. Hinter der Kommission stünden wiederum die USA, die "ihr schlechteres Flüssiggas bei uns loswerden wollen".