September 2016

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK


Großbritannien setzt weiter auf Kernenergie

(zu 160905)

Die Briten haben mit Lammsgeduld eine Margaret Thatcher ertragen. Ebenso die neoliberalen Zumutungen, die ihnen anschließend der Windbeutel Tony Blair unter dem Etikett "New Labour" servierte. Insofern nimmt es schon ein bißchen wunder, mit welcher Verve sie gegen die Mitgliedschaft in der Europäischen Union aufbegehrten. Die in Brüssel betriebene Politik und das sie repräsentierende Personal verdienen zwar sicher jede Menge Kritik. Sie können aber kaum für die Mißlichkeiten auf der Insel verantwortlich gemacht werden. Vielmehr sind die EU-Kommission und die anderen Mitgliedsstaaten den Regierenden in London oft bis zur Selbstverleugnung entgegengekommen und haben ihnen einen Sonderwunsch nach dem anderen erfüllt. Einen der letzten Liebesdienste erwies die EU-Kommission der Regierung von David Cameron, als sie die geradezu phantastischen Subventionen absegnete, mit denen die britische Regierung künftig den Neubau von Kernkraftwerken ermöglichen will (141020). Aber es hat ihr nichts genützt: Mit knapper Mehrheit votierten die britischen Wähler am 23. Juni für den Austritt aus der Europäischen Union.

Von der neuen Regierungschefin waren plötzlich ganz neue Töne zu hören

In Großbritannien graut es auch konservativen Wirtschaftskreisen vor dem "Brexit", weil die Nachteile eines EU-Austritts nun mal per Saldo überwiegen. Cameron mußte deshalb zurücktreten, nachdem es ihm trotz erneuter Zugeständnisse der Kommission nicht gelungen war, das Austrittsvotum abzuwenden. Seine Nachfolgerin Theresa May wartete daraufhin mit einer Überraschung auf: Als die Electricité de France (EDF) am 28. Juli mit der Investitionsentscheidung für das seit vielen Jahren geplante Kernkraftwerk Hinkley Point C vorpreschte, zog sie keineswegs nach oder applaudierte, sondern machte die Verwirklichung dieses Vorhabens von einer nochmaligen Überprüfung abhängig (160714). Das waren völlig neue Töne, die den Eindruck erweckten, als ob die Londoner Regierung die Briten zusätzlich zu allen Nachteilen des "Brexits" nicht auch noch mit den Kosten einer exzessiven Atomstrom-Subventionierung belasten wolle.

Regierung erklärte ihr Zögern mit angeblichen Bedenken wegen der Chinesen

Seit 15. September ist klar, daß es unter der neuen Chefin bei der alten Marschrichtung bleibt. Falls die Regierung tatsächlich vorübergehend von Skrupeln wegen der hohen Atomstrom-Subventionierung befallen worden sein sollte, hat sie dies hübsch kaschiert, indem sie nachträgliche Bedenken wegen der Einbeziehung der chinesischen Atomwirtschaft vorschützte. Die sollen nun publikumswirksam dadurch ausgeräumt werden, daß die britische Regierung ein Vetorecht gegen unerwünschte Eigentümerwechsel bei den neu zu bauenden Kernkraftwerken erhält. Das klingt gut, schmeichelt dem insularen Selbstbewußtsein, wird von der EDF gern akzeptiert und tut auch den Chinesen nicht sonderlich weh, zumal diese ohnehin seit acht Jahren mit der französischen Atomwirtschaft verbandelt sind (080808) und deshalb den EPR nicht erst auf britischem Boden auszuspähen brauchen. Auch als Mehrheitseigentümer mehrerer britischer Kernkraftwerke würden die Chinesen sich hüten, energiepolitisch einer Regierung in die Quere zu kommen, von deren Gunst das Geschäft abhängig ist.

Schon jetzt sind 30 der 45 britischen Reaktoren nur noch strahlende Atomruinen

Momentan sind in Großbritannien noch 15 Reaktoren an sieben Standorten in Betrieb (nicht an acht, wie es in der Pressemitteilung der Regierung vom 15. September hieß). Mit Ausnahme des jüngsten Kernkraftwerks Sizewell B, das 1995 in Betrieb genommen wurde, handelt es sich durchweg um gasgekühlte Reaktoren, die Graphit als Moderator und Kohlendioxid als Kühlmittel verwenden (siehe Tabelle). In einer von Leichtwasserreaktoren und speziell von Druckwasserreaktoren beherrschten Szene hat dieser britische Nuklearpark den technischen Charme von Computern, die noch mit den Betriebssystemen CP/M oder MS-DOS arbeiten. Der gesamte nukleare Kraftwerkspark wird von der EDF betrieben, die vor acht Jahren den Atomstromproduzenten British Energy übernommen hat (080903). Ein Fünftel des Stroms vermarktet der Versorger Centrica, der sich 2009 als Partner der EDF an dem Atomstromproduzenten beteiligt hat (090505). Die EDF soll nun auch für die Modernisierung dieses museumsreifen Kraftwerksparks sorgen, der wegen der Überalterung der Reaktoren bis 2030 sukzessive stillgelegt werden muß. Schon jetzt sind 30 der insgesamt 45 britischen Reaktoren nur noch strahlende Atomruinen, deren Entsorgung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird.

Das erste kommerzielle Kernkraftwerk Calder Hall war zugleich eine Atombombenfabrik

Großbritannien war einst Vorreiter bei der Errichtung von Kernkraftwerken und nahm 1956 mit Calder Hall 1 den ersten Reaktor der westlichen Welt in Betrieb. Die vier Magnox-Reaktoren mit einer Leistung von jeweils 60 MW wurden damals als Aufbruch in in eine neue Ära gefeiert, in der die friedliche Nutzung der Kernenergie allen Energieproblemen ein Ende bereiten und die Stromerzeugung zu Spottpreisen ermöglichen werde. Dabei dienten Calder Hall und der ganze Sellafield-Komplex von Anfang auch – und sogar in erster Linie – militärischen Zielen. Man konnte im ersten kommerziellen Reaktor der Welt ebensogut eine Fabrik zur Herstellung von Waffen-Plutonium aus Natururan sehen.

Einer der wenigen, die sich von der damaligen Atom-Euphorie nicht anstecken ließen, war der Wirtschaftswissenschaftler und SPD-Politiker Fritz Baade. In seinem 1958 erschienenen Buch "Weltenergiewirtschaft / Atomenergie – Sofortprogramm oder Zukunftsplanung?" stellte er fest: "In den meisten Presseberichten wird Calder Hall als Atomkraftwerk vorgestellt. Das entspricht nicht den Tatsachen. Calder Hall ist eine auf Verlangen des englischen Generalstabs gebaute Fabrik zur Produktion von Plutonium aus Atombomben. Diese Bombenfabrik ist mit einem Kraftwerk umkleidet."

Auch in Frankreich prägte das Miteinander von "Force de frappe" und Atomstrom das Meinungsklima

Bis 1960 blieb Großbritannien die einzige Atommacht neben den USA und der Sowjetunion. Dann hatte auch Frankreich seine "Force de frappe" und einen ziemlich janusköpfigen Nuklearpark, der keineswegs nur auf Stromproduktion abgestellt war. Diese Verbindung zwischen friedlicher und militärischer Nutzung der Kernenergie wirkte sich auf die politische Interessenlage und deren Widerspiegelung in den herrschenden Medien aus. Sie dürfte zum großen Teil erklären, weshalb sich in Frankreich wie in Großbritannien lange Zeit kaum Kritik an der Atomwirtschaft regte. In der damaligen Bundesrepublik wurde dagegen die Kernenergie ab den siebziger Jahren immer stärker in Frage gestellt. Nach der Katastrophe, die sich im April 1986 in Tschernobyl ereignete, konnte in Westdeutschland kein einziges Kernkraftwerk mehr neu in Angriff genommen werden. Nach der Katastrophe von Fukushima im März 2011 verlor die Kernenergie sogar über alle Lager hinweg den politischen Rückhalt.

Von zehn Jahren vereinbarte Blair mit Chirac die Anlehnung an die französische Nuklearindustrie

Im Unterschied zu Frankreich verfügt Großbritannien aber nicht über die Voraussetzungen, um selber neue Kernkraftwerke mit Druckwasserreaktoren zu bauen. Im Zuge seiner neoliberal indoktrinierten Wirtschaftspolitik ist dem Land neben anderen industriellen Ressourcen auch diese Fähigkeit abhanden gekommen. Ersatzweise kam es zu einer starken Anlehnung an die französische Nuklearwirtschaft: Im Juni 2006 vereinbarten der damalige Premier Tony Blair und der französische Präsident Jacques Chirac die Gründung eines französisch-britischen Atomforums (060705). Die Nachfolger David Cameron und Nicolas Sarkozy haben diese Bündnis bekräftigt (120304).

EDF sicherte sich sowohl den Betrieb als auch die künftige Erneuerung des britischen Nuklearparks

Nachdem die britische Atombehörde NDA im März 2008 alle interessierten Unternehmen förmlich eingeladen hatte, in die britische Nuklearwirtschaft zu investieren, sicherte sich die EDF mit der Übernahme von British Energy zugleich den größten Teil der Standorte für den Neubau von Kernkraftwerken (080508). Die beiden Druckwasserreaktoren in Hinkley Point sollten ursprünglich schon 2017 in Betrieb gehen und bis 2019 durch zwei weitere EPR-Blöcke am Standort Sizewell ergänzt werden. Außerdem plante die spanische Iberdrola zusammen mit GDF Suez und dem britischen Energieversorger Scottish & Southern in Sellafield die Errichtung eines Kernkraftwerks mit 3.600 MW, das bis 2020 ans Netz gehen sollte (091106).

E.ON und RWE wollten die Kernkraftwerke Wylfa und Oldbury modernisieren

Um die verbleibenden Standorte bewarben sich auch die beiden deutschen Energiekonzerne E.ON und RWE (090103). Sie bekamen daraufhin den Zuschlag für Grundstücke an den Standorten Wylfa und Oldbury, wo die vier ältesten Reaktoren des Landes soeben vom Netz gegangen waren bzw. zur Stillegung anstanden (080703). Über ein neu gegründetes Gemeinschaftsunternehmen wollten sie dort bis 2025 neue Reaktoren mit einer Leistung von rund 6.000 MW errichten (091106). Nach der Katastrophe von Fukushima und der dadurch bewirkten atompolitischen Neuorientierung in Deutschland verzichteten sie aber auf die Weiterführung dieses Projekts, obwohl sie bereits mehrere hundert Millionen Euro investiert hatten (120304). Das dafür gegründete Gemeinschaftsunternehmen "Horizon Nuclear Power" wurde vom japanischen Hitachi-Konzern übernommen (121015).

Regierung mußte eine hohe Subventionierung des erzeugten Atomstroms versprechen

Nach dem Ausstieg von E.ON und RWE erlahmte auch bei anderen Energiekonzernen das Interesse, auf eigenes Risiko in die britische Nuklearwirtschaft zu investieren. Immer deutlicher zeigte sich, daß Kernkraftwerke nicht nur große Betriebsrisiken bedeuten und kaum lösbare Entsorgungsprobleme aufwerfen, sondern schlicht zu teuer sind, um ohne staatliche Protektion rentabel zu sein. Als Beitrag zum Klimaschutz sind sie ebenfalls entbehrlich, da dieser durch den Ausbau der erneuerbaren Energien einfacher, billiger und nachhaltiger gestaltet werden kann.

Die britische Regierung hielt freilich an dem eingeschlagenen Kurs fest. Der bereits milliardentief in Schulden steckenden EDF machte sie die Weiterführung der geplanten Projekte dadurch schmackhaft, daß sie eine geradezu märchenhafte Subventionierung des erzeugten Atomstroms mit 92,50 Pfund pro Megawattstunde versprach, und das auf die Dauer von 35 Jahren ab Inbetriebnahme und unter Berücksichtigung der Geldentwertung. Da mochte auch der staatliche chinesische Atomkomplex nicht widerstehen, der nun als Juniorpartner der EDF bei dem Projekt Hinkley Point mit ins Boot stieg (131009). Zusätzlich wurde den Chinesen in Aussicht gestellt, bei einem der folgenden KKW-Projekte die Mehrheitsbeteiligung übernehmen zu dürfen.

EU-Kommission korrigierte die zu niedrig angesetzten Baukosten, genehmigte aber anstandslos die Subventionen

Im Oktober 2014 genehmigte die EU-Kommission diese fürstliche Beihilfe für die Kernenergie. Dabei hatte sie nachgerechnet und war anstelle der 16 Milliarden Pfund, mit denen die Baukosten der beiden EPR-Blöcke beziffert wurden, auf die Summe von 24,5 Milliarden Pfund gekommen. Die Gesamtkosten schätzte sie sogar auf 34 Milliarden Pfund, was 43 Milliarden Euro entsprach. Die Entscheidung der Kommission kam allerdings nur mit knapper Mehrheit zustande. Österreich kündigte sogar an, den Beschluß vor dem Europäischen Gerichtshof anzufechten (141020). Außerdem liegt dem Luxemburger Gerichtshof eine Klage von mehreren Stadtwerken vor (150705).

Nach dem Austritt aus der EU braucht der britischen Regierung vor dem Urteil des Luxemburger Gerichtshofs nicht mehr bange zu sein. Sie hat dann freie Hand, den Atomstrom aus neuen Kernkraftwerken so hoch zu subventionieren, wie sie will. Dies wird ihr allerdings nur solange möglich sein, wie die gebeutelten Verbraucher nicht aufmucken. Die britischen Wähler hätten schon jetzt besser daran getan, den Ausstieg ihres Landes aus der Kernenergie zu fordern und damit die KKW-lastige Kommission in Brüssel unter Druck zu setzen anstatt sich von der Europäischen Union zu verabschieden.