Mai 2012 |
120503 |
ENERGIE-CHRONIK |
Einspeisung von Windstrom (blau) und
Solarstrom (rot) ins deutsche Netz |
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Der Zuwachs an Wind- und Solarstrom hat im Winterhalbjahr 2011/2012 die Netzprobleme noch verschärft, zumal diese erneuerbaren Stromquellen fast ausschließlich ins Verteilnetz einspeisen. Insgesamt 197mal mußten die Übertragungsnetzbetreiber die Verteilnetzbetreiber anweisen, die Einspeisung aus EEG-Anlagen zu reduzieren. In 184 Fällen ging es dabei um Windkraftanlagen, deren Stromproduktion zu Rückspeisungen ins Übertragungsnetz führte und es partiell überlasteten. Der Großteil der Probleme trat im Netzgebiet von "50Hertz Transmission" in Brandenburg auf (47 Prozent), gefolgt vom Netz der TenneT in Schleswig-Holstein (36 Prozent). |
Durch die abrupte Stillegung von insgesamt acht Kernkraftwerken war die Situation im deutschen Stromnetz im Winter 2011/12 "sehr angespannt". Die Einspeisung von Wind- und Solarstrom nahm zwar weiter zu, trug aber wegen der unregelmäßigen Erzeugung eher zur Verschärfung als zur Lösung der Netzprobleme bei. Destabilisierend wirkte sich ferner ein Engpaß bei der Versorgung von Gaskraftwerken aus, der im Februar auftrat. Mehrfach konnte im deutschen Netz das wichtigste Kriterium der Versorgungssicherheit nicht erfüllt werden, das vorschreibt, daß auch beim Ausfall eines wichtigen Netzbetriebsmittels innerhalb einer Regelzone (Freileitung, Transformator) die Grenzwerte für einen sicheren Netzbetrieb eingehalten werden können ("N-1-Regel"). Dies ergibt sich aus dem "Bericht zum Zustand der leitungsgebundenen Energieversorgung im Winter 2011/12", den die Bundesnetzagentur am 7. Mai vorlegte.
Schon vor der Stillegung der acht Kernkraftwerke hatte die Bundesnetzagentur in ihrem "Monitoringbericht 2011" warnend darauf hingewiesen, daß die "Stabilitätsgrenzen des elektrischen Systems bereits punktuell erreicht" seien. Sie hielt sogar die Einhaltung der "N-1-Regel" für nicht mehr ausreichend, um überregionale Großstörungen sicher vermeiden zu können (110114). Typisch für die angespannte Netzsituation war damals, daß die Übertragungsnetzbetreiber im Winterhalbjahr 2010/2011 insgesamt 39mal die Verteilnetzbetreiber anweisen mußten, die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien zu reduzieren. Im vergangenen Winterhalbjahr 2011/2012 geschah dies insgesamt 197mal. Die Zahl dieser Eingriffe, die nach § 13 Abs. 2 EnWG nur als ultima ratio zur Abwendung von Netzstörungen erlaubt sind, hat sich also verfünffacht.
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Vervielfacht haben sich auch die unterhalb dieser Schwelle liegenden Interventionen, die zur Abwendung von Netzstörungen "netzbezogene Maßnahmen" wie Netzschaltungen oder "marktbezogene Maßnahmen" wie den Einsatz von Regelenergie vorsehen. So erhöhte sich die Anzahl der Stunden, in denen auf den am stärksten betroffenen Netzelementen im deutschen Übertragungsnetz sogenannte Redispatch-Maßnahmen erforderlich wurden, bis auf mehr als das Dreißigfache (siehe nebenstehende Grafik/Tabelle). Auf der stark belasteten Trasse zwischen Remptendorf (Thüringen) und Redwitz (Bayern) verzwanzigfachte sich das Volumen der Redispatchmaßnahmen von 100.150 MWh auf 2.140.997 MWh. Als "Redispatch"bezeichnet man Eingriffe der Übertragungsnetzbetreiber in die marktbasierten Fahrpläne der Kraftwerksbetreiber, die notwendig sind, um Leitungsüberlastungen zu verhindern bzw. zu beseitigen.
Ein spezielles Problem war der Mangel an Regelenergie, um Prognosefehler der Bilanzkreisverantwortlichen auszugleichen. Bisher war nur bekannt, daß es Anfang Februar zu einer erheblichen Unterspeisung der Bilanzkreise kam, die nicht ausreichend durch positive Regelenergie ausgeglichen werden konnte. Wie jetzt aus dem Bericht hervorgeht, trat bereits im Dezember 2011 der umgekehrte Fall ein, daß eine erhebliche Überspeisung der Bilanzkreise nicht hinreichend durch negative Regelenergie kompensiert werden konnte.
Zur Überspeisung der deutschen Regelzonen kam es in der relativ warmen Periode zwischen Weihnachten und Silvester 2011. Weil die vorgehaltene negative Regelleistung von 4.535 MW nicht ausreichte, mußten die Übertragungsnetzbetreiber Stromverkäufe am Intraday-Markt der Börse tätigen und negative Regelenergie von den Übertragungsnetzbetreibern der Niederlande und der Schweiz hinzukaufen. Zu den Unterdeckungen kam es dagegen in der Kälteperiode zwischen dem 6. und 14. Februar 2012. Weil die zur Verfügung stehende positive Regelleistung von 3821 MW nicht ausreichte, mußten die Übertragungsnetzbetreiber bis zu 1.295 MW Kaltreserve mobilisieren (360 MW aus Deutschland und 935 MW aus Österreich) sowie Notreserven in Höhe von mehreren Hundert MW aus den Niederlanden und der Schweiz anfordern. Außerdem bezogen sie in erheblichem Umfang Strom über die Börse und machten in zwei Fällen von § 13 Abs. 2 EnWG Gebrauch, um Kraftwerke zur Einspeisung zu zwingen.
In beiden Fällen will die Bundesnetzagentur nicht ausschließen, daß positive oder negative Regelenergie vom Stromhandel mißbräuchlich in Anspruch genommen wurde, weil die Ausgleichsenergie eventuell günstiger zu haben war als Börsenstrom (120202). Sie hat die Übertragungsnetzbetreiber aufgefordert, allen Verdachtsmomenten nachzugehen, wonach Bilanzkreisverantwortliche ihren vertraglichen Prognose- und Bewirtschaftungspflichten nicht nachgekommen sein könnten. Im übrigen neigt sie aufgrund der bisherigen Untersuchungen aber zu der Auffassung, daß vorsätzliche Arbitrage-Geschäfte "bei weitem nicht die alleinige Ursache" sein könnten. Es habe sich wohl eher um wetterbedingte Prognosefehler gehandelt. So habe die Kälteperiode im Februar teilweise zu deutlich größeren Energieverbräuchen bei den Standardprofilkunden geführt, als von den Standardlastprofilen abgebildet und von den Verteilnetzbetreibern erwartet wurde. Ferner seien die zum Jahresbeginn 2012 im Rahmen des EEG-Marktprämienmodells eingeführten Bilanzkreise "noch nicht in der zu erwartenden Güte bewirtschaftet" worden.
In jedem Falle hat die Über- bzw. Unterspeisung der Regelzonen aber gezeigt, "daß das gegenwärtige Preisbildungs- und Abrechnungssystem für Ausgleichsenergie keine ausreichenden Anreize mehr setzt". Um vergleichbaren Situationen vorzubeugen, will die Bundesnetzagentur noch in diesem Jahr die Preise für positive oder negative Ausgleichsenergie so festlegen, daß kein Anreiz für Arbitrage-Geschäfte mehr besteht. Das heißt, daß der Preis für Überspeisungen unterhalb des Börsenpreises und der Preis für Unterspeisungen oberhalb des Börsenpreises liegen wird. Zugleich werden die Preise für Unter- und Überspeisungen künftig nicht mehr symmetrisch sein. Außerdem sollen die bisherigen Standardlastprofile überprüft und gegebenenfalls angepaßt werden.
Die Unterdeckung im Februar gestaltete sich besonders problematisch, weil zugleich die russische Gazprom wegen Versorgungsschwierigkeiten im eigenen Land ihre Gaslieferungen unerwartet kürzte. Die Gasnetzbetreiber stoppten daraufhin ihrerseits für Kraftwerke mit unterbrechbaren Kapazitätsverträgen die Belieferung. Von der vertragsgemäßen Unterbrechung der Gasversorgung waren im süddeutschen Raum insgesamt drei Kraftwerke mit fünf Blöcken und einer Gesamtleistung von 2.141 MW betroffen (Irsching 3 und 4, RDK 4S Karlsruhe sowie Franken I mit den Blöcken 1 und 2). Bei Franken I sowie Irsching 3 konnte der Kapazitätsverlust durch Umschalten auf Ölfeuerung teilweise ausgeglichen werden. Insgesamt standen jedoch rund 1.350 MW nicht zur Verfügung.
Der Süden litt besonders unter der Verknappung der Kraftwerkskapazitäten, weil die bundesweit vorhandene Engpaßleistung von derzeit 108.071 MW (Kraftwerke aller Arten ab 10 MW) größtenteils im Norden angesiedelt ist. Auf die verbrauchsintensive Region südlich der Main-Linie entfallen nur 34.909 MW. Ähnlich sieht es bei der Kaltreserve aus, wo nur 716 von 2.101 MW auf den Süden entfallen. Die Übertragungsnetzbetreiber haben deshalb alle gasbefeuerten Blöcke mit mehr als 50 MW südlich der Mainlinie als systemrelevant eingestuft.
Die vertraglich vereinbarte Unterbrechung der Lieferungen für Gaskraftwerke paßte zu dieser Einstufung wie die Faust aufs Auge. Die Systemverantwortung der Stromtransportnetzbetreiber gemäß § 13 EnWG kollidierte hier mit § 16 EnWG, der in ähnlicher Weise den Betreibern von Ferngasnetzen die Systemverantwortung überträgt und beispielsweise den Abschluß unterbrechbarerer Kapazitätsverträge ermöglicht. Die Bundesnetzagentur verlangt deshalb, daß die Betreiber von systemrelevanten Gaskraftwerken künftig nur noch feste Kapazitätsverträge abschließen dürfen. Ersatzweise sollen Transportnetzbetreiber berechtigt sein, die Versorgung von Gaskraftwerken anzuordnen, die nach § 16 Abs. 1 EnWG unterbrochen worden ist.
"Isolierte Betrachtungen der Strom- und Gasnetze werden den Herausforderungen durch die Energiewende nicht mehr gerecht", bemerkt dazu die Behörde in ihrem Bericht. Die Gasnetz- und Stromtransportnetzbetreiber seien gemeinsam aufgefordert, ein Übergreifen von Gasversorgungsengpässen auf die Stromversorgung zu verhindern.
Ferner erwartet die Behörde vom Gesetzgeber, den § 13 Abs. 1a EnWG so zu konkretisieren, daß dauerhafte Stillegungen von Kraftwerken verhindert werden können. Geplante Stillegungen konventioneller Anlagen sollen mindestens zwölf Monate vorher angemeldet werden müssen. Falls die Stillegung genehmigt wird, soll die Betriebserlaubnis unumkehrbar erlöschen. Damit will die Bundesnetzagentur verhindern, daß Kraftwerksbetreiber durch Kapazitätsverknappung die Preise erhöhen und zugleich durch die Vorhaltung von wieder aktivierbaren Kapazitäten eine Einschüchterungskulisse erzeugen, die neue Anbieter vom Markteintritt abhält.
Beim EEG-Ausgleichsverfahren will die Bundesnetzagentur die widersinnige Praxis beseitigen, daß die Übertragungsnetzbetreiber sogar solchen EEG-Strom an der Börse verkaufen, der wegen Eingriffen nach § 13 EnWG voraussichtlich gar nicht ins Netz eingespeist werden kann. Die vorhersehbar abzuregelnde EEG-Erzeugung wird künftig möglichst bereits im Rahmen der Vortagesprognose abgezogen. Falls hinreichend gesicherte Erkenntnisse erst später vorliegen, wird die "Intraday"-Vermarktung entsprechend gekürzt. Die Bundesnetzagentur verspricht sich davon einen geringeren Bedarf an Regelenergie und Redispatch.
Schließlich fordert die Bundesnetzagentur die Übertragungsnetzbetreiber auf, schon jetzt für den bevorstehenden Winter Reservekapazitäten im Umfang von etwa 2.150 MW zu kontrahieren. Das sind 505 MW mehr als im Winter 2011/12. Der tatsächliche Bedarf werde stark davon abhängen, wieweit es in Süddeutschland zu geplanten Kraftwerksstilllegungen kommt, die aus Sicht der Behörde verhindert werden müssen, weil sonst das Sicherheitsniveau auf nicht mehr akzeptable Werte sinkt. Konkret geht es dabei um die Pläne von E.ON, in den beiden nächsten Jahren die drei Blöcke Irsching 3 (415 MW), Staudinger 4 (622 MW) und Franken I, Block 1 (383 MW) mit einer Leistung von insgesamt 1.420 MW stillzulegen. E.ON begründet die geplanten Stillegungen mit der mangelnden Auslastung solcher Anlagen, die wegen ihrer relativ hohen Stromerzeugungskosten lediglich zur Abdeckung von Lastspitzen dienen und infolge des Einspeisungsvorrangs für EEG-Strom nicht mehr rentabel vorgehalten werden könnten (111104).