Januar 2009 |
090101 |
ENERGIE-CHRONIK |
Am 19. Januar einigten sich die Regierungschefs Julia Timoschenko und Wladimir Putin endlich auf einen neuen Gasliefervertrag. Die Unterzeichnung der Vereinbarung überließen sie ihren jeweiligen Gas-Chefs: Links unterschreibt Oleg Dubin für die ukrainische Naftogaz, rechts Alexey Miller für Gazprom. Pressefoto Reg. UA |
Weil die Regierungen in Moskau und Kiew keine Einigung über einen neuen Liefervertrag erzielen konnten, hat Rußland die Gaslieferungen an und durch die Ukraine mit Jahresbeginn erst gedrosselt und ab 7. Januar gänzlich eingestellt. Die Versorgung Westeuropas mit russischem Gas, die zu 80 Prozent über die Ukraine erfolgt, wurde dadurch erheblich beeinträchtigt. Dank der vorhandenen Speicher sowie vermehrter Gasflüsse aus Norwegen und Holland sowie über die durch Polen führende zweite Pipeline-Verbindung mit Rußland gelang es jedoch, die Lieferausfälle innerhalb des Gasbinnenmarktes auszugleichen. In Deutschland mußten die Gasversorger in noch stärkerem Maße als saisonüblich ihre Speicher anzapfen, um die ausbleibenden russischen Einspeisungen zu kompensieren und Ersatzlieferungen an die betroffenen EU-Länder sowie an Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina durchführen zu können. Am stärksten litt Bulgarien unter dem Lieferstopp, da es über keine Pipeline-Verbindung mit Westeuropa verfügt. Insgesamt waren die russischen Gaslieferungen für europäische Abnehmer 13 Tage lang unterbrochen. Sie wurden erst am 19. Januar wieder aufgenommen, und erst am 21. Januar stand das Gas an allen Grenzübergangsstellen wieder uneingeschränkt zur Verfügung.
Das neue Gaslieferabkommen, das schließlich am 19. Januar zustande kam, soll zehn Jahre gelten. Unklar ist aber, ob die Ukraine die nun vereinbarten höheren Preise tatsächlich bezahlen kann und bezahlen wird. Die ehemalige Sowjetrepublik steht am Rande des Bankrotts, und dem Großteil ihrer Bevölkerung ergeht es nicht viel anders. Dem Staatsunternehmen Naftogaz fehlen sogar die Mittel, um das marode Pipeline-Netz zu sanieren. Schon bisher wird die Gasabgabe an Privatverbraucher subventioniert. Nach Angaben von Regierungschefin Timoschenko wird aufgrund des neuen Abkommens der Preis für tausend Kubikmeter Gas allein im laufenden Jahr von bisher 179,5 Dollar auf 228,8 Dollar steigen. Dennoch will sie die Gaspreise zumindest für die Haushalte nicht erhöhen.
Es handelte sich bereits um den sechsten Gaskonflikt binnen drei Jahren, mit dem der russische Staatsmonopolist Gazprom die Ukraine unter Druck setzte, um höhere Gaspreise, die Begleichung von Schulden und politische Ziele zu erreichen. Im Unterschied zu den vorangegangenen Streitigkeiten im Januar 2006 (060101), im Oktober 2007 (071011), im Dezember 2007 (071210), im Februar 2008 (080215) und im März 2008 (080313) war die Auseinandersetzung dieses Mal aber viel härter. Auch scheint die Ausweitung des Konflikts bis hin zu einer Gefährdung der westeuropäischen Gasversorgung auf beiden Seiten von vornherein einkalkuliert worden zu sein.
Für Rußland sind die Gaslieferungen seit jeher auch ein politisches Instrument zur Einflußnahme auf die unabhängig gewordenen Länder der ehemaligen Sowjetunion. Zur russischen Gereiztheit trug vor allem ein Abkommen über strategische Partnerschaft mit den USA bei, das die Ukraine im Dezember unterzeichnete. Der Vertrag wird in Moskau als Ersatz bzw. Vorstufe für den NATO-Beitritt des Landes gesehen, mit dem der nunmehr aus dem Amt geschiedene US-Präsident Bush am Widerstand der europäischen Bündnispartner gescheitert war.
Im Verlauf des Konflikts versuchten beide Seiten, dem jeweiligen Kontrahenten die Alleinschuld an der Zuspitzung geben zu können. Am Ende kam dann auch nicht viel anderes heraus als das, worauf man sich im Herbst 2008 schon grundsätzlich verständigt hatte – mit dem Unterschied, daß inzwischen das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der russischen Gaslieferungen in Westeuropa tiefgreifend beschädigt und auch sonst viel politisches Porzellan zerschlagen worden war.
Um geringeren Druck und schwankende Einspeisungen in den Leitungen auszugleichen, mußte die Ukraine ihre Verdichterstationen hochfahren – das Bild zeigt die Kompressorstation Dolyna – und mehr "technisches Gas" als sonst aus den russischen Lieferungen abzweigen. Obwohl sie dazu grundsätzlich berechtigt war und dieses technische Gas separat verrechnet wird, sprach Gazprom von "Gasdiebstahl". Pressefoto Naftogaz |
Zuletzt hatten sich Rußland und die Ukraine auf einen Preis von 179,5 Dollar pro tausend Kubikmeter Erdgas geeinigt (080215). Dieses Abkommen lief zum Jahresende aus. Am 2. Oktober 2008 vereinbarten deshalb die ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und der russische Premier Wladimir Putin ein Memorandum mit den Grundzügen einer neuen Vereinbarung. Es sah vor, den Preis für die russischen Gaslieferungen an die Ukraine binnen drei Jahren auf das international übliche Niveau anzuheben. Ab dem neuen Jahr wollte die Ukraine 235 Dollar bezahlen, während der Kreml zunächst noch auf 250 Dollar bestand. Zugleich bekräftigten beide Seiten ein weiteres Mal die Absicht, den dubiosen Zwischenhändler RosUkrEnergo endlich auszuschalten (080313).
Die anschließenden Verhandlungen scheiterten dann aus noch immer unklaren Gründen, wobei ein entscheidender Faktor das tiefgreifende Zerwürfnis innerhalb der ukrainischen Regierung gewesen sein dürfte: Ministerpräsidentin Timoschenko und der Staatspräsident Juschtschenko sind sich nicht nur spinnefeind, sondern versuchen bei jeder Gelegenheit, sich wechselseitig Erfolge abzujagen und Mißerfolge zuzuschieben. Das Timoschenko-Lager unterstellte Juschtschenko, mit dem bisherigen Zwischenhändler RosUkrEnergo liiert zu sein, dessen Gewinne, soweit sie nicht direkt Gazprom zufließen, in dunklen Kanälen versickern und der Schmierung Kreml-freundlicher Kreise in der Ukraine dienen. Nach Ansicht von Timoschenko haben diese Kreise ihre Geldquellen in Gefahr gesehen und deshalb alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die zwischen ihr und Putin ausgehandelte Vereinbarung doch noch zu torpedieren.
Eher vordergründiger Anlaß für das Scheitern der Verhandlungen war, daß die Ukraine ihre für das Jahr 2008 aufgelaufenen Gasschulden von drei Milliarden Dollar nicht in voller Höhe bezahlen konnte und im Gegenzug eine Erhöhung der Transitgebühren verlangte: Anstelle von bisher 1,6 Dollar pro tausend Kubikmeter auf hundert Kilometer Distanz sollte Gazprom nun zwei Dollar bezahlen. Die Russen lehnten dies ab und beriefen sich auf die im Januar 2006 vereinbarten Transitbestimmungen, die den Preis von 1,6 Dollar bis 2010 garantieren. Die Ukraine fühlte sich indessen an diese Bestimmung nicht gebunden, die Ministerpräsidentin Timoschenko schon früher als "illegal" kritisierte. Sie konnte sich dabei auf das Urteil eines Kiewer Gerichts berufen, das Anfang Januar diese Vereinbarung für rechtsfehlerhaft und deshalb für ungültig erklärt hatte.
Gasfluß Rußland – Ukraine |
Gasfluß Ukraine – Westeuropa |
Am 1. Januar sperrte Rußland zwei der sechs Pipelines in die Ukraine. Die Gesamtmenge der Gaslieferungen sank dadurch um rund 100 Millionen Kubikmeter täglich. Die restlichen vier Pipelines speisten aber nicht kontinuierlich, sondern wechselnde Mengen ein, was den Regelungsbedarf der Ukraine zusätzlich erhöhte. Vier Tage später drehte Gazprom den Gashahn immer mehr zu. Am 6. Januar war nur noch eine Pipeline in Betrieb. Ab dem 7. Januar kamen überhaupt keine Lieferungen mehr. Die Ukraine machte daraufhin sämtliche fünf Leitungen nach Westen und die nach Moldawien dicht, um die inländische Versorgung sicherstellen zu können. |
Die heiße Phase des Konflikts begann am 1. Januar, als Gazprom die Gaslieferungen an und durch die Ukraine um jene Menge kürzte, die für die inländische Versorgung gedacht war (die Ukraine deckt etwa ein Viertel ihres Gasbedarfs aus Eigenförderung). Zugleich erhöhte Gazprom-Chef Alexey Miller die Preisforderung für künftige Lieferungen von 250 auf 418 und schließlich sogar auf 450 Dollar.
Nach ukrainischen Angaben kamen durch die sechs Pipelines, die das russische Gas in das Röhrensystem der Ukraine einspeisen, am 31. Dezember 2008 noch 409 Millionen Kubikmeter. Zugleich seien über die sechs Pipeline-Verbindungen nach Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien und Moldawien insgesamt 319 Millionen Kubikmeter zu den ausländischen Abnehmern geflossen. Am 1. Januar habe Rußland dann zwei der sechs Pipelines gesperrt (Sudja 1200 und Sokhranovka). Die Einspeisungen aus den vier anderen Pipelines seien teils verringert und teils erhöht worden. Bis zum 4. Januar habe sich so mit kleineren Schwankungen ein Rückgang der Gesamteinspeisung auf täglich rund 300 Millionen Kubikmeter ergeben. Um trotz der starken Einspeisungsschwankungen den Netzbetrieb aufrechtzuerhalten zu können, sei man genötigt gewesen, den russischen Lieferungen täglich 21 Millionen Kubikmeter Gas zu entnehmen (normalerweise sind für den Betrieb aller ukrainischen Gasverdichterstationen täglich nur etwa neun Millionen Kubikmeter erforderlich). So erkläre sich auch die Diskrepanz zwischen den russischen Einspeisungen und den Mengen, die im Westen der Ukraine an die ausländischen Gasabnehmer weitergereicht wurden.
Nach Ansicht von Fachleuten ist es grundsätzlich plausibel, daß die diskontinuierliche russische Einspeisung einen höheren Bedarf an "technischem Gas" erforderte. Möglicherweise hat Gazprom diesen Effekt sogar beabsichtigt, um die Ukraine des "Gasdiebstahls" bezichtigen zu können oder sie ersatzweise zur Anzapfung ihrer eigenen Vorräte zu nötigen. Ob der Mehrbedarf allerdings tatsächlich in dieser Höhe anfiel, muß wiederum mit einem Fragezeichen versehen werden. Es wäre durchaus möglich, daß die Ukraine beiläufig doch einiges für den eigenen Bedarf abgezweigt hat, wie dies schon früher der Fall gewesen ist.
"Ich kenne keine Fakten, die darauf hinweisen, daß die Ukraine unerlaubt Gas abgezweigt hat", sagte EU-Energiekommissar Andris Piebalgs (links) am 20. Januar auf einer Pressekonferenz, die er zum Abschluß eines Kurzbesuchs in Kiew gemeinsam mit der Regierungschefin Julia Timoschenko veranstaltete. Pressefoto Reg. UA |
Die von der ukrainischen Naftogaz vorgenommene Gas-Entnahme für "technische Zwecke" diente den Russen jedenfalls als Anlaß oder Vorwand, um den Vorwurf des "Gasdiebstahls" zu erheben und vom 5. bis zum 7. Januar sukzessive sämtliche Gaslieferungen in Richtung Ukraine zu sperren. Nach russischer Ansicht war der betrieblich bedingte Gasverbrauch mit den Transitkosten abgegolten und hätte Naftogaz deshalb den Betrieb der Gasverdichterstationen aus eigenen Reserven bestreiten müssen.
Wegen des nunmehr immer schwächer werdenden Gasflusses war auch die Gasversorgung der Slowakei, Ungarns und anderer EU-Staaten zunehmend von der Auseinandersetzung betroffen. In Brüssel hatte man bis dahin versucht, die Auseinandersetzung als Konflikt zwischen den beiden Handelspartnern Gazprom und Naftogaz zu betrachten. Nun mußte auch die EU ihre politische Zurückhaltung aufgeben. Energiekommissar Piebalgs und der Europäische Erdgasverband (Eurogas) veröffentlichten am 6. Januar eine gemeinsame Erklärung, in der sie von Rußland und der Ukraine "eine sofortige Wiederaufnahme der Erdgaslieferungen nach Europa" verlangten.
Nach ukrainischen Angaben sank am 7. Januar um 7.45 Uhr Ortszeit auf der letzten noch liefernden Pipeline aus Rußland (Sudja 1400) der Gasdruck auf Null. An den Westgrenzen sei das Gas dagegen noch bis 10 Uhr in Richtung EU geflossen. Erst dann habe man dort dicht gemacht.
Wenn diese Darstellung stimmt - und es spricht einiges dafür - war es ein vollendetes politisches Schmierentheater, was die Kreml-Führung sieben Stunden später im russischen Fernsehen aufführte: Premier Putin empfing vor der Kamera zunächst den Leiter der russischen Zollbehörde. Dieser berichtete, seine Behörde habe die Gazprom abgemahnt, weil sie ihr Gas ohne gültigen Vertrag der Ukraine überlassen habe, was nach dem Gesetz so etwas wie Schmuggel sei. Anschließend tauchte Gazprom-Chef Miller vor der Kamera auf. Er bestätigte, daß die Ukraine das eingespeiste Gas nicht weiterleite, und schlug vor, die Gaszufuhr komplett zu sperren, um weiteren "Diebstahl" zu unterbinden. Putin blickte daraufhin auf seine Armbanduhr und erklärte: "Es ist jetzt 15.45 Uhr und Gazprom liefert immer noch. Ich bin mit dem Stopp der Lieferungen einverstanden – wir sollten das in aller Öffentlichkeit tun."
Diese mediale Inszenierung war an sich schon unglaubwürdig, indem sie vortäuschte, den Zuschauer an einer politischen Entscheidung teilhaben zu lassen. Geradezu lachhaft war auch die Rolle, die dabei die Zollbehörde übernahm, um so etwas wie eine rechtliche Begründung dafür zu liefern, daß der Kreml nunmehr offiziell aus den Kulissen trat. Der Gipfel der Dreistigkeit war aber, wie hier sieben Stunden nach dem Lieferstopp eine Entscheidung des Kremlchefs simuliert wurde, die tatsächlich längst gefallen und exekutiert worden war.
Weil die Ukraine neben ihrer Unterschrift auf eine beigefügte
Erklärung verwies, wollte Rußland die Gültigkeit der Übereinkunft
zur Entsendung von Beobachtern an die Meßstationen nicht anerkennen. |
Am 8. Januar traf eine Gazprom-Delegation unter Leitung von Alexey Miller in Brüssel ein. In den Verhandlungen mit Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso, Energiekommissar Andris Piebalgs und EU-Parlamentspräsident Hans-Gert Poettering sowie dem ukrainischen Naftogaz-Chef Oleg Dubin einigte man sich bis zum Abend auf die Einsetzung einer gemischten Beobachter-Kommission, die an den Ein- und Ausspeisepunkten des ukrainischen Netzes sowie den unterirdischen Gasspeichern des Landes die Gasflüsse kontrollieren sollte. Gazprom stellte die unverzügliche Aufnahme der Lieferungen in Aussicht, wenn die Beobachter an den insgesamt elf vorgesehenen Kontrollpunkten (siehe Karte) eingetroffen sein sollten.
Schon wenige Stunden später wurde die Einigung dann aber von der Ukraine wieder in Frage gestellt, weil diese es als Zumutung empfand, ihre Meßstationen einseitig durch die russischen Teilnehmer der Beobachter-Gruppe inspizieren zu lassen. In erneuten Verhandlungen einigte man sich schließlich in der Nacht zum 11. Januar darauf, auch Vertreter der Ukraine in die Beobachter-Kommission aufzunehmen und ihnen den Zutritt zu den russische Meßstationen zu ermöglichen.
Nun weigerte sich aber Rußland, die Gültigkeit der Vereinbarung anzuerkennen, weil der stellvertretende ukrainische Ministerpräsident Nemija neben seiner Unterschrift in Klammern auf eine beigefügte Erklärung verwiesen hatte, in der die Ukraine unter anderem Wert auf die Feststellung legte, niemals russisches Gas gestohlen zu haben. Es half auch nichts, daß die EU-Kommission diese einseitige Erklärung als belanglos für die Abmachungen bezeichnete. Erst nachdem die Ukraine den Vermerk entfernt hatte, kündigte Rußland am 12. Januar an, die Gaslieferungen am kommenden Tag wieder aufzunehmen.
Nach eigenen Angaben begann Gazprom am 13. Januar um acht Uhr damit, wieder Gas in Richtung Ukraine einzuspeisen. Es handelte sich aber nur um 76,6 Millionen Kubikmeter täglich, von denen 62,7 Millionen über die Meßstation Orlowska an die Balkanstaaten und der Rest von 13,9 Millionen nach Moldawien weitergeleitet werden sollten (siehe Karte). Die Lieferungen waren aber nicht mit der ukrainischen Naftogaz abgesprochen, sondern nur einseitig per Fax angekündigt worden, noch bevor die internationalen Beobachter ihre Positionen bezogen hatten. Dasselbe galt für 22,2 Millionen Kubikmeter Gas, die Gazprom am selben Tag über die Haupttransitstrecke von Sudja nach Uzhgorod in die Slowakei durchgeleitet haben wollte (siehe Karte). Die ukrainische Naftogaz wies beide Durchleitungsbegehren zurück, weil sie technisch undurchführbar und nicht mit ihr abgesprochen worden seien.
In der Tat schien es der russischen Seite nicht so sehr um die tatsächliche Wiederaufnahme der Lieferungen zu gehen als um den erneuten Versuch, die Ukraine als unzuverlässig oder zumindest als technisch inkompetent darzustellen. "Wenn russisches Gas in das ukrainische System eingespeist wird, muß genausoviel an der westlichen Grenze herauskommen", behauptete Gazprom-Sprecher Sergey Kupriyanov. Faktisch mutete er damit der Ukraine zu, den erhöhten Bedarf an "technischem Gas" zum Betrieb der Verdichterstationen für den Transit aus ihren eigenen Vorräten bzw. der eigenen Förderung zu bestreiten. Es war von vornherein absehbar, daß die Ukraine diesen Angriff auf ihre eigenen knappen Reserven nicht akzeptieren würde. Wie sich später herausstellte, war sie auch schon immer berechtigt, das benötigte "technische Gas" von den russischen Lieferungen abzuzweigen und zu einem günstigeren Preis als die normalen Bezüge zu verrechnen.
An den beiden folgenden Tagen wiederholte Gazprom die Aufforderung an die Ukraine zur Durchleitung der genannten Teilmengen über die erwähnten Verbindungen. Die Naftogaz reagierte darauf am 16. Januar, indem sie Gazprom eine fortwährende Verdrehung der Tatsachen und Manipulierung der öffentlichen Meinung vorwarf: Das ukrainische Gastransportsystem sei aus den bekannten Gründen gegenwärtig nur für die inländische Versorgung eingerichtet. Solche Teillieferungen, wie sie jetzt von Gazprom verlangt wurden, könnten deshalb nicht akzeptiert werden. Jede Art von Durchleitung sei erst dann möglich, wenn sich beide Seiten dauerhaft über die dafür notwendigen technischen Modalitäten geeinigt hätten.
Die EU-Kommission zeigte sich unterdessen zunehmend besorgt und ungehalten über das Ausbleiben der russischen Gaslieferungen, wobei sie Moskau zumindest ebensoviel Schuld gab wie Kiew. Am 16. Januar drohte sie damit, ihre Beziehungen mit beiden Staaten "Stück für Stück durchzusehen" und in jedem Einzelfall zu prüfen, ob es noch möglich sei, mit dem Tagesgeschäft fortzufahren. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel lehnte "einseitige Schuldzuweisungen" ab und forderte Kremlchef Putin bei einem Treffen in Berlin zum Einlenken auf.
Die russische Regierung lud nunmehr die vom Gasstreit betroffenen Staaten für den 17. Januar zu einem Treffen nach Moskau ein. Hauptakteure des Gipfels waren naturgemäß die beiden Regierungschefs Putin und Timoschenko. Der ukrainische Staatspräsident Juschtschenko schien seiner Gegenspielerin diese Rolle aber von vornherein nicht zu gönnen. Er unterstellte ihr Nachgiebigkeit gegenüber den russischen Forderungen und lud zu einem separaten Gipfel in Kiew ein, was aber bedeutungslos blieb.
Nach langen Verhandlungen einigten sich Putin und Timoschenko am Morgen des 18. Januar auf ein neues Abkommen für die Erdgaslieferungen an die Ukraine und wiesen ihre nationalen Gaskonzerne an, die Vereinbarung bis zum folgenden Tag unterschriftsreif zu machen. Demnach zahlt die Ukraine künftig grundsätzlich denselben Preis für das russische Erdgas wie die EU-Länder. Für das laufende Jahr wird aber ein Abschlag von zwanzig Prozent gewährt. Ab 2010 muß sie dann zwar den vollen Preis bezahlen, darf aber auch ihre Transitgebühren auf "europäisches Niveau" anheben. Die Abmachung soll für zehn Jahre Bestand haben. Zugleich sollen damit alle noch offenen Ansprüche aus dem bisherigen Gasstreit erledigt sein.
Vorläufig blieb unklar, welchen Gaspreis die Ukraine damit für 2009 tatsächlich zu zahlen hat. Timoschenko wies jedoch anfängliche Vermutungen zurück, der Preise werde nun bis zu 375 Dollar für tausend Kubikmeter betragen. In Wirklichkeit würden es weniger als 250 Dollar sein. Am 21. Januar erklärte sie dann, daß der Preis für die ukrainischen Abnehmer exakt 228,8 Dollar betrage.
Bestandteil der Vereinbarung ist erneut die Ausschaltung des Zwischenhändlers RosUkrEnergo, die schon zweimal vereinbart worden war, ohne daß es dazu tatsächlich kam. Diese Firma gehört zur Hälfte Gazprom. Den Rest hält eine Centragas Holding AG, die treuhänderisch durch die österreichische Raiffeisenbank vertreten wird. Wie man inzwischen weiß, gehört diese Centragas den beiden ukrainischen Geschäftsleuten Dmitri Firtash (45 Prozent) und Ivan Fursin (5 Prozent). Vermutlich sind beide aber nur Strohmänner, die nicht frei über ihre Einkünfte aus dem Unternehmen verfügen können, sondern damit bestimmte Verpflichtungen zu erfüllen haben. Ihren Sitz hat die Firma in der Schweizer Gemeinde Zug, die als Steuerparadies berüchtigt ist und und in der die Gazprom auch ihre "Nord Stream" für den Bau der Ostsee-Pipeline residieren läßt.
Sowohl bei der Gründung im Juli 2004 als auch bei der weiteren Geschäftstätigkeit erfreute sich RosUkrEnergo der Protektion durch russische und ukrainische Regierungskreise. Die Firma begann ihre Geschäftstätigkeit im Januar 2005 mit Gas aus Turkmenistan und Kasachstan, das sie an die Naftogaz verkaufte. Im Juli 2005 übernahm sie den Inhalt eines Gasspeichers in der Ukraine, über dessen Bezahlung sich Gazprom und Naftogaz nicht einigen konnten. Im Januar 2006 wurde sie dann auf Betreiben von Gazprom sogar zum Zwischenhändler für sämtliche Gaslieferungen an die Ukraine gemacht (060101) und gründete mit der Naftogaz ein Gemeinschaftsunternehmen namens UkrGazEnergo, das in der Ukraine den Gasvertrieb an Endkunden übernahm. Die Gazprom dürfte dabei langfristig das Ziel verfolgt haben, den Zugriff auf das ukrainische Gasnetz durch die Hintertür eines russisch-ukrainischen Gemeinschaftsunternehmens zu erhalten, das aus seinen Gewinnen zugleich die dafür notwendige politische "Landschaftspflege" in der Ukraine betreiben konnte. Zu den direkten oder indirekten Nutznießern des Geldsegens sollen neben der kremlfreundlichen "Partei der Regionen" auch Einzelpersonen bis hin zu Präsident Juschtschenko gehört haben. Dieser Ansicht war jedenfalls die Ministerpräsidentin Timoschenko, die hinter RosUkrEnergo seit jeher nichts als Korruption witterte und bereits im Februar 2008 in Moskau auf die Ausschaltung der Zwischenhändler drängte (080215). Einen Monat später schrieben Gazprom und Naftogaz die Ausschaltung der beiden Zwischenhändler nochmals ausdrücklich in einer Vereinbarung zur Beilegung ihres Gassstreits fest (080313). Dazu kam es dann aber offensichtlich doch nicht. Noch zu Beginn der jetzigen Auseinandersetzung firmierte nicht Gazprom, sondern RosUkrEnergo offiziell als Geschäftspartner der Naftogaz. Das Unternehmen enthielt sich aber jeglicher Stellungnahme und überließ die Auseinandersetzung von Anfang an der Gazprom, bis Kremlchef Putin ganz offiziell die Sache in die Hand nahm und nebenbei erkennen ließ, daß auch er auf die Dienste des dubiosen Zwischenhändlers künftig verzichten wolle.
Schematische Darstellung des ukrainischen Gastransportnetzes, die von der russischen Gazprom veröffentlicht wurde, nachdem die ukrainische Naftogaz es abgelehnt hatte, die am 13. Januar verlangten Durchleitungen vom Einspeisepunkt Sudja nach Westen zur Slowakei (orangefarbene Linie) und nach Südwesten in Richtung Bulgarien/Moldawien (rote Linie) durchzuführen. Die lilafarbenen Punkte markieren die Meßstationen an der östlichen und westlichen Grenze der Ukraine, die aufgrund einer Vereinbarung mit der EU von unabhängigen Beobachtern kontrolliert werden sollten. |
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Diese Karte veröffentlichte die ukrainische Naftogaz, um den Rückgang der russischen Einspeisungen und Transitlieferungen nach Westeuropa und Moldawien zwischen 31. Dezember 2008 und 1. Januar 2009 zu dokumentieren. Sie läßt erkennen, daß die großen Transportleitungen aus zwei bis drei Pipelines bestehen. Das ukrainische Gastransitsystem (GTS) umfaßt etwa 36.500 Kilometer Gaspipelines, 71 Kompressorstationen, 13 unterirdische Speicher mit einem Nutzungsvolumen von 32,5 Milliarden Kubikmeter und 1.405 Gasverteilerstationen. Netzbetreiber ist das Staatsunternehmen UkrTransGaz, eine Tochter der Naftogaz (zur Vergrößerung Karte anklicken). |