Mai 2007 |
070513 |
ENERGIE-CHRONIK |
In den rund 440 Kernkraftwerken, die derzeit weltweit in Betrieb sind, ereignen sich Jahr für Jahr viele Störungen, "die entweder gänzlich an der breiten Öffentlichkeit vorbeigehen oder erheblich unterbewertet werden, wenn es um ihr Risikopotential geht". Zu diesem Schluß gelangt eine Studie, die am 9. Mai von den Grünen im Europäischen Parlament vorgestellt wurde. Die International Nuclear Event Scale der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEO) in Wien (INES-Skala) wird in der Studie als ein unzuverlässiges Instrument zur Einschätzung der mit dem Betrieb von Kernkraftwerken verbundenen Risiken bezeichnet. Tatsächlich gebe es bisher "einfach keine allgemeingültigen Kriterien, um Frequenz und Schwere von Ereignissen in Atomanlagen in verschiedenen Ländern zu vergleichen".
Die Unzuverlässigkeit der INES-Ereignisskala ergibt sich demnach schon daraus, daß die USA, die mit 103 Anlagen mit Abstand die meisten Kernkraftwerke betreiben (siehe Grafik), seit der Einführung von INES 199 nur 22 Ereignisse an die IAEA weitergeleitet hätten, darunter sechs der Stufe 0, sieben der Stufe1, fünf der Stufe 2 und eines der Stufe 3. Dagegen habe Deutschland, das nur 17 Anlagen betreibt, im selben Zeitraum 2.200 Ereignisse der Stufe 0 gemeldet, während 72 Ereignisse der Stufe 1 oder höher zugeordnet wurden. Der Grund dafür sei sicher nicht in einer höheren Störanfälligkeit der deutschen Anlagen zu suchen, sondern im unterschiedlichen Meldeverhalten der national zuständigen Behörden und ihrer unterschiedlichen Bewertung der jeweiligen Relevanz der Ereignisse nach der INES-Skala.
Die Studie "Restrisiko – Ereignisse in Atomkraftwerken seit dem Tschernobyl Unfall 1986" wurde im Auftrag der EP-Fraktion der Grünen unter Leitung von Mycle Schneider (Frankreich) von sieben Experten der Union of Concerned Scientists (USA), des Öko-Instituts (Deutschland), dem Institut für Risikoforschung (Österreich) erstellt. Ihre öffentliche Vorstellung erfolgte aus Anlaß einer im Europäischen Parlament stattfindenden Debatte zum 50jährigen Bestehen des Euratom-Vertrags.
Das Projektteam hat 16 Ereignisse aus neun Ländern ausgesucht, um zu zeigen, "daß die Sicherheit von Atomkraftwerken weit von der Perfektion entfernt bleibt". Die sicherheitsrelevanten Ereignisse betreffen Materialverschleiß, Kühlmittellecks, Reaktivitätsrisiken, Brennstoffschäden sowie andere Risiken wie Explosionen, Stromausfall oder Naturereignisse. Neben weniger oder gar nicht bekannt gewordenen Störfällen befinden sich darunter Vorkommnisse in den Kernkraftwerken Philippsburg (011001), Brunsbüttel (020215), Forsmark (060807) und Blayais (000121).
In Block 1 des Kernkraftwerks Philippsburg waren zwei Ventile in der Personenschleuse des Sicherheitsbehälters fälschlicherweise gleichzeitig geöffnet. Wie die Energie Baden-Württemberg am 9. Mai mitteilte, stufte sie das Vorkommnis als meldepflichtig ein und ordnete es vorläufig der Kategorie E (Eilmeldung) und INES 1 zu (Abweichung von den zulässigen Bereichen für den sicheren Betrieb der Anlage). Block 1 hatte soeben die Jahresrevision hinter sich und war am 3. Mai wieder ans Netz gegangen.
Im Kernkraftwerk Brunsbüttel sind 22 von insgesamt 36 Dübeln eines bestimmten
Typs im Nachkühlsystem der Anlage nicht richtig angebracht worden. Wie der Betreiber
Vattenfall am 10. Mai mitteilte, stellte sich dies bei Inspektionen heraus, die im
Rahmen der jährlichen Revision durchgeführt wurden. Die Dübel sollen
die Rohrleitungen in extremen Situationen wie im Falle eines Erdbebens sichern. Wegen
Dübeln dieses Typs, die falsch montiert worden waren, wurde im Oktober 2006 der
Block A des Kernkraftwerks Biblis stillgelegt (061006).