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Die deutschen Gasunternehmen verfügten bis 1998 über geschlossene Versorgungsgebiete. Diese Gebietsmonopole ergaben sich aus dem Besitz der Gasleitungen. Die Verlegung konkurrierender Leitungen war in aller Regel nicht möglich oder zumindest nicht erwünscht. Man betrachtete Gas- und Stromnetze deshalb als "natürliche Monopole".
Zusätzlich zum faktischen Gebietsmonopol, das sich aus dem Besitz der Leitungen ergab, war es den Gasunternehmen gestattet, ihre geschäftlichen Interessensphären durch sogenannte Demarkationsverträge voneinander abzugrenzen. Davon machten vor allem die Ferngasunternehmen Gebrauch, die das Erdgas von den Einspeisepunkten zu den örtlichen Verteilern sowie zu eigenen Endkunden transportierten.
Das "Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen" (GWB) erlaubte in § 103 solche geschlossenen Versorgungsgebiete und Demarkationsverträge für den Bereich der Strom-, Gas- und Wasserversorgung. Ersatzweise unterlagen die Versorgungsunternehmen einer besonderen Mißbrauchsaufsicht durch die Kartellbehörden und mußten sich ihre Preise als "Tarife" amtlich genehmigen lassen.
Eine Nutzung der bestehenden Netze für die "Durchleitung" von Gas war zwar technisch möglich, aber ein Ausnahmefall. Vor allem mußte der Netzbetreiber einverstanden sein. Wenn er sich weigerte oder ein zu hohes Entgelt für die Dienstleistung verlangte, gab es praktisch keine rechtliche Handhabe, ihn zur Durchleitung zu zwingen. Zum Beispiel wollte das Bundeskartellamt 1992 einen Gasversorger verpflichten, einem anderen Lieferanten eine vier Kilometer lange Pipeline zur Versorgung einer Papierfabrik zur Verfügung zu stellen. Der Bundesgerichtshof entschied aber in höchster Instanz, daß der Netzbetreiber nicht gezwungen werden könne.
Das sollte nun alles anders werden. Ende 1997 einigte sich der EU-Ministerrat auf eine schrittweise Öffnung der Gasmärkte, nachdem er schon eineinhalb Jahre zuvor eine Richtlinie zur Liberalisierung der Strommärkte beschlossen hatte. Die Richtlinie trat nach Zustimmung durch das Europäische Parlament am 22. Juni 1998 in Kraft und sollte binnen zwei Jahren in allen Ländern der EU in nationales Recht umgesetzt werden.
Schon ein paar Wochen davor, am 29. April 1998, war in Deutschland ein neues Energierecht in Kraft getreten. Es bestand aus einem fünf Artikel umfassenden Gesetzespaket, dessen Kernstück der Artikel 1 mit dem "Gesetz über die Elektrizitäts- und Gasversorgung" war. Dieses Gesetz löste das aus dem Jahre 1935 stammende "Gesetz zur Förderung der Energiewirtschaft" ab und wurde wie dieses in der Kurzform als "Energiewirtschaftsgesetz - EnWG" bezeichnet. Das neue Energierecht sollte sowohl die seit 19. Dezember 1996 geltende Stromrichtlinie der EU umsetzen als auch die neue Gas-Richtlinie berücksichtigen, die dem Inhalt nach bereits bekannt war, obwohl sie erst sechs Wochen später Gültigkeit erlangte.
In Wirklichkeit fand sich von der neuen Gasrichtlinie im Gesetzestext so gut wie nichts. Zumindest nicht im neuen Energiewirtschaftsgesetz. Die einzige für die Gaswirtschaft relevante Änderung ergab sich aus Artikel 2 des Pakets, der die Geltung des § 103 GWB für Elektrizität und Gas (nicht für Wasser) aufhob. Damit waren geschlossene Versorgungsgebiete und Demarkationsverträge auch in der Gaswirtschaft nicht mehr zulässig.
Damit änderte sich freilich noch nichts an der faktischen Verfassung der Gaswirtschaft, die durchweg monopolistisch und wettbewerbsfeindlich strukturiert war. Die Ruhrgas AG beherrschte den Großhandelsmarkt im Westen, die BASF/Gazprom in den neuen Bundesländern. Die beiden hatten sich Anfang der neunziger Jahre einen erbitterten "Gaskrieg" geliefert, bis die Ruhrgas den neuen Ferngasimporteur akzeptierte. Seitdem hatten sie aber das Kriegsbeil begraben und sich über ihre jeweiligen Einflußsphären geeinigt. Die Importeure und inländischen Förderer waren mit den Ferngasgesellschaften kapitalmäßig verflochten. Außerdem bestanden zwischen ausländischen Erdgas-Lieferanten, Importeuren, inländischen Förderern, Ferngasunternehmen und Ortsverteilern langfristige Lieferverträge.
Zu allem Überfluß bekam diese monopolistisch verfaßte Branche nun auch noch freie Hand bei der Festlegung der Gaspreise. Denn in Artikel 5 des Gesetzespakets wurde die Bundestarifordnung Gas ersatzlos aufgehoben. Dies bedeutete, daß die Gaspreise für die Endverbraucher nicht mehr der behördlichen Überprüfung und Genehmigung unterlagen. Für die Stromwirtschaft blieb dagegen die Bundestarifordnung Elektrizität bis auf weiteres unverändert gültig.
Generell war das neue Energierecht keine Glanzleistung. Im Bundespräsidialamt soll es sogar Bedenken hinsichtlich der juristischen Korrektheit von Teilen des Gesetzespakets gegeben haben, weshalb sich die Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten - normalerweise eine Formalität - um vier Wochen verzögerte.
Aus heutiger Sicht litt das Gesetzespaket vor allem darunter, daß das neue Energiewirtschaftsgesetz praktisch nur auf die Stromwirtschaft zugeschnitten war und auch in diesem Bereich voller Mängel steckte. Der größte Fehler bestand darin, die Konditionen der "Durchleitung" der freien Vereinbarung der Marktpartner überlassen zu wollen, statt diese Aufgabe von vornherein einer Regulierungsbehörde zu übertragen.
Eine Berücksichtigung der Gas-Richtlinie fand auch in den folgenden Jahren nicht statt, obwohl Deutschland verpflichtet gewesen wäre, die Richtlinie binnen zwei Jahren in nationales Recht umzusetzen. Die EU-Kommission leitete deshalb 2001 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesregierung ein.
Als dann im Frühjahr 2003 – fünf Jahre nach der formalen Liberalisierung des Gasmarktes – das Energiewirtschaftsgesetz endlich der Gasrichtlinie angepaßt wurde, geschah dies auf dieselbe mangelhafte Weise wie fünf Jahre zuvor bei der Stromrichtlinie. Inzwischen hätte man wissen können, daß es ein Unding war, die Konditionen des Netzzugangs der freien Vereinbarung der Marktpartner überlassen zu wollen. Denn auf dem Strommarkt war der kurzzeitig entstandene Wettbewerb bereits wieder zum Stillstand gekommen, weil die Netzbetreiber viel zu hohe Netzentgelte verlangen konnten. Die sogenannten Verbändevereinbarungen hatten sich für die etablierten Stromversorger als ideales Instrument zur Ausschaltung von Konkurrenten erwiesen.
Dennoch machte man nun denselben Fehler auch bei der Anpassung des Energiewirtschaftsgesetzes an die Gasrichtlinie. Obendrein bekräftigte die Novelle noch den deutschen Sonderweg des "verhandelten Netzzugangs", indem sie die Verbändevereinbarungen als "gute fachliche Praxis" anerkannte.
Wegen der hier skizzierten Mängel der Gesetzgebung änderte sich In der Praxis der deutschen Gaswirtschaft vorerst gar nichts. Die Ungültigkeit von Demarkationsverträgen und geschlossenen Versorgungsgebieten reichte nicht aus, um die herkömmlichen Strukturen aufzubrechen und für Wettbewerb zu sorgen. Die Liberalisierung des Jahres 1998 war deshalb kein "Urknall", der die Branche plötzlich verwandelt hätte. Sie war eher eine Platzpatrone, die mit ihrem lautem Knall nichts veränderte, sondern allenfalls den Eintritt in eine neue Ära signalisierte.