Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 hatte die Reaktion der gesamten demokratischen Presse in Baden und Mannheim den Garaus gemacht. Viele Demokraten büßten ihre Teilnahme am Aufstand mit langjährigem Kerker oder Tod. Noch mehr flüchteten vor den preußischen Standgerichten ins Ausland, in die Schweiz, nach Frankreich, England oder in die USA. Die Zurückgebliebenen ballten vorerst die Faust in der Tasche und hofften auf bessere Zeiten.
Einer dieser unentwegten Achtundvierziger war der junge Johann Schneider, den es aus Hessen über die Schweiz nach Mannheim verschlagen hatte. Schneider hatte dem Rebellen-Führer Zitz als Adjutant gedient. Mit den Resten der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee war er 1849 in die Schweiz übergetreten und hatte im Betrieb des Berner "Bund" das Druckerhandwerk erlernt. Anfang der fünfziger Jahre faßte er in Mannheim Fuß und errichtete in N 2, 9 eine kleine Druckerei. Am 1. August 1856 brachte der 29Jährige die erste Nummer des "Mannheimer Anzeiger" heraus.
Der "Mannheimer Anzeiger" war zunächst ein reines Anzeigenblatt. Politisches Profil konnte er erst gewinnen, nachdem die schlimmste Phase der Reaktion vorbei war. Auch dann blieb Meinungsäußerung nur in sehr engen Grenzen zulässig. Dies erklärt die zeitweilige, scheinbare Gemeinsamkeit jener Personen und Gruppierungen, die sich um die neugegründete Zeitung scharten: Im "Mannheimer Anzeiger" schrieben August Lamey, der spätere Nationalliberale, Heinrich von Feder, der spätere Führer der Demokraten, und Johann Peter Eichelsdörfer, der Vorsitzende des Mannheimer Arbeiterbildungsvereins.
Schneiders "Mannheimer Anzeiger" verkörperte die Anfänge einer neuen, nicht regierungshörigen Presse nach dem Kahlschlag der Konterrevolution. Um ihn schienen sich daher noch einmal alle jenen Kräfte zu scharen, die im Vormärz zur anti-feudalen Opposition im weitesten Sinne gehört hatten: Kleinbürgertum, Großbürgertum und der "vierte Stand" der Arbeiterschaft.
Diese scheinbare Eintracht dauerte freilich nicht mehr lange. Die "Fortschrittspartei", die sich im Frühjahr 1866 aus liberalen Abgeordneten der zweiten Kammer gebildet hatte, zerfiel schon 1868. Im März 1868 beschlossen Mannheimer Demokraten die Gründung einer eigenen Partei. Schon seit 1865 trug das Mannheimer "Deutsche Wochenblatt", das dem linksliberalen Teil der Fortschrittspartei als Forum diente, den Untertitel "Organ der deutschen Volkspartei". Am 20. September 1868 kam es dann in Stuttgart zur förmlichen Gründung der "Deutschen Volkspartei" als Sammelpartei der linksliberalen Kräfte in (Süd-)Deutschland. Den Vorsitz übernahm Leopold Sonnemann, Verleger der "Frankfurter Zeitung". Im Dezember desselben Jahres legte der rechte Flügel der ehemaligen Fortschrittspartei in Offenburg das Programm einer nationalliberalen Partei vor. In Mannheim konstituierte sich der "Preußenverein", wie ihn die Demokraten verächtlich nannten, am 1. Juni 1869.
Als die Räume in N 2, 9 zu klein wurden, verlegte Schneider seinen Betrieb Ende 1858 nach 0 3, 6, in die ehemalige Gastwirtschaft "Zum Vogelsang" an den Planken, die in den Revolutionstagen ein beliebter Treffpunkt der republikanischen "Sensenmänner" gewesen war. Im Hinterhaus wurde die mit Dampfmaschine betriebene Druckerei installiert.
Am 18. März 1866 verlieh Schneider seinem Blatt den neuen Titel "Neue Badische Landes-Zeitung". Dem Titel kam programmatische Bedeutung zu - mit Blick auf die "Badische Landes-Zeitung" in Karlsruhe, die das Organ der Regierungspartei war. Kurz darauf - ab 1. April 1866 - erschien die Zeitung zweimal täglich. Morgens um neun kam ein erstes Blatt mit vier Seiten heraus, abends um sechs ein zweites mit zwei Seiten. Auch am Montag, dem bisher zeitungsfreien Tag der Woche, erschien jetzt ein "Montagsblatt". Es wurde zwei Jahre später aufgrund eines Beschlusses des deutschen Buchdruckerverbandes wieder eingestellt. Die Zeitung hatte inzwischen eine Auflage von 5000 Exemplaren erreicht.
Ende Mai 1886 tilgte Schneider den Zusatz "Organ der Fortschrittspartei" aus dem Titel der Zeitung. Um dieselbe Zeit trat der Kammerabgeordnete Heinrich von Feder, der Mitarbeiter des Blattes war, aus der Fortschrittspartei aus. Die alte liberale Sammelbewegung zerfiel wenig später auch organisatorisch in die linksliberale "Deutsche Volkspartei" und die rechtsgerichtete "Nationalliberale Partei". Die "Neue Badische Landes-Zeitung" vertrat die Linie der Deutschen Volkspartei.
Bis 1864 redigierte Scheider sein Blatt allein. Für die Nachbarn war es ein vertrauter Anblick, ihn morgens bei Kerzenschein die Manuskripte druckfertig machen zu sehen. 1865 trat als zweiter Redakteur Johann Peter Eichelsdörfer ein, der beruflich und politisch aus ähnlichem Holz wie Schneider geschnitzt war. Eichelsdörfer führte unter anderem den Vorsitz im Mannheimer Arbeiterbildungsverein mit über 2000 Mitgliedern.
1866 überwarf sich Eichelsdörfer mit Schneider und schied zum 21. Juli aus der Redaktion wieder aus. Der gelernte Drucker tat es seinem ehemaligen Brotherrn gleich, eröffnete eine eigene Druckerei und brachte ab 1869 das Konkurrenzblatt "Mannheimer Abendzeitung" heraus. Zwischendurch veröffentlichte er im Auftrag des Ausschusses deutscher Arbeitervereine, dessen Vorstand er angehörte, die "Deutsche Arbeiterhalle".
Der Zeitpunkt von Eichelsdörfers Austritt aus der Redaktion läßt Rückschlüsse auf politische Meinungsverschiedenheiten zu: "Preußen wird sich wohl zweimal besinnen, ehe es die Losung zum Brudermord ausgibt", hatte die "Neue Badische Landes-Zeitung" im März des Jahres geschrieben. Am 3. Juli hatten jedoch die Preußen bei Königgrätz über die Österreicher gesiegt. Damit war eine neue Situation entstanden, die auch innerhalb der Redaktion diskutiert worden sein dürfte. Jedenfalls schlug die "Mannheimer Abendzeitung", die Eichelsdörfer später herausgab, in der deutschen wie in anderen Fragen einen radikaleren Ton an als die "Neue Badische Landes-Zeitung".
Die Folgen des preußischen Siegs sollte Schneider noch am eigenen Leib verspüren: Im März 1868 wurde die "Neue Badische Landes-Zeitung" von den Preußen in Frankfurt verboten. Anlaß war ein Artikel, in dem republikanische Forderungen erhoben worden waren. Aufgrund desselben Artikels wurde Schneider in Baden zu drei Monaten Festungshaft und 300 Gulden Buße verurteilt.
Am 6. Juli 1868 trat Schneider seine Festungshaft in Rastatt an. Am gleichen Tag übernahm Eichelsdörfer wieder die Redaktion der "Neuen Badischen Landes-Zeitung". Ab 14. Dezember zeichnete Dr. Joseph Stern von der Berliner "Zukunft" als verantwortlicher Redakteur.
Sowohl Schneider wie Eichelsdörfer müssen sich allmählich in der Rolle des Don Quichote gefühlt haben, der erfolglos gegen Windmühlenflügel kämpft: Die kleindeutsch-reaktionäre "Einigung von oben", die sie so erbittert ablehnten, schritt mit aktiver Beteiligung des Bürgertums zügig voran. Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 lähmte die demokratische Opposition gegen Preußen und führte zum zeitweiligen Burgfrieden mit den Nationalliberalen. Gemeinsamkeit lautete die Parole.
Unter diesen Umständen scheint Schneider resigniert zu haben. Auch private Gründe veranlaßten ihn, die "Neue Badische Landes-Zeitung" gegen Endes des Jahres 1870 einem Konsortium von Aktionären aus der demokratischen Partei zu übertragen. Die Kaufsumme betrug 107 000 Gulden. Mit Beginn des Jahres 1871 ging die Zeitung, die inzwischen eine Auflage von 8500 Exemplaren erreicht hatte, in Besitz der neugebildeten "Mannheimer Vereinsdruckerei AG" über. Als Verwaltungsräte der Aktiengesellschaft traten der Gastwirt Beauval, der Bankier Kahn, der Anwalt von Feder und der Buchhändler Sigmund Bensheimer in Erscheinung.
Dasselbe Konsortium kaufte Eichelsdörfers "Mannheimer Abendzeitung" auf und stellte das Blatt ein. Eichelsdörfer kehrte als zweiter Redakteur zur "Neuen Badischen Landes-Zeitung" zurück. Erster Redakteur blieb Joseph Stern. Als Stern 1872 ausschied, ersetzte ihn Karl Volckhausen, der frühere Chefredakteur der "Frankfurter Zeitung".
"Die Einigung Deutschlands, wie sie sich jetzt vollzieht, vollzieht sich nicht in der von uns gewünschten Weise", konstatierte die "Neue Badische Landes-Zeitung" nach dem Sieg über Frankreich. Der neue Chefredakteur Volckhausen schrieb unbeirrt: "Die Zukunft gehört der Republik." Auch später fehlte die "Neue Badische Landes-Zeitung" am Sedanstag oder bei Kaisers Geburtstag im Jubelchor der bürgerlichen Presse.
Nach Volckhausens Weggang 1875 übernahm Eichelsdörfer die Stelle des leitenden Redakteurs. Als Bismarck mit Unterstützung der Nationalliberalen das Sozialistengesetz erließ, sah Eichelsdörfer darin eine Ausgeburt des "im schneidendsten Widerspruch zum Geist aller modernen Anschauungen stehenden Phönix der Reaktion". Ebenso verschmähte es die "Neue Badische Landes-Zeitung", sich an Bismarcks "Kulturkampf" gegen die katholische Kirche zu beteiligen, den sie als pseudo-liberalen Wechselbalg einer reaktionären Politik erkannte.
Unter der scheinbar intakten Oberfläche des Linksliberalismus bröckelte es jedoch bereits. So erregte es damals in Zeitungskreisen Verwunderung, daß Volckhausen seine Stellung bei der "Frankfurter Zeitung" aufgab, um die Leitung der politisch verwandten, aber doch weniger bedeutenden "Neuen Badischen Landes-Zeitung" in Mannheim zu übernehmen. Die Hintergründe kamen einige Jahre später ans Tageslicht und führten zu einem handfesten Presseskandal: Die "Frankfurter Zeitung" steckte im Sumpf der Korruption. Redakteure und Herausgeber hatten sich systematisch Beteiligungen an profitablen Kapitalanlagen verschafft, indem sie mit entsprechenden günstigen oder ungünstigen Besprechungen in den Spalten ihres einflußreichen Blattes Druck ausübten. Der einzige Ahnungslose scheint Volckhausen gewesen zu sein. Als er erkannte, daß auch der Herausgeber Leopold Sonnemann von den trüben Geschäften profitiert hatte, trat er in aller Stille zurück.
Ruchbar wurde die Sache erst durch den Journalisten Franz Mehring, dem Volckhausen drei Jahre später die belastenden Unterlagen übergeben hatte (Mehring war Volckhausen als Berliner Korrespondent der "Neuen Badischen Landes-Zeitung" empfohlen worden). Die Affäre warf ein bezeichnendes Licht auf den Zustand, in dem sich der Linksliberalismus inzwischen befand: Der Tanz ums goldene Kalb erfaßte und durchdrang in den Jahren nach der Reichsgründung alle bürgerlichen Schichten und Lebensbereiche. Der schäbigste Schacher korrespondierte mit dem seligen Himmel der Prinzipien. Hier der Alltag des Manchester-Liberalismus - dort das feiertägliche Bekenntnis zu den märzlichen Freiheitsidealen. - So muß es wohl auch Franz Mehring selber gesehen haben, denn als er im Zuge der "Lindau-Affäre" 1891 seinen Posten als Chefredakteur der "Berliner Volks-Zeitung" verlor, trat er der Sozialdemokratie bei. Mehring wurde einer der bedeutendsten Publizisten der SPD und der wichtigste Historiker ihrer Parteigeschichte. Mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht - dem Sohn Wilhelm Liebknechts - gehörte er zur Führung der Linken in der Partei und im Dezember 1918 zu den Gründern der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD).
Einige Angaben zu Erscheinungsweisen,
Auflagen, Redakteuren und Eigentumsverhältnissen bei der "Neuen Badischen
Landes-Zeitung" von 1856 bis 1917:
jeweils zum Jahresende | Ausgaben i.d. Woche | Redaktionsleitung | Auflage | Eigentümer |
1856 | 6 | Schneider | 1 600 | Schneider |
1865 | 6 | Schneider, Eichelsdörfer | 3 600 | Schneider |
1866 | 13 | Schneider, Eichelsdörfer | 6 200 | Schneider |
1868 | 12 | Schneider, Stern | Schneider | |
1871 | 12 | Stern, Eichelsdörfer | 8 500 | Mannh. Vereinsdruckerei AG (Beauval, Kahn, Feder, Bensheimer) |
1873 | 12 | Volckhausen, Eichelsdörfer | Mannh. Vereinsdruckerei AG (Beauval, Kahn, Feder, Bensheimer) | |
1876 | 13 | Eichelsdörfer | 8 500 | Mannh. Vereinsdruckerei AG (Beauval, Kahn, Feder, Bensheimer) |
1881 | 13 | Zahn | Mannh. Vereinsdruckerei AG (Sigmund, Albert und Julius Bensheimer) | |
1885 | 13 | Becker | Mannh. Vereinsdruckerei AG (Sigmund, Albert und Julius Bensheimer) | |
1890 | 13 | Gerard, Becker,Sacher-Masoch | Mannh. Vereinsdruckerei AG (Sigmund, Albert und Julius Bensheimer) | |
1899 | 13 | Gerard, Becker | Mannh. Vereinsdruckerei AG (Albert und Julius Bensheimer) | |
1907 | 13 | Scheel, Becker | Mannh. Vereinsdruckerei AG (Julius Bensheimer u. H. Gütermann) | |
1917 | 13 | Scheel, Becker, Haller | Mannh. Vereinsdruckerei AG (Heinrich Gütermann) |
Bei den Gemeindewahlen 1875 wurden der Verleger Bensheimer und der Redakteur Eichelsdörfer mit den Stimmen der Mannheimer Arbeiter in den Gemeinderat gewählt. Noch beherrschten die Demokraten unumschränkt das Rathaus, und Mannheim zählte neben Berlin und Frankfurt zu den einsamen Beispielen demokratisch geführter Stadtverwaltungen
Mitte der achtziger Jahre verloren die Demokraten dann das Landtagsmandat und die Mehrheit im Stadtrat an die Nationalliberalen. Um ihren alten Einfluß wiederzuerlangen, verbündeten sie sich mit den Sozialdemokraten, was in den Augen der herrschenden Kreise eine unerhörte Mesalliance darstellte. Der neue Redakteur Vinzenz Becker erhielt wegen eines Artikels zwei Monate Gefängnis, wobei das Gericht der "Neuen Badischen Landes-Zeitung" bescheinigte, daß sie "an der Grenze der Umsturzparteien stehe". Dem Verleger Sigmund Bensheimer wurde eine Wahlrede verboten.
Innerhalb der demokratischen Partei, als deren alleiniges Organ die "Neue Badische Landes-Zeitung" seit Einstellung von Eichelsdörfers "Mannheimer Abendzeitung'' fungierte, war es inzwischen zu erheblichen Divergenzen gekommen. Sie entstanden durch den Masseneintritt von ca. 70 "Freisinnigen", denen die Politik der Nationalliberalen nicht mehr in jeder Hinsicht behagte. Den nationalen Hintergrund bildete dabei die Auseinandersetzung um Bismarcks Schutzzollpolitik, in der sich eine Gruppe nationalliberaler Anhänger des Freihandels derart mit den Vertretern der Schwerindustrie und des Großagrariertums überwarf, daß sie sich 1880 als "Liberale Vereinigung" abspaltete. Der Familienkrach innerhalb der Nationalliberalen endete vorläufig damit, daß sich die Sezessionisten 1884 mit der Fortschrittspartei zur Deutschen Freisinnigen Partei vereinigten.
Mangels Masse gründeten die Sezessionisten bzw. Freisinnigen in Mannheim keine eigene Partei, sondern traten den Demokraten bei, die über diesen Zugang höchst geteilter Meinung waren. Die Mehrheit atmete jedenfalls erleichtert auf, als die freisinnigen Mitglieder im Oktober 1890 wieder austraten, um ihre eigene Marschrichtung zu verfolgen.
Mit den Freisinnigen scherte freilich auch die "Neue Badische Landes-Zeitung" aus den Reihen der Demokraten aus. Der Demokrat Becker mußte die Leitung der Politik abgeben und die Ressorts Handel und Lokales übernehmen. Den Sessel des Chefredakteurs besetzte der Freisinnige Dr. Gerard.
Die Kursänderung der "Neuen Badischen Landes-Zeitung" zeigte, daß der alte Linksliberalismus inzwischen sogar in Mannheim unfähig geworden, sich Gewicht und Stimme durch eine eigene Zeitung zu verschaffen.
Als sich die Deutsche Freisinnige Partei 1893 in die großkapitalistische "Freisinnige Vereinigung" und in Eugen Richters "Freisinnige Volkspartei" spaltete, schloß sich die "Neue Badische Landes-Zeitung" der letzteren Richtung an. Mit Eugen Richter zog sie gegen den "alldeutschen Kanonenpatriotismus" zu Felde und verspürte gar keine Bange vor dem "roten Gespenst". Zu solcher Furcht bestand in der Tat kein Anlaß, wenn man die Mannheimer Verhältnisse in Betracht zieht: 1896 löste hier eine Koalition von Linksliberalen und SPD die bisherige nationalliberale Mehrheit auf dem Rathaus ab. Als bei den Reichstagswahlen 1898 der nationalliberale Kandidat Bassermann die Mehrheit im ersten Anlauf nicht schaffte, rief die "Neue Badische Landes-Zeitung" in der Stichwahl zur Stimmabgabe für den sozialdemokratischen Kandidaten Dreesbach auf und verhalf ihm zum Sieg.
Noch waren die Demokraten und der Freisinn Richterscher Prägung - die in Baden sehr enge Beziehungen und bis 1897 sogar eine gemeinsame Landesorganisation unterhielten - nicht völlig domestiziert. Das zeigte sich unter anderem in den Beziehungen zur Polizei: Im Sommer 1892 wurde der "Neuen Badischen Landes-Zeitung" der Polizeibericht entzogen, weil sie die Schutzmaßnahmen des Bezirksamtes gegen eine Choleraepidemie als ungenügend kritisiert hatte. Noch 1900 unterschied ein Bericht des Mannheimer Bezirksamtes säuberlich zwischen den loyalen Blättern und den unsicheren Kantonisten freisinniger, sozialdemokratischer und ultramontanerTendenz, zu denen auf der einen Seite der "General-Anzeiger" und das "Mannheimer Tageblatt", auf der anderen die "Neue Badische Landes-Zeitung", die "Volksstimme" und das "Neue Mannheimer Volksblatt" gerechnet wurden. Wörtlich hieß es: "Gegen die Überlassung der schriftlichen Berichte an die freisinnige, sozialdemokratische und ultramontane Presse beständen diesseits keine Bedenken, da die Haltung dieser Blätter in letzter Zeit zu besonderen Beanstandungen keinen Anlaß gegeben hat und auf die etwaige Mitwirkung ihres großen Leserkreises bei Untersuchungen doch nicht verzichtet werden sollte."
Der unterschiedlich enge Kontakt zur Staatsgewalt kam auch darin zum Ausdruck, daß sowohl der "General-Anzeiger" wie das "Mannheimer Tageblatt", nicht aber die anderen Blätter, einzelnen Polizeibeamten ein Fixum von 150 bzw. 50 Mark als Mitarbeiterentgelt zahlten. Der Ausdruck Schmiergeld drängt sich auf, trifft aber insoweit nicht den Sachverhalt, als die Annahme dieser Gelder von seiten der loyalen Presse mit behördlicher Genehmigung erfolgte.
1910 vereinigte sich die Freisinnige Vereinigung mit der Freisinnigen Volkspartei Eugen Richters und der süddeutschen demokratischen Volkspartei zur "Fortschrittlichen Volkspartei". Schon vor dem Zusammenschluß verwendete die "Neue Badische Landes-Zeitung" die Bezeichnung "Fortschrittliche Volkspartei", um die bevorstehende Sammlungsbewegung zu propagieren. Seit 1907 fungierte Alfred Scheel als Chefredakteur der "Neuen Badischen Landes-Zeitung". Scheel kam von Friedrich Naumanns "Nationalsozialen", die sich 1903 der Freisinnigen Vereinigung angeschlossen hatten, aber intern noch über eigene Organe wie die von Theodor Heuss redigierte "Hilfe" oder die 1909 in Mannheim erscheinende "Südwestdeutsche Volkszeitung" verfügten.
Unter der Redaktion Scheels unterstützte die "Neue Badische Landes-Zeitung" die sogenannte Großblockpolitik: Während früher im badischen Landtag Demokraten, Zentrum und SPD gemeinsam Front gegen die Nationalliberalen gemacht hatten, verbündeten sich jetzt Demokraten und SPD mit den Nationalliberalen gegen das Zentrum. - Ein Vorgriff auf jene "Front von Bassermann bis Bebel", die Naumann für den Reichstag propagierte.
Während des ersten Weltkriegs vertrat die "Neue Badische Landes-Zeitung" die "Mitteleuropa"-Konzeption, in der vor allem die Großbanken und Großkonzerne der Elektro- und Chemieindustrie ihre Kriegsziele formuliert hatten. Wie Naumann, Rathenau oder der spätere Reichskanzler Prinz Max von Baden glaubte sie noch an einen Sieg, als die Niederlage schon feststand. Die Streiks des Jahres 1918 verdammte sie als "Siegessabotage". Als im Februar 1919 Spartakisten den Betrieb besetzten und den Abdruck eines Aufrufs verlangten wurde dies verweigert. Um so bereitwilliger stellte sie sich in den Dienst der neugegründeten "Deutschen Demokratischen Partei", in der sich die ehemalige Fortschrittliche Volkspartei unter Naumanns Führung mit einem kleineren Teil der ehemaligen Nationalliberalen zusammenfand.
Die alten Räume in 0 3, 6 waren bald wieder zu klein geworden. 1884 wurde die erste Rotationsmaschine aufgestellt, die den Zeitungsdruck in einem Bruchteil der Zeit erledigte, welche die Schnellpressen dazu benötigten. 1899 hielten die ersten Setzmaschinen ihren Einzug. Ab 1. Oktober dieses Jahres erschien die NBLZ sogar dreimal täglich: Um neun Uhr ein Morgenblatt, um elf ein Mittagsblatt und abends um sieben noch ein Abendblatt. Schon nach einem Jahr kehrte man jedoch wieder zu zwei Ausgaben täglich zurück. Außerdem erschien als 13. Wochenausgabe ein Sonntagsblatt. (Die meisten dieser Angaben basieren auf der Jubiläumsschrift von 1930; da die Zeitung selbst nur bis ins Jahr 1871 komplett erhalten ist, lassen sich über die genaue Dauer des Erscheinens einer 13. Ausgabe wie auch über die Zusammenfassung der beiden täglichen Ausgaben für Mannheim in einer dritten Landesausgabe keine genauere Angaben treffen.)
Der Umfang der Zeitung - 1866 sechs Seiten - betrug zu Anfang des Jahrhunderts täglich 14 Seiten, wovon sechs auf das Morgenblatt und acht auf das Mittagsblatt entfielen. An die typographische Aufmachung wurde über fünfzig Jahre lang keine sonderliche Mühe verschwendet; die Artikel bekamen eine schmucklose Überschrift und wurden, nur nach Ressorts und Rubriken unterschieden, fortlaufend untereinander in das Blatt gestellt. Größere Überschriften blieben besonderen Anlässen vorbehalten. Die erste ganzseitige Überschrift erschien im März 1871 und verkündete die Kandidatur Heinrich von Feders. Erst ab 1909 erhielt die Schlagzeile ihren regelmäßigen Platz auf der Titelseite.
1913 bezog die "Neue Badische Landes-Zeitung" ein neues Verlagsgebäude am Kaiserring 4-6. Die Nähe zum Bahnhof konnte als symbolisch gelten, denn etwa die Hälfte der Auflage ging nach auswärts. Sie war damit die einzige große Tageszeitung, die ihren Sitz außerhalb jenes Zeitungsviertels hatte, das in der Innenstadt in den Quadraten R 1, R 3, S 2,und H 2 die übrigen Tageszeitungen vereinte.
Wie schon erwähnt, war die "Neue Badische Landes-Zeitung" 1870 aus den Händen ihres Gründers Johann Schneider in den Besitz der Mannheimer Vereinsdruckerei AG übergegangen, hinter der eine Gruppe von Aktionären aus der demokratischen Partei stand. "Der Rückschlag der Gründerzeit und interne Vorkommnisse" - so heißt es in einer firmenoffiziellen Selbstdarstellung aus dem Jahre 1907 - veranlaßten die Aktionäre, die Aktiengesellschaft der Firma Jakob Bensheimer zu übertragen. Nach einiger Zeit der Verwaltung ging sie Anfang der achtziger Jahre in deren alleinigen Besitz über. Inhaber der 1839 gegründeten Firma Jakob Bensheimer (die 1840 für kurze Zeit den Deutschen Postillon" verlegte) waren die Gebrüder Sigmund, Albert und Julius Bensheimer. Das Unternehmen besaß einen beachtlichen Buchverlag, besonders auf juristischem Gebiet, der nach der nationalsozialistischen Machtergreifung zur willkommenen Beute etlicher Konkurrenzverlage wurde. Als der letzte der Brüder 1917 starb, erbte ein Neffe Albert Bensheimers, Heinrich Gütermann, den gesamten Betrieb.
Heinrich Gütermann war freilich nicht unumschränkter Gebieter im eigenen Haus. Es galt als offenes Geheimnis, daß die Zeitung finanziell vom Besitzer der Walzmühle und Eichbaum-Brauerei, Jakob Feitel, abhängig war, dem Schwiegervater Gütermanns. Als sich Mitte der zwanziger Jahre die wirtschaftlichen Schwierigkeiten für Zeitungsbetriebe häuften, kam es zu einer engen Kooperation mit dem Zeitungskonzern Ullstein, die wahrscheinlich auf kapitalmäßigen Verflechtungen beruhte. Den politischen Teil übernahm die "Neue Badische Landes-Zeitung" fortan fast völlig von der "Vossischen Zeitung". Allein für die telefonische Übermittlung der Texte aus Berlin waren vier Stenotypistinnen tätig. Der eigene politische Beitrag der Zeitung beschränkte sich auf das Land Baden.
Wie die jüdischen Ullstein-Besitzer schien auch Gütermann zu glauben, sich mit etwas Anpassungsvermögen über die braune Zeit retten zu können, die Anfang der dreißiger Jahre schon deutlich ihre Schatten vorauswarf. Die schillernde Rolle eines Georg Bernhard und Hans Zehrer bei der "Vossischen" spielten Alfred Rapp und Paul Riedel bei der "Neuen Badischen Landes-Zeitung" im kleinen. Als das linksliberale Redaktionsmitglied Franz Gustav Richter 1929 als Herausgeber eines von der kommunistischen Peuvag gedruckten Blattes, des "Zeitspiegel" auftrat, warf ihm Gütermann vor, ihm ein "Kuckucksei" ins Nest gelegt zu haben. Richter wurde vor die Wahl gestellt, entweder seine Redakteursstelle zu verlieren oder vom "Zeitspiegel" zurückzutreten.
Paul Riedel, der verantwortliche Redakteur für den Handelsteil, trat später in die Redaktion des nationalsozialistischen Gauorgans "Hakenkreuzbanner" ein. Alfred Rapp, der für Landespolitik zuständig war, machte sich den Nationalsozialisten als Redakteur des Besatzungsblattes "Pariser Zeitung" nützlich, bevor er nach dem Krieg bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" eine angemessene Weiterbeschäftigung fand. Rapp leitete zuletzt das Bonner Büro der FAZ und seine braune Vergangenheit war auch kein Hindernis, ihm das Große Bundesverdienstkreuz zu verleihen.
Für das "Handbuch der deutschen Presse 1932"
stellte die "Neue Badische Landes-Zeitung" folgende Angaben zur Verfügung:
Druckauflage | 30 000 |
Erscheinungsweise | 13mal wöchentlich |
Umfang pro Nummer | 10 Seiten (davon 5 1/2 Seiten redaktionell) |
Parteipolitische Richtung | demokratisch |
Verbreitungsgebiet | Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg, Baden, Pfalz und Teile Württembergs |
Leserschaft | 64% Angestellte, Arbeiter, Landwirte, 22% Gewerbe, Kaufleute, Handwerker, 6% Gastwirte, 8% sonstige |
Hauptschriftleiter | Dr. Karl Eugen Müller |
Chef vom Dienst | Dr. Egon Kohn |
Politik | Dr. Heinrich Rumpf, Carl Ems |
Handel | Paul Riedel, Dr. Alfred Einstein |
Feuilleton | Emil Belzner |
Lokales | Hermann Wasna, Adolf Himmele |
Sport | Heinrich Tillenburg |
Von den übrigen Redakteuren der "Neuen Badischen Landes-Zeitung", die bisher nicht erwähnt wurden, wären noch die Gebrüder Schnack und Alfred Kantorowicz zu nennen. Anton und Friedrich Schnack leiteten nacheinander die Feuilleton-Redaktion, ehe sie diese 1926 an Alfred Kantorowicz abgaben, auf den ein Jahr später Emil Belzner folgte. Alfred Kantorowicz kam aus Berlin nach Mannheim und galt als "Ullstein-Mann". Er schloß sich 1931 der KPD an, kämpfte in Spanien in der Internationalen Brigade und lehrte nach dem Krieg als Literaturwissenschaftler in der DDR, bevor er durch den offenen Bruch mit dem SED-Regime und seinen Übertritt in den Westen von sich reden machte.
Im Oktober 1930 feierte die "Neue Badische Landes-Zeitung" ihr 75jähriges Bestehen (genauer gesagt ihres Erscheinens im 75. Jahrgang). Die Jubiläumsausgabe, in der die "Verwandten" von der Vossischen Zeitung, dem Berliner Tageblatt und der Frankfurter Zeitung ihre Glückwünsche entboten, umfaßte genau hundert Seiten. Auf den gleichen Seiten stand die Behauptung: "Der Geist der Neuen Badischen Landes-Zeitung ist 1930 nicht anders als er 1860 gewesen ist."
Immerhin brachte die "Neue Badische Landes-Zeitung" noch im September 1931 das Kunststück fertig, auf einige Tage verboten zu werden. Kunststück deshalb, weil sie ein im Grunde loyales Blatt und der Anlaß geradezu lächerlich war: Sie hatte in einem Bericht über eine Rede des badischen Finanzministers, der neue Gehaltskürzungen ankündigte, eine im Manuskript gestrichene Stelle dennoch dem Publikum zur Kenntnis gegeben. Darauf verbot die Landesregierung die Zeitung auf drei Tage. Noch am selben Tag protestierte die demokratische Landtagsfraktion gegen diese "unerhörte Knebelung der Pressefreiheit". Aus Berlin telegraphierte Reichsminister Wirth an den badischen Staatsspräsidenten: "Empfehle dringend Aufhebung des Zeitungsverbots." Das Verbot wurde dann auch wieder aufgehoben und der Friede wieder hergestellt, indem Verleger Gütermann und Chefredakteur Rumpf in einem Brief an die Landesregierung um Entschuldigung für den Fauxpas baten.
Die Einstellung der Zeitung am 28. Februar 1934 hing offensichtlich mit der gleichzeitigen Einstellung der "Vossischen Zeitung" zusammen: Beide Blätter waren inzwischen von den Nationalsozialisten "gleichgeschaltet worden. Insofern ist das endgültige Ende der Zeitung nicht mit den Zeitungsverboten zu vergleichen, welche die Nationalsozialisten unmittelbar nach der Machtergreifung verhängten. Vielmehr gaben wirtschaftliche Überlegungen den Ausschlag: "Ihre Resonanz in den intellektuellen 5chichten, die sie zuletzt allein noch trugen, reichte nicht aus, das immer gewaltiger anschwellende wirtschaftliche Risiko des Unternehmens zu vermindern", schrieb etwa die NS-Zeitschrift "Deutsche Presse" zum Ende der "Tante Voß" - Worte, die sich genauso auf die Nichte der Tante Voß in Mannheim übertragen lassen. Die "Frankfurter Zeitung" konnte dagegen mit dem Segen von Goebbels Propagandaministerium bis zum August 1943 erscheinen.
Eine Rolle bei der Einstellung spielte wohl auch, daß der braune Mob Köpfe rollen sehen wollte: Die "Neue Badische Landes-Zeitung" konnte wie die "Vossische" als Muster eines "verjudeten" liberalen Blatts herhalten. "Jud bleibt Jud" pflegte der neue Nazi-Oberbürgermeister Mannheims, der Fabrikant Renninger, mit Blick auf Heinrich Gütermann zu sagen. Nach Erlaß der ersten Durchführungsverordnung zum Reichskulturkammergesetz vom 1. November 1933 konnte sich Gütermann an fünf Fingern abzählen, wie lange er noch Verleger sein würde. Geschäftliche Pressionen kamen hinzu. Gütermann emigrierte nach der Einstellung der Zeitung nach Südamerika, wo er 1962 im Alter von über achtzig Jahren als Buchhändler in Montevideo starb.
Dem ehemaligen Blatt der Demokratie, das in den 78 Jahren seines Bestehens so manche Metamorphose des Liberalismus mitgemacht hatte, blieb dadurch immerhin das letzte traurige Los erspart, das die gleichaltrige "Frankfurter Zeitung" erwartete: Den braunen Machthabern als intellektuelles Aushängeschild und Feigenblatt zu dienen.